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Johanna Constantini. „Danke, Alexa!“ – Braucht der Einzelsportler das analoge Miteinander denn noch?

„Danke!“, dieses Wort erreicht die Lautsprecherboxen der berühmtesten virtuellen Assistentin Amazon Alexa am häufigsten. Wie kann das sein? Wer bedankt sich denn schon bei einem Roboter? Kann dieser denn ein „Danke“ adäquat einordnen und fühlt er sich dadurch tatsächlich bestätigt? Fragen, die wir uns im Zeitalter der digitalen Moderne ständig stellen. 

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Johanna Constantini Beitrag zum Hören

Auch im Sport sollten wir uns mit den Fragen zur Anwendung der digitalen Medien häufiger beschäftigen. So bringen sie uns zahlreiche Vorteile, machen jedoch auch vor Risiken nicht Halt. So trainieren wir mit allerhand digitaler Hilfsmittel: Von Geo-Tracking, über Videoanalyse bis hin zur durchgängigen Messung von Puls, Atem- und Herzfrequenz. In beinahe jeder Lebens- und Trainingssituation sind wir dank digitaler Gadgets unabhängig von zwischenmenschlichen Bewertungen, analogen Rücksprachen und Diskussionen. Und auch der Vergleich mit KonkurrentInnen erfolgt meist virtuell. Der Trend zur Singularisierung nimmt daher nicht nur in Paarbeziehungen, sondern auch im Sport stetig zu. Und immer mehr stellt sich die Frage: Brauchen wir unsere TeamkollegInnen denn noch?

Zum Thema: Was moderne Sportpsychologen von Sozialen Medien wissen sollten

Was früher der analoge Austausch war, setzt sich heute über Social Media Kanäle wie Facebook und Instagram fort. Studien aus den USA belegen, dass die Zeit vor Bildschirmmedien von Acht- bis Zwölfjährigen heute bei rund sechs Stunden täglich liegt. Großteils verbracht mit Chatten und der virtuellen Kommunikation. Bei ihren erwachsenen Mitmenschen kann mit rund neun Stunden täglicher Bildschirmzeit nicht unbedingt von Vorbildwirkung die Rede sein. Viel Zeit für analogen Austausch bleibt also nicht. Und obwohl der Sport dazu noch am meisten Gelegenheit bietet, so verziehen sich die sogenannten „Smombies“ (Smartphone-Zombies) von heute gerne auch während ihrer Trainingseinheiten hinter das Smartphone-Display. 

Schade, ist der analoge Austausch doch auch für AthletInnen besonders wichtig! Schließlich bilden die vielen zwischenmenschlichen Begegnungen unseres Lebens so etwas wie den „Schmierstoff für unsere Gesellschaft“ (Spitzer, 2018). Vertrauen in die Welt, in der wir leben, schürt sich nämlich vor allem durch Zwischenmenschlichkeit. Und nirgendwo sonst bieten sich mehr Gelegenheiten dafür, als im Sport. Nationen kommen zusammen, AthletInnen bereisen fremde Länder, lernen neue Kulturen kennen. Könnte etwas an dieser Lebenszeit verlorener sein, als sie ständig vor dem eigenen Bildschirm zu verbringen? Vertrauen bestärkt uns in der Welt, verstärkt die gefühlte Sicherheit, bedingt, dass wir unsere Komfortzone verlassen. Wo denn sonst, wenn nicht im Sport?

Johanna Constantini, die-sportpsychologen.at

Johanna Constantini

Sportarten: Pferdesport, Laufsport, Wintersport, u.a.

Kontakt: j.constantini@die-sportpsychologen.at

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zur Profilseite: https://www.die-sportpsychologen.de/johannaconstantini/

Miteinander im Sport: Geteilte Freude ist doppelte Freude!

Empathie – eine Fähigkeit, die uns Menschen so einzigartig macht, setzt sich aus einer kognitiven und einer emotionalen Komponente zusammen und ist ebenfalls von großer Bedeutung im Sport. Einerseits schaffen wir es, durch die Übernahme der Perspektive unseres Gegenübers, neue Seiten an uns selbst zu entdecken und unseren Horizont zu erweitern. Und andererseits gelingt durch Mitgefühl die Verstärkung des eigenen Wohlbefindens. Im Fachjargon übrigens „Altruismus“ genannt. Und noch besser – Empathie kommt zurück. Empathie wird nämlich größer, wenn man sie teilt. 

Um die anfängliche Frage nun zu beantworten: Ja! Auch der Einzelsportler – ganz abgesehen von dem Mannschaftssportler – braucht das analoge Miteinander unbedingt! Denn ganz abgesehen von der Stärkung des Vertrauens in die Welt und der Steigerung des eigenen Wohlbefindens durch Empathie (die menschlich und sportlich von großer Bedeutung sind) erfüllen zahlreiche SportlerInnen eine immense Vorbildfunktion. Nicht zuletzt deshalb sollten AthletInnen eine Lebensart vorleben, die von einem gesunden und vor allem analogen Miteinander geprägt ist!

Mehr Interesse am Thema? Johanna Constantini hat bereits zahlreiche Texte verfasst – hier eine kleine Übersicht:

Literatur:

Spitzer, M. 2018. Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft. J.G. Cotta´sche Buchhandlung: Stuttgart

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Prof. Dr. Oliver Stoll: Die Sache mit deinem „DNF“

„DNF“ steht für „Did not finish“, was so viel heißt wie „Ausgestiegen“ oder eben „Nicht im Ziel angekommen“. Dieses Kürzel, gut bekannt in der Ausdauersportszene und so gefürchtet wie das bekannte Weihwasser für den Teufel und sehr viel schmerzhafter als verlorene Fußnägel oder brennende Oberschenkelmuskeln, das z.B. beim Traillaufen zwar nicht schön ist, aber irgendwie dazu gehört. So ist mir am ersten Septemberwochenende beim Südthüringentrail ergangen. Eigentlich sollten es 47,5 Kilometer und 1950 positive Höhenmeter werden.  Geworden sind es dann aber nur 16,5 Kilometer und knapp 1000 Höhenmeter. Warum? Weil es mir nicht gut ging! Jetzt sagen Sie bestimmt: „Na das ist doch logisch! Niemanden kann es nach dieser Tortur gut gehen, also warum jammerst du da jetzt rum – selbst gewähltes Elend“! Tja, so einfach ist das nicht, denn erstens bereitet man sich ja auf so eine Veranstaltung systematisch vor und hat im Vorfeld ja auch viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, wie realistisch das Erreichen eines solchen Ziels und zweitens hat man ja auch im Trainingsprozess schon einiges an Erfahrungen mit Distanzen und Höhenmetern und den damit verbundenen Gedanken und Emotionen gesammelt. Und das bewegte mich eben auch dazu, diesen Beitrag zu schreiben. Also kommen wir zum Thema: Was hat es denn nun psychologisch betrachtet so auf sich mit dem berühmt-berücksichtigen „DNF“?

Zum Thema: DNF aus psychologischer Perspektive

Ein Ziel nicht zu erreichen, ist für den Ausdauerathleten genau so wichtig wie ein verlorenes Spiel für einen Fußballspieler. Wenn man damit nämlich funktional umgeht, hilft es einem jeden Athleten „zu wachsen“.  Und natürlich hat es mit den drei großen Konstrukten zu tun, mit denen sich Psychologen gerne beschäftigen: Kognition – Emotion – Motivation sowie den sozialen Prozessen. Schauen wir uns das doch einmal an meinem gerade erlebten Beispiel an: 

Ein Bild, das Schild, Person, Text, haltend enthält.

Automatisch generierte Beschreibung
Oliver Stoll am Tag vor dem Riesentrail

Geplant war also ein Finish des Riesentrails im Rahmen des Südthüringentrail (47,5km und 1950 positive Höhenmeter). Natürlich habe ich mich darauf vorbereitet und natürlich habe ich auch ein „Lauftagebuch“ (mittlerweile digital mit RUNALYZE und Garmin Connect). Hier kann ich alle relevanten und wichtigen Trainingsparameter (Distanzen, Höhenmeter, Herzfrequenz, VO2-max) speichern und auswerten – und wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, auch Schlussfolgerungen für sein Training ziehen. Mir ging es bis zum Donnerstag vor dem Rennen super. Dann hatte ich ein leichtes Kratzen im Hals, das aber am nächsten Tag schon wieder weg war – also habe ich darüber nicht weiter Gedanken gemacht. Wir reisten am Freitag an. Die Stimmung war super. Ich war zwar fokussiert, aber gelassen. Abends dann die Nudelparty, dann zum Hotel und schlafen. Der Start war um sieben Uhr früh. Insgesamt fühlte sich das alles im Rahmen des „Erwarteten“ an. Die ersten acht Kilometer bis zum 1. Verpflegungsstand liefen gut. Dann ging es weiter in Richtung Verpflegungsstand 2 (VP2) bei Kilometer 16,5. Hier kamen zwar reichlich Höhenmeter dazu, aber meine Herzfrequenz fing an, total verrückt zu spielen. Selbst auf den relativ flachen Stücken und auch im Downhill bewegte sich meine Herzfrequenz nur noch selten unter 180. Meine Geschwindigkeit sank auf über elf Minuten pro Kilometer. Kurz vor VP2 fing ich an zu zittern, den letzten Downhill lief ich unsicher und am VP angekommen kam dann der Schüttelfrost und ein leichtes Schwindelgefühl. Dem Mann von der Bergwacht fiel das sofort auf und wir kamen ins Gespräch über meinen Zustand. Nach etwa drei Minuten dort, musste ich eine Entscheidung treffen. Mit noch 31 Kilometern und weiteren 1000 Höhenmetern fiel die dann zugunsten des DNF aus. Ich setze mich also hin, schlug die Rettungsdecke um mich, trank viel und wartete bis dann der nette Herr von der Bergwacht mich zurück in den Zielbereich fahren konnte. 

Die sportpsychologische Perspektive

Schauen wir uns dies nun mal aus sportpsychologischer Perspektive an. Im Vorfeld dominierten motivations- und kognitionspsychologische Aspekte. Trainingsdaten wurden protokolliert und ausgewertet (Kognition) und dies führte zu Motivation (Das Leistungsmotiv war ausgeprägt und der Anreiz, also das Finish beim Riesentrail war realistisch, überschaubar und herausfordernd) und passte zum vorliegenden Leistungsmotiv. Daraus erfolgte eine Wettkampfplanung (Überführung einer Zielintention in eine Ausführungsintention, was schon zum Volitions- also Willensprozess gehört). Es kam zur Handlung (also dem Wettkampf). Hier dominierten weiterhin kognitions- und motivationspsychologische Prozesse. Während des Laufes wurde die Aufmerksamkeit reguliert, die biologischen Parameter überprüft und mit Selbstgesprächen die Motivation und Volition stimuliert bis hin zum „DNF“.

Prof. Dr. Oliver Stoll

Sportarten: Eishockey, Handball, Ultralang- und Langstreckenlauf, Triathlon, Biathlon, Wasserspringen, Boxen, Leichtathletik, Schwimmen, Floorball

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Zunächst musste diese Entscheidung getroffen werden (was wirklich schwer war) und dann, spätestens im Zielbereich musste ich beginnen, „damit umzugehen“.  Das hat natürlich mit emotionsregulatorischen Prozessen zu tun. Die Enttäuschung eines DNF sitzt bei einem Läufer immer tief. Man beginnt zu Grübeln, und das führt nicht immer zu selbstwertdienlichen Selbstgesprächen und man beginnt sich „zurückzuziehen“. Dabei wäre das Gegenteil sinnvoll, denn wir wissen um die stressreduzierenden Effekte von sozialer Unterstützung (Fuchs & Klaperski, 2012). Also warten psychologisch betrachtet zwei Aufgaben: 

1.) Kausalattribution, oder übersetzt „Ursachenzuschreibung“ (Weiner, 1988). Hierbei ist es wichtig, das „Versagen“ nicht fehlender, stabiler Fähigkeiten zuzuschreiben, sondern eben situativen Faktoren, wie z.B. der Tagesform oder z.B. der ausnahmsweise, zu schweren Strecke dieses Wettkampfes. Alles andere würde den Selbstwert untergraben und zu weiterem Motivationsverlust führen. Wichtig hierbei: Immer schön realistisch bleiben und sich nicht selbst belügen! 

2.) Die Suche nach wichtigen Menschen aus deinem persönlichen Umfeld, die dir zum einen Trost spenden können (emotionale, soziale Unterstützung) sowie mit guten Ratschlägen und Tipps einen kommenden Lauf mit vorbereiten können (instrumentelle, soziale Unterstützung). Das führt zu wieder zunehmender, subjektiver Kontrolle der Situation und das wiederum mindert Stress. Genau das habe ich dann im Ziel gemacht. 

Persönliche Perspektive

Ich habe mir meine Bio- sowie Trackingdaten genau angeschaut. Das Ergebnis: Viel zu hoher Belastungspuls und schlechte Erholungswerte bei vergleichbarer leichter Anforderung, massiver Tempoverlust zwischen Kilometer acht und 16. Diese Daten gekoppelt mit meiner eigenen,  subjektiven Wahrnehmung (Schwindel und Schüttelfrost) zeigen eindeutig, dass dies nicht mein Tag war – sondern vermutlich der Infekt immer noch in mir steckte. Und außerdem suchte ich die Gegenwart meiner vielen lieben Lauffreunde dort, die wirklich beeindruckende Leistung zeigten. Vor allen Dingen erfreute ich mich an der Leistung meiner Frau, ohne dass ich gleich den „sozialen Leistungsvergleich suchte“. Ich wartete im Ziel, feuerte alle an und half das zwischenzeitlich zusammenfallende Finisher-Tor hochzuhalten, weil kurz der Strom ausfiel. Das lässt sich im Sinne einer Stressbewältigungsstrategie „Ablenkung“ sehr gut umsetzen und mindert ebenfalls Stress. Man kann damit alle anderen sehr glücklich machen und sich selbst ebenfalls wieder ein besseres Gefühl geben. 

Ein DNF muss keine Katastrophe sein. Im Gegenteil – wenn man damit vernünftig umgeht, kann man viel aus diesem Misserfolg lernen. Hinter dem bekannten Motto: „Aufstehen, Mund abwischen und weitermachen“ verstecken sich eigentlich komplexere Prozesse der Informationsverarbeitung, Handlungskontrolle, Motivations- und Emotionsregulation, die jedoch nur auf den ersten Blick komplex aussehen, aber eigentlich vielen von uns mehr als nur bekannt sind. Nur sind sie uns nicht ständig bewusst.  

Und bitte nehmen Sie das unten gezeigte Foto ernst!

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Wenn Sie an einem auf dem Boden kriechenden oder liegenden Trail-Läufer vorbei kommen, bitte drücken Sie die Pause-Taste seine Garmin. Die Daten, die dann gespeichert werden sind wichtige Informationen, die man für eine funktionale Kausalattribution benötigt.

Ach so, und was macht man am Tag danach? Auch wenn ich heute einen „dicken Hals“ habe (nicht im übertragene Sinn, sondern in Wirklichkeit), auf alle Fälle Reserven wieder auffüllen, lange Schlafen, viel Essen und Trinken, ein bisschen Kuscheln und ganz wichtig: Nach der Analyse des Vortages, einen dicken und fetten, grünen Haken an den Wettkampf machen. Dann wird es beim nächsten Lauf ganz sicher wieder besser! Und der ist in schon in drei Wochen…

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2019/05/29/dr-hanspeter-gubelmann-productive-failure-wie-eine-bittere-niederlage-zum-sieg-fuehren-kann/
https://www.die-sportpsychologen.de/2017/01/05/prof-dr-oliver-stoll-wenn-heisse-gedanken-fehlen/
https://www.die-sportpsychologen.de/2019/04/11/johanna-constantini-likes-und-die-positive-psychologie/

Literatur

Fuchs, R. & Klaperski, S (2012). Körperliche Aktivität und Stressregulation. In R. Fuchs & W. Schlicht (Hrsg.), Seelische Gesundheit und körperliche Aktivität. Göttingen, Hogrefe.

Weiner, B. (1988). Attribution theory and attributional therapy: Some theoretical observations and suggestions. British Journal of Clinical Psychology, 27, 99-104.

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Dr. Hanspeter Gubelmann: Der Seele Zeit geben, bis sie nachkommen kann…

Was braucht es im Spitzensport, um langfristig erfolgreich sein zu können? «Mental toughness» lautet aus Sicht der angewandten Sportpsychologie die präferierte Antwort. Tatsächlich unternehmen wir im Rahmen des Trainings mentaler Fähigkeiten und Fertigkeiten viel, um jene Wettkampfqualitäten entwickeln zu helfen, die im entscheidenden Moment die Bestleistung ermöglichen. Wer aber ausschliesslich in diese Richtung verfährt, läuft Gefahr, eine zweite matchentscheidende Komponente zu vernachlässigen – die mentale Gesundheit von Athlet*innen und Betreuer*innen!

Zum Thema: Mentale Gesundheit im Sport

Szenenwechsel: Vom 10. bis 16. August 2019 nahm ich an der Mehretappen-Tour „Cycle Greater Yellowstone“ teil. Dies nach 2015 und 2018 schon zum dritten Mal. Es handelt sich dabei um eine veritable sportliche Herausforderung, galt es doch an fünf Tagen insgesamt 8000 Höhenmeter und einige Hundert Meilen zu bewältigen. Nebst physischer Fitness geht es mir insbesondere um meine persönliche mentale Robustheit, auch im Sinne von: Do we practice what we preach! Nach vollbrachter Leistung auf dem Rad verabschiedete ich mich – gleich wie in den Vorjahren – in die nordamerikanische Wildnis – nach Stanley, Idaho. Stanley? Where the f… is Stanley? Was ich dort suche? Abgeschiedenheit, Ruhe und ein bisschen Langeweile! In der Woche nach meiner Yellowstone-Challenge wollte ich für mich Antworten auf folgende Fragen erhalten: Kann ich gut mit mir – mich selbst aushalten? Und: Gebe ich mir in meinem Leben Zeit genug, damit meine Seele nachkommen kann?

Die sieben Tage in Stanley verbrachte ich mehrheitlich mit Wandern und Fischen. Meist begab ich mich an entlegenste Orte, um in aller Ruhe und fernab jeglicher Zivilisation meine Seele sprichwörtlich „baumeln zu lassen“. So verbrachte ich täglich viele Stunden in atemberaubend schöner Landschaft, ich spürte die Kraft der Natur (Sonne, Wind, Regen, spektakuläre Bergansichten usw.) und frönte einer meiner grösseren Leidenschaften – dem Fischen! Fortan gab es mindestens einmal pro Tag eine köstliche Fischmahlzeit, in Verbindung mit einem weiteren Hobby – dem Kochen. Gedanken zu mir und zu dem, was mich in meinem Leben bewegt, kamen und gingen; manchmal mit kleinen Antworten im Gepäck. Gegen Ende meiner Stanley-Woche tauchten vermehrt Gefühle der Langeweile auf. Es war aber keine „plagende“ sondern vielmehr eine „kreativ-aktivierende“ Langeweile, die mich mit ein paar pfiffigen Ideen zu meinen Freunden nach Park City, Utah zurückkehren liess. Dort angekommen, erhielt ich von einer geschätzten Kollegin einen aktuellen Artikel zugeschickt, der die Verbreitung von psychischen Störungen im Spitzensport zum Thema machte und auf die Hintergründe einging.

„Wir“ kümmern uns nicht um die mentale Gesundheit unserer Sportler*innen!

Was ich im Tagesanzeiger-Interview mit Sportpsychiater Malte Claussen zu lesen bekam, machte mich betroffen, stellenweise sogar wütend! Ich las: „Die seelische Gesundheit wird im Sport wenig thematisiert. Dabei ist sie zentral. (…) Viele der anderen Spezialisten (u.a. Sportpsycholog*innen und Mentaltrainer*innen, Anmerk hpg) sagen: Wer mental stark ist, ist seelisch gesund. (…) Ich hinterfrage, ob in einem Setting ohne Sportpsychiater eine seelische Erkrankung der Sportler adäquat behandelt werden kann. (…) Um etwas verhindern zu können, muss ich wissen, was ich verhindern will. Darum ist ein Sportpsychiater so wichtig.“

Hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung der psychischen Gesundheit gebe ich Claussen Recht. Küttel & Larsen (2019) bezeichnen in ihrem kürzlich veröffentlichten Übersichtsartikel «mental health» „… as a resource for a successful and sustainable sports career. We advocate that future studies include the whole spectrum of the mental health continuum (i.e. from languishing to flourishing; Keyes, 2002) with an increased focus on the role of the (sport) environment and the athlete-environment fit.“ 

Abb. 1: Zum Zusammenspiel von Mentaler Stärke und Mentaler Gesundheit (in Anlehnung an Keyes, 2002)

Bedeutung der psychischen Gesundheit in der Praxis der angewandten Sportpsychologie

In der Praxis der angewandten Sportpsychologie gilt die Bedeutung der psychischen Gesundheit als unbestritten. Im Gegensatz zu Claussens Deutung wird die notwendige Koinzidenz von psychischer (seelischer) Gesundheit (gemessen an der Symptomstärke psychischer Störungen) und mentaler Stärke (mental toughness) schon seit vielen Jahren thematisiert (vgl. Abbildung 1). 

Der Athlet blüht dann auf (flourishing), wenn psychische Gesundheit und mentale Stärke gleichermassen hoch und positiv ausgeprägt sind. In dieser optimalen Konstellation wächst und entfaltet sich die Sportler-Persönlichkeit: er/sie entwickelt hohe Selbstkompetenzen, sein/ihr Wohlbefinden ist positiv-stabil und es zeigen sich keine Krankheitssymptome. Die angewandte Sportpsychologie geht davon aus, dass ein Sportler/eine Sportlerin auf dieser Grundlage besonders befähigt sei, sein/ihr sportliches Potential langfristig auszuschöpfen, auch um ein persönliches Leistungsoptimum zu erreichen.

Haltlos, wie wenn man fällt

Was passieren kann, wenn der Spitzensportler psychisch erkrankt (z.B. Erschöpfungsdepression), der Athlet aber weiterhin auf seine ihm eigene mentale Stärke baut und sich durch weitere Wettkampfeinsätze überfordert, lässt sich anhand der Aussagen von Langläufer Jonas Baumann (Link zum Schweizer Illustrierte-Interview) sehr gut nachvollziehen. Seine psychische Erkrankung raubte ihm die Basis, unter Einsatz seiner mentaler Fähigkeiten rang er weiterhin um sportlichen Erfolg (struggling). Er machte weiter, bis er keinen Halt in seinem Leben vollends verlor (floundering). Langläufer Baumann formulierte es damals so: „Wenn ich mal abschalten wollte, konnte ich nicht. Ich war rastlos, meine Gedanken kreisten, ich konnte schlecht schlafen, war permanent unter Stress.“

Die von Claussen geäusserten, inhaltlich nicht haltbaren und geradezu selbstgefälligen Vorstellungen, möchte ich zum Anlass nehmen, um an vier einfachen Beispielen zu beschreiben, wie ein Sportpsychologe – auch am eigenen Beispiel – dazu beitragen kann, die seelische Gesundheit massiv zu unterstützen. Sowohl Athleten wie Trainer/Betreuer können gleichermassen ihren eigenen Nutzen daraus ziehen! 

Retreat – sich zurückziehen hilft!

Sich zurückziehen (to retreat) bedeutet, sich aus dem alltäglichen Strom der Tätigkeiten auszuklinken, sich an einen Ort zu begeben, wo Ruhe, Gelassenheit und Wohlbefinden fernab vom Alltagsstress entstehen kann. Es handelt sich um eine aktive, selbstverantwortliche Massnahme mit dem Ziel, sich und der eigenen Seele Zeit zu schenken. Bekannt ist auch der „Jour de desert“ (retraite), der an einen „stillen Ort“ (ohne Kommunikation gegen aussen) führen will mit dem Ziel einer kontemplativen Selbstreflexion. 

Wenn ich als Fischer meinen Zapfen auf dem glatten See treiben sehe, umrahmt von Bergriesen, die sich an der Wasseroberfläche spiegeln, verwischen sich manchmal Aussen- und Innenwelt! 

Dr. Hanspeter Gubelmanns „safe place“

Auf der Suche nach dem eigenen Refugium

Als Refugium (oft auch als „safe place“ bezeichnet) wird ein Ort in der Vorstellung eines Individuums bezeichnet, der durch eine geführte Anleitung geschaffen oder aus eigenem Antrieb heraus entwickelt wird. Es kann sich dabei sowohl um die mentale Repräsentation einer real existierenden Umgebung oder um eine völlig fiktive Örtlichkeit („Fantasiereise“) handeln. An diesen Ort kann sich der Übende immer wieder zurückziehen um innere Kraft, Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Beispiele dafür sind ein einsamer Strand, eine Auenlandschaft, ein schützender Wald, u.a.m. Positive Emotionen, selbstwirksame Kognitionen und die autogen wirksam werdende körperliche Entspannung wird durch die zielgerichte, wiederholte und planmässige Durchführung dieser Vorstellungsübung erreicht. 

Mein persönliches Refugium liegt – wenn wundert’s – an einer für mich besonders eindrücklichen Stelle im Umland von Stanley, Idaho.

Langeweile – oder Zeit um wieder kreativ zu werden!

Tempo, vielfältige und Mehrfachbelastungen, Mangel an Zeit, Effizienzsteigerung: Wie Untersuchungen zeigen (vgl. Gubelmann 2011), wünschen sich viele Athleten*innen in ihrem anforderungsreichen Spitzensportalltag vor allem eines: mehr Zeit für sich selbst. Entspannungsinseln im Alltag können einen ersten Ausgleich schaffen, ebenso wichtig erscheinen mir eigentliche Zäsuren und längerwährende „Abwesenheiten“, die das Leben des Sportlers „entschleunigen“ können. Schon mehrfach lautete mein Interventionsvorschlag an hoch-belastete Athleten lapidar: geh’ in die Ferien, mach mal Pause, möglichst ohne grosses Programm! Give me a break! 

Davon profitierte ich in Stanley in der oben beschriebenen Weise, wobei ich die aufkommende „lange Weile“ tatsächlich dafür geniessen konnte, mein Dasein vorüberziehen zu sehen. Und ich merkte, wie meine Seele nachkam!

Erholungs-Belastungs-Monitoring

Die im Spitzensport immens gestiegene psycho-physische Beanspruchung durch Training und Wettkampf schränkt die erforderliche Erholungszeit der Sportlerinnen und Sportler immer mehr ein und erhöht die Gefahr, dass die durch Training und Wettkampf hervorgerufenen psycho-physischen Beanspruchungszustände nicht angemessen ausgeglichen werden und gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen (vgl. Allmer & Kleinert, 2001). Im Wissen um die hohe Bedeutung einer optimalen Regeneration (Erholungskonzept!) und einer effizienten Nutzung der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Zeit, Massnahmen) erscheint der vermehrte Einsatz eines Erholungs-Belastungs-Monitorings (vgl. Kallus & Kellmann, 2016) äusserst ratsam. Eine verbesserte Selbsteinschätzung der eigenen Erholung seitens der Athleten sowie die Möglichkeit der Früherkennung kritischer Entwicklungen verbunden mit der Anordnung geeigneter Interventionen seitens der Betreuungsperson können einer ansonsten drohenden seelischen Erkrankung vorbeugen.

Nach einer Woche „Vollgas“ auf dem Rad folgte in Stanley eine Woche „slow go“. Noch bedeutsamer als körperliche Erholung war für mich die emotionale: Ich fühle mich lebendig und voller Tatendrang!

Ausblick

Es ist rufschädigend zu behaupten, die angewandte Sportpsychologie in der Schweiz würde sich nicht um die seelische Gesundheit der ihr anvertrauten Spitzensportler*innen kümmern! Gerade aus präventiver Sicht und mit Blick auf jugendliche Leistungssportler*innen ist diese Mitverantwortung zwingend notwendig. Wie ganz viele meiner Kolleg*innen auch, biete ich meine Dienstleistung im Austausch mit einem breiten Netzwerk therapeutisch geschulten und qualifizierten ExpertInnen an, um bei psychischen Erkrankungen unterstützend (und auch delegierend) weiterhelfen zu können. Eine Zusammenarbeit mit „gleichgesinnten“ Sportpsychiatern würde ich weiterhin begrüssen!

Auf der Suche nach dem passenden Refugium?

Hanspeter Gubelmann und Cristina Baldasarre haben dazu einen passenden Leitfaden entwickelt. Bitte bei den beiden AutorInnen anklopfen!

Zu den Kontaktdaten:

Dr. Hanspeter Gubelmann

Cristina Baldasarre

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/08/31/dr-hanspeter-gubelmann-inside-sport-psychology-do-we-practise-what-we-preach/
https://www.die-sportpsychologen.de/2018/06/18/hilfe-fuer-sportler-mit-depressiven-problemen/
https://www.die-sportpsychologen.de/2018/10/11/dr-hanspeter-gubelmann-kranker-spitzensport-wenn-koenige-zu-aengstlichen-maeusen-mutieren/

Quellen: 

Tagesanzeiger-Interview mit Malte Claussen, https://www.tagesanzeiger.ch/sport/weitere/wer-nach-der-tour-de-france-kuchen-ablehnt-hat-ein-problem/story/30490640

Allmer, H., & Kleinert, J. (2001). Psychische Erholung nach Erfolg und Misserfolg. in R. Seiler, D. Birrer, J. Schmid, & S. Valkanover (Hrsg.), Sportpsychologie: Anforderungen – Anwendungen – Auswirkungen. Internationale Fachtagung für Sportpsychologie 2001, 24.-26. Mai 2001 in Magglingen/Schweiz  (S. 57-59). bps-Verlag.

Gubelmann (2011). Die Analyse zentraler Aspekte der Umfeldgestaltung im Leistungssport. Eine Bedürfnisabklärung im Schweizer Spitzensport (2. Teil). ESK/ETH Zürich: unveröff. Forschungsbericht.

Kallus, K.W. & Kellmann, M. (2016). RESTQ: The Recovery-Stress Questionnaires. Frankfurt: Pearson.

Keyes, C.L.M. (2002). The mental health continuum: From languishing to flourishing in life. Journal of Health and Social Behavior, vol.43/2, pp.207-222.

Küttel, A. & Larsen, C.H. (2019). Factors affecting elite athletes’ health: a systematic review. In: Strauss, Halberschmidt et al. (Eds). Abstract Book of the 15. FEPSAC Kongress, 15.-19. Juli 2019 in Münster, p.184.

Zusätzliche Quellen:

https://www.cyclegreateryellowstone.com/route-overview

https://www.schweizer-illustrierte.ch/stars/schweiz/jonas-baumann-nach-depression-zurueck-in-der-spur

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Dr. René Paasch: Suchfenster im Fussball trainieren (Teil 4)

Im Fussball stehen die Spieler ständig unter Druck, in kurzer Zeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dieser Zeitdruck resultiert hauptsächlich daraus, dass Gegenspieler versuchen zu verhindern, dass ein Pass zu einem gut positionierten Mitspieler gespielt wird. In diesen Spiel- und Entscheidungssituationen reicht es oftmals nicht aus, auf die Aktionen des Gegners zu reagieren. Es ist notwendig, die wesentlichen Informationen für die Vorhersage frühzeitig zu erkennen und diese in die eigene Handlungsplanung zu integrieren, um erfolgreich zu handeln. Aus diesem spannendem Blickwinkel möchte ich Ihnen die Suchfenster von Fussballern vorstellen und Anregungen für eine Verbesserung liefern. 

Zum Thema: Aufmerksamkeitsschulung im Fussball (Teil 4)

Das menschliche Gehirn wurde in akribischer Kleinstarbeit über viele tausende Jahre entwickelt. Durch gezielte aufmerksamkeitsrelevante Schwerpunkte hat sich unser Gehirn aus einer riesigen Menge an Informationen entwickelt. Es hat gelernt, bewusst zu selektieren und zu verarbeiten, welche für das Überleben und situationsgerechte Handlungen im Alltag und Sport wichtig sind (Cohen, Nakayama, Konkle, Stantic, Alvarez, 2015). 

Die Aufmerksamkeit gilt als ein entscheidender Leistungsfaktor im Hinblick auf sportliche Leistungen (Abernethy et al., 2007). So benötigen Fußballer situationsgerechte Suchfenster bei Ein- und Mehrfachausführungen, um optimal Fussball spielen zu können. Beispielsweise muss dieser den Ball führen und ihn gleichzeitig vor gegnerischen Einflüssen abschirmen, während sie das Spiel nach Räumen und freien Spielern durchsuchen. In dem nun folgenden Abschnitt werden Trainingsformen und Übungsaufbauten präsentiert, die den Voraussetzungen für eine verbesserte Aufmerksamkeit nahekommen 

Siehe dazu: Der Footbonaut für Amateuere! 

Die Gefahr des Übersehens

Eine der Entwicklungen im modernen Fußballs ist, dass der Trainer situativ die Taktik ändern und die Mannschaft darauf reagieren muss. Furley, Memmert & Heller (2010) machen für dieses Phänomen die „Inattentional Blindness“, die Aufmerksamkeitsfokussierung verantwortlich. Diese beschreibt, dass Personen oder Mannschaften, wenn sie in einer Situation zu sehr auf eine bestimmte Sache fixiert sind oder feste saisonale taktische Ausrichtung fahren, häufig andere Dinge übersehen.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse legen eine Aufteilung der Aufmerksamkeit in vier Subprozesse nahe (Knudsen, 2007): 

  • Aufmerksamkeitsorientierung
  • selektive Aufmerksamkeit
  • geteilte Aufmerksamkeit
  • Konzentration 

Praktische Beispiele der vier Subprozesse im Fussball (Memmert, 2019, S. 42): 

Aufmerksamkeitsorientierung:  Ein Mitspieler auf der anderen Seite des Spielfelds signalisiert per Armheben seine Anspielbereitschaft, woraufhin der Ballhalter  seinen Aufmerksamkeitsfokus  auf diesen Spieler richtet, um einen langen Pass zu spielen. 

Selelektive Aufmerksamkeit: Ignorieren des „Pfeifkonzerts“ des  gegnerischen Publikums vor dem Ausführen  eines Eckballs, um den Ball präzise auf die starken Kopfballspieler zu spielen. 

Geteilte Aufmerksamkeit: Sicheres Abschirmen  kloijddes Balls, während man das Spielfeld nach freien Mitspielern „scannt“. 

Konzentration: Fixieren des Balls bei einem 60-m-Pass, um den Ball spielbar aus der Luft  annehmen zu können. 

Geteilte Aufmerksamkeit als zentrale Säule

Wenn die Aufmerksamkeit eines Spielers auf ein anderes Objekt gerichtet ist, dann wird eine unerwartete Situation auf dem Feld oft nicht wahrgenommen, obwohl es sich im visuellen Blickfeld befindet. Im Fussball ist daher die geteilte Aufmerksamkeit eine zentrale Säule für schnelles Aufassen, Reflektieren und situationsgerechtes Agieren. Das Wahrnehmen von unerwarteten Objekten kann jedoch durch eine stärkere Beachtung des Aufmerksamkeitstrainings erlernt werden. Dies ist insbesondere im Kinderbereich von zentraler Bedeutung, da sie unerwartete Objekte deutlich weniger gut wahrnehmen als Jugendliche und Erwachsene (Memmert, 2019). 

Zu den Beiträgen der Mini-Serie von Dr. René Paasch

Fazit

In einigen Spielsituationen ist es wichtig und notwendig, die Aufmerksamkeit gezielt und selektiv auf ein Objekt zu richten, hingegen erfordern andere Situationen mehrfach Subprozesse der Aufmerksamkeit. Die geteilte Aufmerksamkeit befähigt Spieler dazu, sich auf zwei oder mehrere Informationsquellen gleichzeitig zu konzentrieren. Diese Fähigkeit, ist nicht nur im Sport, sondern auch in verschiedenen Alltagssituationen relevant. Um originelle Lösungen auf dem Platz zu integrieren, benötigen Mannschaftssportler eine verstärkte geteilte Aufmerksamkeit. Deshalb stellen effiziente visuelle Aufmerksamkeitsprozesse eine wesentliche kognitive Voraussetzung für erfolgreiche Leistungen im Sport dar. Insbesondere in den Sportspielen, die sich durch ständig verändernde Umweltanforderungen auszeichnen, hat die flexible Ausrichtung der Aufmerksamkeit leistungsdeterminierenden Charakter. 

Ziel des Aufmerksamkeitstrainings ist daher, sowohl die Anweisungen des Trainers umzusetzen, als auch bei reduzierten Hinweise bessere Lösungen wahrzunehmen und ergänzend dies  videobasiert in Simulation zu trainieren. 

Komm zum Barcamp, um mit Dr. René Paasch und vielen anderen Gesichtern von Die Sportpsychologen an Details und dem großen Ganzen zu arbeiten:

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/11/26/janosch-daul-mentale-einstimmung-auf-ein-fussballspiel/
https://www.die-sportpsychologen.de/2018/09/07/kathrin-seufert-wie-nachwuchsfussballer-das-entscheiden-wieder-lernen-koennen/

Literatur 

Abernethy, B., Maxwell, J. P., Masters, R. S. W., van der Kamp, J. & Jackson, R. C. (2007): Attentional processes in skill learning and expert performance. In G. Tenenbaum & R.  C. Eklund (Eds.), Handbook of sport psychology (3rd ed.). New Jersey: Wiley & Sons. 

Cohen, M. A., Nakayama, K., Konkle, T., Stantic, M. & Alvarez, G. A. (2015). Visual awareness is limited by the representational architecture of the visual system. Journal of  Cognitive Neuroscience, 27, 2240-2252. 

Furley, P., Memmert, D. & Heller, C. (2010): The dark side of visual awareness in sport – Inattentional blindness in a real-world basketball task. Attention, Perception & Psychophysics, 72 (5), 1327-1337.

Knudsen, E. (2007). Fundamental components of attention. Annual Review of Neuroscience, 30, 57-78. 

Memmert, D. (2019): Fußballspiele werden im Kopf entschieden: Kognitives Training, Kreativität und Spielintelligenz im Amateur- und Leistungsbereich Taschenbuch. Meyer & Meyer; Auflage: 1 

Internet: 

https://www.komm-mit.com/de/fussballforschung-aktuell/

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Ole Fischer: Als Trainer eine Kadernominierung optimal kommunizieren – Am Beispiel der Basketball WM 2019

Dass war gewiss keine einfache Aufgabe für Basketball-Bundestrainer Henrik Rödl. Unmittelbar vor Beginn der Weltmeisterschaft 2019 in China musste er den beiden NBA-Talenten Moritz Wagner und Isaac Bonga (beide Washington Wizards/NBA) mitteilen, dass sie nicht zum endgültigen 12-Kader des  Deutschen Basketball Bundes zählen. Als Trainer stehen auch Sie, liebe Leser, immer wieder vor dieser Art von Entscheidung. Wen nehme ich mit? Welche Entscheidung ist die richtige? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wie kann ich dem enttäuschten Spieler trotzdem Mut machen? Bei der Beantwortung all diesen Fragen können Sie vom Basketball-Bundestrainer oder seinen Amtskollegen aus anderen Sportarten lernen. Im Text habe ich das zusammengefasst – Ihre nächste schwere Entscheidung kommt bestimmt. 

Zum Thema: Mit der Macht umzugehen, ein Team zu nominieren 

Wenn Sie als Trainer darüber bestimmen, ob ein Spieler mit zu einem Turnier, Spiel oder generell in den Kader kommt, entsteht zwangsläufig eine Abhängigkeit der Spieler von Ihrer Entscheidungsgewalt.

Im Gegenzug sind Sie abhängig von den Fähigkeiten und dem Einsatz der Spieler, welche letztlich auf dem Platz stehen und das Mannschaftskonzept umsetzen sollen. Diesen Umstand vergessen die meisten Spieler in der Nominierungssituation. Oft nehmen sie es persönlich und reflektieren nicht über die eigene Leistung. Dann gelten Sie als Trainer als der Schuldige. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass ein Spieler etwas egoistischer denken muss als Sie, damit er seinen Ehrgeiz behält.

Schwere leichte Entscheidungen

Diesen Ärger kriegen Sie als Trainer hin und wieder zu spüren, egal ob Sie es direkt vom Spieler hören, von Teamkameraden oder aus der Presse. Aber Sie wissen ja, als Trainer ist es unmöglich, sich mit allen Spielern gleich gut zu verstehen. Trotzdem sollte der Spieler merken, dass Ihnen die Entscheidung nicht egal gewesen ist, selbst wenn sie Ihnen leicht gefallen sein sollte.

Sie als Trainer arbeiten für das Wohl der Mannschaft und für den Erfolg der Gruppe. Sollte Ihre Entscheidung nicht funktionieren, dann sind Sie der Erste, der gehen muss. Der Druck ist hoch. Daher mein erster Tipp:

Seien Sie mutig und hören Sie auf ihr Bauchgefühl – Es gehört viel Courage dazu, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Beispiel Mario Götze

Die Umsetzung dieses Tipps hat auch zur Folge, dass im Falle des Erfolgs die Mannschaft Ihnen noch mehr Vertrauen schenkt, da sie sieht, dass Ihre Praktiken zum Erfolg führen.

Das Bauchgefühl spielt ebenso eine wichtige Rolle. 

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Weitere Informationen

Ein gutes Beispiel ist das Tor im WM Finale von Mario Götze. Bei der WM 2014 spielte er kein wirklich gutes Turnier, viele kleine Verletzungen hatten ihn zuvor zurückgeworfen. 88 Minuten saß er im Finalspiel auf der Bank, bis Joachim Löw das richtige Gespür hatte. „Und jetzt zeig der Welt, dass du besser bist als Messi“, flüsterte ihm der Bundestrainer noch ins Ohr. Und dann schoss er Deutschland zum Titel. Ohne das richtige Bauchgefühl, wäre das eventuell nicht passiert.

Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Als Trainer ist es wichtig, den Athleten genug Raum zu geben, um sich zu präsentieren. Das bedeutet, dass in diesem Fall, als Zeitpunkt der spätmöglichste für die endgültige Entscheidung der Beste ist. Ausnahme: Ein Spieler stört das Teamgefüge und gefährdet den Erfolg der Vorbereitung.

In seltenen Fällen ist es durchaus notwendig, schon früher den endgültigen Kader zu bestimmen. So ist ein konzentriertes Arbeiten mit Vorbereitung auf die gemeinsamen Ziele besser machbar, als wenn individuelle Ambitionen den Trainingsalltag stören.

Die Art und Weise der Bekanntgabe

Doch mal ehrlich, ist es besser, eine Nominierung vor der ganzen Mannschaft bekannt zu geben oder ist ein persönliches Gespräch im Vorfeld sinnvoller?

Beides kann seine Vor- und Nachteile haben! Ich bevorzuge das Vier-Augen-Gespräch, damit der Spieler Zeit hat, die Entscheidung zu verarbeiten und nicht aus dem Affekt und mit dem Druck, vor der Mannschaft bloßgestellt zu werden, reagiert. Oft nehmen Spieler eine persönliche Niederlage vor der gesamten Mannschaft als Demütigung wahr. Dies wird zwangsläufig zu einem schlechten Verhältnis zwischen Ihnen und dem Spieler führen. 

Wie sag ich es ihm oder ihr? 

Mein Tipp: Bleiben Sie so transparent wie möglich, begründen Sie Ihre Entscheidung und beweisen Sie Fingerspitzengefühl.

Auch wenn der Spieler Ihre Wahl nicht umgehend versteht, kann ihm diese Vorgehensweise dabei helfen, die Situation besser zu verarbeiten. Das Fingerspitzengefühl wird Sie dabei leiten, wie, wo und wann Sie Ihre Spieler darüber informieren.

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Weitere Informationen

Härtefall Moritz Wagner

Henrik Rödl hat mit Moritz Wagner vor seinem Interview (im Video) geredet und ihm innerhalb der Pressekonferenz nochmals den Rücken für zukünftige Einsätze bei der Nationalmannschaft gestärkt. Zudem hat er klare Beispiele wie die Spielpraxis und die Erfahrung als Ursachen für seine Entscheidung festgemacht. Einem klugen Spieler wie Wagner wird diese Begründung dabei helfen, sich zu verbessern und die Entscheidung zu verstehen.

Er hat Wagner außerdem bestätigt, dass er in Zukunft (innerhalb der Nationalmannschaft) noch viel vor sich hat und über ein „unglaubliches Talent“ verfügt. Dieser Ausblick ist die Grundlage für eine positive Zusammenarbeit in den nächsten Jahren. Rödl gibt seinem Spieler das Gefühl, trotzdem ein Teil des Teams zu sein und seine Entwicklung in der Zukunft weiter zu evaluieren. Damit bekommt Wagner auch eine Aufgabe, die seinen Ehrgeiz wecken soll.

Zur Profilseite von Ole Fischer: https://www.die-sportpsychologen.de/ole-fischer/

Wie mit den Aussortierten umgehen?

Mein Tipp: Bleiben Sie für den Spieler nahbar, zeigen Sie ihm, dass Sie trotzdem an ihn glauben (vorausgesetzt, dass es der Fall ist).

Wenn Sie die obenstehenden Tipps beachten, können Sie auch diese schwierige Ansprache als Trainer zu einer gelungenen Aktion für die Mannschaft machen, die daraus gestärkt hervorgeht. Denn denken Sie daran, dass sich immer viele Spieler über Ihre Entscheidung freuen. Nämlich die, die mitfahren dürfen.

Info Basketball-WM 2019:

Vom 31. August bis zum 15. September 2019 läuft die Basketball-WM in China. Mein Kollege Johannes Wunder (zum Profil) und ich (zum Profil von Ole Fischer) haben uns dazu entschieden, dieses Spektakel sportpsychologisch zu begleiten. Wenn ihr spezielle Themenideen oder Fragen habt, nehmt gern Kontakt auf.

Wir von Die Sportpsychologen (zur Übersicht) wünschen eine tolle Basketball WM 2019 und viel Erfolg ans Deutsche Team!

#Koerbefuerd

Mehr zum Thema:

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Lars Lienhard: Neuroathletik – Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst

Lars Lienhard, der Ex-Leistungssportler, Sportwissenschaftler und Athletik-Trainer ist Mitbegründer von „Focus On Performance“ und gilt als Gesicht der Neuroathletik im deutschen Sport. Lars Lienhard arbeitet seit Jahren erfolgreich mit Weltklasse-Athleten aus den unterschiedlichsten Sportarten zusammen und hat Athleten auf Olympische Sommer- und Winterspiele sowie Welt- und Europameisterschaften vorbereitet. 2014 feierte er als erster Neuroathletik-Trainer in der Geschichte des DFB den Weltmeistertitel in Brasilien und begleitete den Deutschen-Leichtathletik-Verband auf die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio. 

Das Interview hat Katja Kramarczyk von Die Sportpsychologen (zur Profilseite) geführt.

Lars, du bietest deinen Sportlern mit Neuroathletik ein Trainingskonzept an, dass auf den neurologischen Grundlagen des Athleten basiert. Was steckt da genau dahinter? 

Lars Lienhard: Das Gehirn und das Nervensystem sind Systeme, die die sportliche Leistung maßgeblich bestimmen. Neuroathletik beschäftigt sich mit den ganzen zentralnervösen Prozessen, die sich im Hintergrund abspielen und die Grundlage bilden, mit denen unser Gehirn das Bewegungsprogramm entwirft, bevor es dann zu einer Handlung kommt. Das Gehirn und Nervensystem macht eigentlich nur drei Dinge: es empfängt Informationen aus den Sinnesorganen (Input), analysiert und interpretiert und integriert diese blitzschnell (Integration) und reagiert mit einer Handlung (Output). Ein Output kann eine motorische Bewegung, eine Muskelverhärtung, aber auch ein Gedanke oder Schmerz sein. Die klassische Herangehensweise orientiert sich fast immer nur am Output, Neuroathletiktraining beschäftigt sich deutlich mehr mit dem Input und der Interpretation. Das fängt bei den Rezeptoren an, wo die Informationen aufgenommen werden, über die peripheren Nerven, den spinalen Nerven bis hin zu allen Hirnarealen, die diese Informationen verarbeiten und integrieren, mit denen unser Gehirn dann die Entscheidung für die nächste Handlung trifft und das dementsprechende Bewegungsprogramm erstellt. 

Das entspricht nicht der Herangehensweise herkömmlicher Trainingskonzepte. Du plädierst für einen Perspektivwechsel?

Ja, denn wie präzise, kräftig, dynamisch oder koordiniert eine Bewegung erfolgt, ist das Endresultat aller Informationen, die im Gehirn ankommen, und ihrer Verarbeitung dort. Die Erkenntnisse über das Gehirn und Nervensystem als bewegungssteuernde Instanzen sowie deren praktische Umsetzung müssen in den Vordergrund rücken und in ein ganzheitliches Athletiktraining integriert werden. Unsere Leistungsfähigkeit ist immer davon abhängig, wie sich das Gehirn aufgrund der aktuellen Datenlage entscheidet. Bekommt das Gehirn also nicht ausreichende und hochwertige Informationen aus den bewegungssteuernden Systemen, werden Trainingsziele nur deutlich erschwert erreicht.

Umso besser die Informationen, umso besser dann auch die Leistung?

Ja. Das Gehirn ist evolutionsbiologisch ein Organ, das unser Überleben sichert und dafür zu jeder Zeit Umgebung und Körper scannt. Erscheint eine Situation nicht sicher und kontrollierbar, dann ergreift das Gehirn Schutzmaßnahmen, die immer leistungsmindernd wirken. Schutzmaßnahmen können das Reduzieren der Kraft, Bewegungseinschränkungen, aber auch muskuläre Verspannungen oder Schmerzen sein. Es entstehen hierdurch immer Kompensationsmuster. Es ist also wichtig zu verstehen, dass die Qualität der Leistung von der Qualität der Informationen abhängig ist. Hier sind vor allem drei Informationsquellen gefragt: das visuelle System (Sehen), das vestibuläre System (Gleichgewicht) und das propriozeptive System (Eigenwahrnehmung von Bewegung). 

Zum Profil von Katja Kramarczyk: https://www.die-sportpsychologen.de/katja-kramarczyk/

Wie sieht das in der Praxis aus? 

Ich kann aus Qualitätsgründen immer nur mit dem Gehirn und Nervensystem eines Athleten arbeiten, unser Nervensystem ist so individuell wie ein Fingerabdruck und ein gutes neurozentriertes Arbeiten ist zunächst immer im 1:1 Setting. Jede Position, jede Bewegung, jede Sportart oder Disziplin hat ein neuronales Anforderungsprofil an das Gehirn und das zentrale Nervensystem des Sportlers. Ich überprüfe, ob das zentrale Nervensystem des Sportlers überhaupt in der Lage ist, den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, im vollen Umfang Rechnung zu tragen oder es im individuellen neuronalen Profil etwas gibt, was in der gegebenen Situation nicht ausreicht, um diese optimal zu bewältigen. Da treffe ich oft auf die Situation, dass ein Sportler an spezifischen technischen Dingen wie z.B. der Armarbeit seit Jahren arbeitet und sich keine wesentlichen Verbesserungen zeigen. Dann liegt nahezu immer ein Softwareproblem vor. 

Wie entsteht ein neuronales Anforderungsprofil?

Ich teste intensiv und ganzheitlich die Systeme des Sportlers und führe eine Anamnese durch, die mir zeigt, in welchem Kontext welche Verletzungen, Tonusprobleme, zugehende Muskeln etc. auftraten. Wenn beispielsweise alle Probleme auf der rechten Seite waren, gibt mir das bereits eine gute Orientierung, wo im Gehirn ich anfangen könnte. Zudem analysiere ich die Sportart oder Disziplin. Die neuronale Anforderung in den Spielsportarten ist zum Beispiel viel größer, weil die Athleten alles können müssen: stoppen, sich auf engstem Raum bewegen, springen, rotieren und es kommt zu wesentlich mehr Karambolagen, wodurch Gehirnerschütterungen auftreten. 

Wie überprüfst du die Trainingsergebnisse?

Wir machen alles über Assessments und Re-Assessments, die mir sofort Rückmeldung über die Auswirkung des Trainings geben. Was für Übungen der Sportler bekommt, ist von seinem Output abhängig. Wenn ich den Input durch eine Augenübung verändere, bekomme ich unmittelbar das Resultat und kann schnell einschätzen, was dem Sportler gut tut und in welchem Bereich wir trainieren müssen. 

Katja Kramarczyk und Lars Lienhard

Wieviel Zeit sollte ein Sportler in das Neuroathletiktraining investieren?

Es gibt neuroplastische Anpassungsgesetze und wir wissen heute, dass wir ungefähr 40 Stunden brauchen, um ein System neu zu strukturieren. Allerdings können wir mittlerweile gezielter Hirnareale ansteuern, indem wir aus verschiedenen Bereichen Informationen in ein Areal geben und somit mehr neuroplastische Kapazität erhalten (sogenanntes Priming). Laut Studien ist im motorischen Lernen somit eine bis zu 70% schnellere motorische Lernphase erreichbar. Soll heißen: Wir brauchen dann keine 40 Stunden mehr. Nichtsdestotrotz muss der Athlet 20-30 Minuten am Tag trainieren, wenn er Erfolge aufbauen will. Kurzfristig können wir tolle Wirkung erzielen, aber langfristige Leistung braucht Training. 

Gibt es einen optimalen Einstieg in das Neuroathletiktraining?

Neuroathletiktraining ist mit Kindern möglich, indem ich spielerisch den Fokus auf die Augen, das Gleichgewicht und Gelenksbewegungen richte. Das beste Alter, um gezielt neuroathletisches Training durchzuführen, ist jedoch, wenn der Sportler sich mit den Themen auseinandersetzen kann. Im Allgemeinen sollte der Einstieg während der Saisonpause- oder in der Saisonvorbereitung starten, da durch das neuroathletische Training neue Muster und Ansteuerungen stattfinden und der Sportler so eventuell aus seinen gewohnten Konzepten, Bewegungsmechanismen oder Ritualen herauskommt. Meist arbeite ich jedoch mit Athleten, die mich während der laufenden Saison kontaktieren, da irgendwas beim Sportler akut nicht mehr geht und dann müssen wir den Reiz der Übungen individuell anpassen, so dass sich das Symptom bestenfalls auflöst aber keine zu großen neuronalen Umstellungsprozesse bewirkt werden.

Wie lange arbeitest du in der Regel mit einem Sportler zusammen?

Ich werde oft noch so behandelt wie ein Arzt, zu dem man hingeht, mit einem Problem und wenn das Problem gelöst ist, braucht man mich nicht mehr. Sportler, die jedoch verstehen, was das System kann und das es um die Optimierung der kompletten Bewegungsprozesse geht, die begleite ich bereits seit vielen Jahren. Die Besten der Besten verhalten sich alle gleich, egal ob Individual- oder Mannschaftssportler. Sie haben gelernt, dass sie nur so gut funktionieren, wie sie sich selbst optimieren, wie sie sich selbst fühlen und wie sie an sich arbeiten. Diese Athleten wissen, dass es um Qualität geht.

Neuroathletiktraining benötigt ein individuelles Training. Vereine und Teams arbeiten meist nach dem „One fit for all“ Prinzip. Wie sieht deine Zusammenarbeit aus und wie kann ein neuroathletisches Training integriert sein?

Aktuell sieht die Zusammenarbeit meist so aus, dass ich privat geholt werde und mit den Sportlern dann in der zur freien Verfügung stehenden Zeit arbeite. Es ist schwer neuronal mit einem ganzen Team zu trainieren, weil das neuronale Profil so individuell wie ein Fingerabdruck ist. Irgendwann ist es das Ziel, dass Trainingssysteme auf den neuronalen Gesetzmäßigkeiten basierend aufbauen und nicht neuronale Prozesse in herkömmliche Trainingssysteme integriert werden. Dies wird sich jedoch nicht so schnell ändern, weil der Markt von symptomorientierten Prozessen dominiert wird.

Neuroathletik erfährt in den vergangenen Jahren immer mehr Interesse bei Sportlern und Trainern. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Trainer neurozentrierte Methoden oder Material wie die Rasterbrille in das eigene Training integrieren. Was sollte ein Trainer beachten, wenn er Neuroathletik in sein Training berücksichtigt?

Es ist eine gute Entwicklung, wenn Trainer das Potential von Neuroathletik erkennen, aber die Methoden und Tools im Sinne von „One fit for all“ zu integrieren, funktioniert nicht. Störungen sind individuell und genau deshalb erstellen wir das individuelle neuronale Profil eines Sportlers. Wenn ich kein neuronales Profil habe und Material wie die Rasterbrille einfach anwende, kann der Trainer damit auch Sportler „zerstören“. Neuroathletik bedarf einer guten Ausbildung wie das Z-Health von Dr. Eric Cobb. Ein guter Trainer sollte sich ein Team aus Experten um ihn herum aufbauen und die Kompetenz ins Boot holen, die er benötigt. 

Schniefen, Schielen oder die Zunge kreisen – Neuroathletisches Training sieht komisch aus. Wie hast du es geschafft, dass Neuroathletiktraining zu etablieren?

Das war keine einfache Zeit und nach wie vor betrachten viele Kräfte aus dem medizinisch-athletischen Bereichen die Neuroathletik mit Skepsis. Martin Weddemann, Mitbegründer von Fokus On Performance, und ich haben unsere Vision gegen sehr viele Widerstände platziert. Die Aufklärung durch ständigen Austausch, unsere Website www.fokus-on-performance.de und die ersten beiden Bücher über Neuroathletiktraining (siehe Tipps unten) waren wichtige Bausteine. Populär wurde das Neuroathletiktraining aber vor allem, weil sich Top-Sportlerinnen und -sportler wie Gina Lückenkemper, Per Mertesacker, Serge Gnabry, Tatjana Hüfner, Fabian Rießle, David Storl und weitere darüber in den Medien geäußert haben. 

#Neuroathletik

Katja Kramarczyk und Dr. Fabio Richlan sind sich einig: Es lohnt sich, aus sportpsychologischer Perspektive das Thema Neuroathletik zu beleuchten. In ihrem Schwerpunkt erklären sie, was sich hinter dem Modewort verbirgt. Zeigen auf, was Trainer, Betreuer, Eltern und Sportpsychologen über neurowissenschaftliche Grundlagen wissen sollten. Und lassen einen der Köpfe der Neuroathletik-Szene zu Wort kommen.

Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen

Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern

Lars Lienhard: Neuroathletik: Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst

ZDF-Beitrag: Neuro-Athletik – Training von Gehirn und Sinnen (Link)

Zu den Autoren: Katja Kramarczyk, Dr. Fabio Richlan

Bücher über Neuroathletiktraining:

  • Schmid-Fetzer, U. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag. 
  • Lienhard, L. (2019). Training beginnt im Gehirn. Mit Neuroathletik die sportliche Leistung verbessern. München: riva Verlag. 

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Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern

In der Arbeit mit Talenten im Nachwuchsleistungssport müssen sich Trainerinnen und Trainer tagtäglich mit den verschiedensten Rahmenbedingungen auseinandersetzen. So gibt es etwa organisatorische, schulische bzw. die Ausbildung betreffende, finanzielle, zeitliche, örtliche sowie natürlich biologische Rahmenbedingungen. Bei den biologischen Rahmenbedingungen steht die mehr oder weniger offensichtliche körperliche Entwicklung bzw. Reifung, etwa in Bezug auf das Herz-Kreislauf-System oder die Skelettmuskulatur im Vordergrund. Ein Organ des Körpers, welches dabei jedoch allzu oft übersehen wird, ist das Gehirn. Dieser Beitrag soll die wichtigsten Veränderungen im jugendlichen Gehirn und ihre Relevanz für die Arbeit mit Talenten im Nachwuchsleistungssport kurz und bündig zusammenfassen.

Zum Thema: Neurowissenschaftliche Grundlagen der Arbeit mit Talenten im Nachwuchsleistungssport

Gerade die zweite Lebensdekade, also das Alter zwischen zehn und 20 Jahren, ist ein aus neurowissenschaftlicher Perspektive ein besonders spannender Lebensabschnitt. In dieser Phase der “Adoleszenz” befinden sich die Jugendlichen nahe an ihrem lebenslangen Höhepunkt bezüglich körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig finden aber auch grundlegende Veränderungen im Gehirn statt (National Institute of Mental Health, 2011). Diese Veränderungen beeinflussen einerseits das jugendliche Verhalten, andererseits wird die Gehirnentwicklung ihrerseits von Erfahrungen (z.B. Training) sowie Umwelteinflüssen (d.h. dem Lern- und Entwicklungskontext) geprägt. Obwohl Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Forschung, bahnen sich gut belegte Erkenntnisse aus der Gehirnforschung bereits langsam aber sicher ihren Weg in die praktische Anwendung. Die wichtigsten Eckpfeiler des komplexen Zusammenspiels von Gehirnentwicklung sowie Erleben und Verhalten von jugendlichen Talenten sollten im Rahmen einer zeitgemäßen Förderung im Nachwuchsleistungssport berücksichtigt werden (Richlan, 2016).

Die “graue Masse” aus Nervenzellen, daraus projizierenden Nervenfasern sowie stützenden Gliazellen in der äußersten Schicht der Gehirns (Großhirnrinde oder cerebraler Cortex) ist während der Kindheit und Jugend einem stetigen Wandel unterworfen. Zuerst nimmt das relative Volumen des kortikalen Mantels zu und später wieder ab. Die anfängliche Zunahme der grauen Masse wird auf ein unspezifisches Sprießen der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen zurückgeführt. Die Abnahme ist das Ergebnis eines spezifischen und selektiven Umbauprozesses, bei dem relevante neuronale Funktionseinheiten gestärkt und weniger relevante reduziert werden. Dieses selektive Absterben irrelevanter synaptischer Verknüpfungen vereinfacht die strukturelle Konnektivität und dient dazu, die Effizienz der neuronalen Kommunikation zu erhöhen. Der Umbauprozess wird einerseits von den Genen gesteuert, andererseits von (Trainings-) Erfahrungen bzw. der Umwelt beeinflusst. Das bedeutet, dass während dieser Phase der Lern- und Entwicklungskontext einen maximalen Effekt auf die Gehirnstruktur ausübt, welcher für den Rest des Lebens bestehen bleiben kann.

Zum Profil von Dr. Fabio Richlan: https://www.die-sportpsychologen.de/fabiorichlan/

Unterschiedliche Regionen des Gehirns entwickeln sich unterschiedlich schnell. 

Gehirnareale, welche für grundlegende Funktionen zuständig sind, entwickeln sich zuerst. Dazu gehören z.B. die primären sensorischen und motorischen Areale. Im Gegensatz dazu entwickeln sich die Areale des Gehirns, welche für die sogenannten “exekutiven Funktionen” zuständig sind zum Schluss. Dazu zählt der präfrontale Kortex für Emotionsregulation und Impulskontrolle sowie Planung und Monitoring. Diese exekutiven Funktionen sind wichtig für zeitlich überdauernde, aufgaben-relevante und zielgerichtete Aufmerksamkeit – wesentliche Fähigkeiten etwa zur Aufnahme, Verarbeitung, Umsetzung und Beibehaltung von mehr oder weniger komplexen technischen oder taktischen Instruktionen. Darüber hinaus bilden die exekutiven Funktionen die Basis für Wille, Selbstregulation und -motivation und ganz allgemein für vernünftiges, reifes Verhalten. Gerade ein starker Wille ist wohl eines der perspektivisch wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale für zukünftige SpitzensportlerInnen.

Anatomische Veränderungsprozesse finden nicht nur auf regionaler Ebene, d.h. in einzelnen, voneinander abgegrenzten Gehirnarealen statt, sondern betreffen vor allem auch weit reichende Verbindungen zwischen entfernt gelegenen Gehirnarealen. Wichtige Faserbündel aus “weißer Masse” werden zunehmend mit einer Schicht aus Myelin überzogen, welche die Leitungsgeschwindigkeit von neuronalen elektrischen Impulsen zwischen den so verbundenen Nervenzellen wesentlich erhöht. Durch diese verbesserte Konnektivität wird die Kommunikation zwischen distalen Gehirnregionen erleichtert und die Entstehung und Entwicklung Gehirn-weiter funktioneller Netzwerke ermöglicht. Eine ganze Reihe von höheren kognitiven Prozessen bauen auf diesen weitläufigen Netzwerken auf. Dazu zählen z.B. bewusste Wahrnehmung und Verhaltenskontrolle, Aufmerksamkeit, Sprache, Intelligenz, sowie verschiedene Gedächtnissysteme. Störungen in diesen Domänen werden oft mit mangelnder struktureller Integrität der weitreichenden Gehirnnetzwerke in Verbindung gebracht.

Das jugendliche Denken

Wesentliche Umbrüche finden nicht nur auf Ebene der kognitiven Funktionen statt, sondern auch auf Ebene der emotionalen Verarbeitung. Studien mittels funktioneller bildgebender Verfahren etwa zeigen eine erhöhte Aktivierung auf emotional aufgeladene Bilder bei Jugendlichen im Vergleich zu jüngeren Kindern und zu Erwachsenen. Diese erhöhte Aktivierung findet sich in Regionen des “Belohnungssystems” des Gehirns. Anatomisch besteht das Belohnungssystem aus kortikalen und subkortikalen Anteilen des Limbischen Systems. Dieses System hat einen bedeutenden Einfluss auf unser Verhalten, indem es die Geschwindigkeit und Intensität von emotionalen Reaktionen reguliert. Im Kontext Sport etwa, haben emotionale Reaktionen auf Erfolge und Misserfolge einen wesentlichen Einfluss auf die Motivation jugendlicher Talente. Hier kann z.B. ein Training der Ursachenzuschreibung nach sportlichen Siegen und Niederlagen dabei helfen, die langfristige Motivation aufrecht zu erhalten bzw. den Talenten Techniken näher gebracht werden, die ihnen dabei helfen, ihre Emotionen selbständig zu regulieren.

Die Veränderungen in der Gehirnanatomie werden zum Teil von hormonellen Veränderungen begleitet bzw. gesteuert. In der Adoleszenz stellen sich sowohl der Geschlechtshormon- als auch der Stresshormonhaushalt um. Geschlechtshormone (Testosteron, Estrogene) steuern nicht nur geschlechts-spezifisches Wachstum und Verhalten, sondern das gesamte Sozialverhalten, Stichwort Mannschaftssport bzw. Trainingsgruppen. Stresshormone (Katecholamine, Glukokortikoide) steuern Erleben und Verhalten in Stresssituationen und spielen sowohl in der Bewältigung des Alltags als auch in Wettkampfsituationen eine entscheidende Rolle, Stichwort Umgang mit (Über-)Belastung bzw. Leistungsdruck. Auch hier kann sportpsychologisches Coaching dazu beitragen, Stress sowohl im Alltag, als auch im Wettkampf zu regulieren und dadurch sowohl die objektive Leistung als auch die subjektive Lebensqualität der Talente zu optimieren. Hierbei haben sich Trainings des Erholungs-Belastungs-Managements bzw. Verfahren zur Aktivierungsregulation vielfach bewährt.

Wie Jugendliche mentale Aufgaben verarbeiten und was Trainer, Eltern und Betreuer darüber wissen sollten

Die Kapazität Neues zu erlernen ist zu keinem späteren Zeitpunkt höher als während der Adoleszenz. Auch die intellektuelle Leistungsfähigkeit ist bereits stark ausgeprägt. Trotzdem gibt es signifikante Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen in Bezug auf die Art und Weise, wie mentale Aufgaben bewältigt werden. Diese Divergenzen basieren einerseits auf einem unterschiedlich stark ausgeprägten Erfahrungsschatz, andererseits auf den oben genannten gehirnanatomischen Entwicklungen. Unterschiede zeigen sich besonders deutlich in der Verarbeitung von mentalen Aufgaben, welche Impulskontrolle oder Reaktionen auf emotionale Inhalte beinhalten. Dieser Umstand sollte im Umgang mit Konflikten und in der Kommunikation mit Jugendlichen unbedingt berücksichtigt werden. Dabei können Erwachsene (Betreuer, Eltern) versuchen, mittels Perspektivenwechsels die Welt durch die Augen der Jugendlichen zu sehen.

Jedenfalls nicht zu unterschätzen sind die in der Adoleszenz stattfindenden Umstellungen in Bezug auf die Regulation des Schlafs. Auch in diesem Bereich ist die Gehirnentwicklung maßgebend. Das jugendliche Schlafverhalten zeichnet sich oft durch die Tendenz aus, bis spät in die Nacht wach zu bleiben. Neben den offensichtlichen Auswirkungen des Schlafmangels wie erhöhte Tagesschläfrigkeit, Energiemangel, Abgeschlagenheit und Konzentrationsmangel während des Tages ist unzureichender Schlaf auch ein nicht zu unterschätzender Faktor für Reizbarkeit und Depression. Auch gesteigertes Risikoverhalten und erhöhte Straffälligkeit können Folgen von Schlafmangel und einem daraus resultierendem Defizit bezüglich der Impulskontrolle sein. Insgesamt ist adäquater Schlaf ein absolut zentraler Bestandteil körperlicher und seelischer Gesundheit, insbesondere bei jungen LeistungssportlerInnen!

Zeitgemäße Talentförderung

Die Gehirnforschung ist ein rasant wachsendes Feld und bietet eine Fülle spannender Erkenntnisse. Hier den Überblick zu bewahren ist selbst für WissenschaftlerInnen schwierig. Trainerinnen und Trainer sollten zumindest einen groben Überblick über basale Aspekte der Gehirnentwicklung haben. Diese stellen wichtige Grundlagen der Arbeit mit Talenten im Nachwuchsleistungssport dar, indem sie das Erleben und Verhalten der Talente beeinflussen. Das Wissen um die neurowissenschaftlichen Rahmenbedingungen sollte im Sinne einer zeitgemäßen Talentförderung zum Wohle der NachwuchsleistungssportlerInnen genutzt werden.

#Neuroathletik

Katja Kramarczyk und Dr. Fabio Richlan sind sich einig: Es lohnt sich, aus sportpsychologischer Perspektive das Thema Neuroathletik zu beleuchten. In ihrem Schwerpunkt erklären sie, was sich hinter dem Modewort verbirgt. Zeigen auf, was Trainer, Betreuer, Eltern und Sportpsychologen über neurowissenschaftliche Grundlagen wissen sollten. Und lassen einen der Köpfe der Neuroathletik-Szene zu Wort kommen.

Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen

Lars Lienhard: Neuroathletik: Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst

Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern

ZDF-Beitrag: Neuro-Athletik – Training von Gehirn und Sinnen (Link)

Zu den Autoren: Katja Kramarczyk, Dr. Fabio Richlan

Literatur

National Institute of Mental Health. (2011). The Teen Brain: Still Under Construction (NIH Publication No. 11-4929). Bethesda, MD: U.S. Department of Health and Human Services.

Richlan, F. (2016). Sensible Phasen im Nachwuchsleistungssport aus neurowissenschaftlicher Perspektive. In T. Wörz (Hrsg.), Talentförderung – Sensible Phasen auf dem Weg zur Weltspitze. Pabst Science Publishers.

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Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen

Als Handballerin begann ich 2016 mit Neuroathletiktraining. Augenliegestütze, Zungenkreisen, Handgelenksbewegungen oder Gurgeln erschienen mir schräg, da ich all die Jahre zuvor klassisch meine Fähigkeiten nach dem konditionellen Ansatz trainierte. Es wurde bis zu meinem Karriereende ein Puzzleteil meines täglichen Trainings. Ich hatte bereits während meiner aktiven Karriere das Vergnügen mit dem führenden Neuroathletiktrainer Lars Lienhard zusammenzuarbeiten. Heute als angehende Sportpsychologin dürfte ich ihn für ein Interview besuchen (Link zum Interview). Im folgenden Artikel stelle ich euch vor, was Neuroathletik ist, wie es die sportliche Leistung beeinflusst und wie ein Zusammenspiel zwischen Neuroathletiktraining und sportpsychologischem Training aussehen könnte.

Thema: Neuroathletiktraining und Sportpsychologie

Neuroathletik betrachtet Bewegung und Leistung auf eine ganz neue Art und Weise. Während die klassischen Trainingskonzepte die physiologischen und biomechanischen Aspekte des Trainings in den Fokus rücken, zeigt der neurozentrische Ansatz, dass das Gehirn der Chef des Körpers ist. Das Gehirn und Nervensystem sind die im Hintergrund operierenden Systeme, die die sportliche Leistung maßgeblich beeinflussen. Nichts passiert, ohne dass es vom Gehirn veranlasst oder genehmigt wurde, so Lienhard. Daher wäre es fahrlässig, die neuronalen Gesetze und Prinzipien außer Acht zu lassen. 

Betrachtet man die Arbeitsweise des Nervensystems, macht es drei Dinge: Es empfängt sensorischen Input, analysiert und interpretiert diesen und reagiert mit einem Output. Im Fall des Sports ist der Output eine motorische Handlung wie ein Sprintschritt, ein Sprung oder ein Schuss. Aber auch eine Empfindung wie z.B. Schmerz oder ein Gedanke ist ein Output! 

Neuronale Gesetze für Trainer, Betreuer und Sportpsychologen

Sind wir als Trainer, Sportpsychologen oder Physiotherapeuten nun daran interessiert, den Output zu verbessern, dann sollten wir die neuronalen Gesetze seiner Entstehung berücksichtigen und den Weg über die Optimierung des Inputs gehen (Schmid-Fetzer, 2018). 

Hintergrund: Die Hauptaufgabe unseres Nervensystems ist es, das Überleben zu sichern. Alles ist also darauf ausgelegt, Gefahren und Situationen zu erkennen und darauf zu reagieren. Dafür scannt unser Gehirn zu jedem Zeitpunkt Umgebung und Körper. Sämtliche Informationen aus den sensorischen Organen laufen im Gehirn quasi durch einen „Gefahrenfilter“. Ist eine Situation nicht eindeutig sicher, ergreift das Gehirn Maßnahmen, um den Organismus zu schützen. Diese Schutzmaßnahmen können sich als Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, muskuläre Verspannungen, immunologische Reaktionen oder Angsterscheinungen äußern. Jedes Warnsignal ist immer eine Aufforderung zum Handeln!

Drei bewegungssteuernde Systeme

Betrachten wir die Informationen, die unser Gehirn für eine bestmögliche Sicherheit braucht, sind drei bewegungssteuernde Systeme gefragt: 

  1. Das visuelle System: Es umfasst den gesamten Bereich der Informationsaufnahme, Verarbeitung und Auswertung visueller Informationen im Gehirn sowie die Augenbewegungen.
  2. Das Gleichgewichtssystem: Das Gleichgewichtsorgan zeigt uns, wo wir uns im Raum befinden, zudem koordiniert und stabilisiert es uns.
  3. Das propriozeptive System: Die wichtigste Aufgabe dieses Systems ist die Wahrnehmung der Position und Stellung sowie die Bewegung der Gelenke, um ein Bild der eigenen Bewegung zu erzeugen. 

Aus diesen drei genannten Systemen braucht das Gehirn also klare, hochwertige und ausreichende Informationen sowie gut funktionierende Gehirnareale, die diesen Input analysieren und integrieren. Mangelhafter Input limitiert den Output. Wer sich diesen Zusammenhängen annimmt, blickt anders auf die sportliche Leistung von Sportlern. Ein Beispiel: Hat ein Fußballer ein Koordinationsproblem mit den Augen und kann beide Augen nicht perfekt auf das Objekt ausrichten, so wird er in 1:1 Situationen seinen Gegner immer zu weit oder zu nah an seiner eigenen Position berechnen und kann eigene Handlungen nicht adäquat äußern. Das steigert die Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten und falschen Entscheidungen.

Wie Gehirn und Körper kommunizieren: Feeding Pattern

Nach der Informationsaufnahme durch die drei Systeme erfolgt der Transport sowie die Integration und Auswertung in den Hirnarealen. Betrachtet man den Informationsfluss, so erkennt man ein Muster, nach dem die Hirnareale mit Informationen versorgt werden. Der Input aktiviert die Hirnareale von unten nach oben und von hinten nach vorne. Diesen Fluss der Informationen bezeichnet Schmidt-Fetzer (2018) als Feeding Pattern des Gehirns. 

Abbildung: Die Aktivierungsmuster des Gehirns nach Schmidt-Fetzer (2018).

Im Neuroathletiktraining werden gezielt die Bereiche des „alten“ Gehirns (Stammhirn, Kleinhirn, limbisches System) angesprochen, um die Funktionalität dieses Bereiches zu verbessern. Wenn die alten Input-Verarbeitungsstrukturen besser arbeiten, dann hat das -aufgrund des Aktivierungsverlaufs (siehe Bild oben) – positive Wirkung auf das „neue Gehirn“ (Kortex). 

Eine Kombination aus Neuroathletik und Sportpsychologie

Im Fokus der Sportpsychologie stehen meist die vorderen Hirnareale (Kortex), wo kognitive Prozesse wie Wille, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen oder Vorstellungskraft reguliert werden. All diese Prozesse sind für den Athleten leichter verfügbar, wenn die entsprechenden Hirnareale besser funktionieren (Schmid-Fetzer, 2018). Neuroathletiktraining nutzt starke, positive Stimuli, um die Aktivität bestimmter Hirnareale hochzufahren, so dass der darauffolgende Reiz – das eigentliche Training – besser integriert werden kann. Neuroathletiktraining könnte demnach für das sportpsychologische Training eine gute Vorarbeit leisten, indem es – ausgehend vom neuronalen Profil des Athleten – die Funktionen genau der Systeme optimiert, mit denen wir arbeiten.

Praxisbeispiel Bewegungsvorstellung: Die Bewegungsvorstellung wird von vielen Sportlern genutzt und hat durch die einfache praktische Anwendung großes Potential. Die optimale Vorstellung von Bewegungsabfolgen und -abläufen (Rennrunden, Streckenprofil) sowie deren innerliche Simulierung ist jedoch auch abhängig davon, wie gut die bewegungssteuernden Systeme und die involvierten Hirnareale aktuell funktionieren. Wie gut funktionieren die Systeme, mit denen der Sportler sich, seine Bewegung und seine Umgebung wahrnimmt? Wie gut arbeiten die neuronalen Kerne, die seine Wirbelsäule stabilisieren? Und wie präzise kann das Kleinhirn seine Bewegung steuern? Liefern beide Gleichgewichtsorgane eine gute Orientierung im Raum? Aspekte wie die Körperhaltung, Umgebung oder Geschwindigkeit kennzeichnen die individuelle Bewegungsvorstellung und sind Grundlage für das mentale Training. Mit Blick auf das Verständnis des neuroathletischen Ansatzes, ist es vor dem Bewegungsvorstellungstraining doch wichtig zu wissen, wie der Status Quo der Systeme des Sportlers ist. Mit dem Wissen über das individuelle neuronale Profil des Sportlers könnten auch sportpsychologische Trainingsmethoden gezielter und effektiver angewendet werden.

Neuroathletik bei den Olympischen Spielen

Lars Lienhard berichtet mir im Interview von folgender Situation mit Tatjana Hüfner (Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Rennrodeln) in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi: Während der Visualisierung der Rennstrecke hatte sie Probleme mit den Linkskurven und ihr Körper baute während der Visualisierung starke Spannungen auf. Durch eine anschließende Aktivierung des linken Gleichgewichts und Übungen zum peripheren Sehen konnte das ideomotorische Systemproblem gelöst werden und die Vorstellung von ihren Bewegungen sowie der Rennstrecke war deutlich verbessert. Mit einem defizitären Gleichgewicht auf der linken Seite hat der Sportler auch eine Bewegungsvorstellung mit einem defizitären linken Gleichgewicht, so Lienhard. Rhythmus, Kulisse und Bewegungsabläufe sind nicht optimal. Aktiviere ich über Reize die Hirnareale die bei der Bewegungsvorstellung beteiligt sind, bekomme der Sportler ein viel klareres bewegungsvorstellendes Bild. 

Die Aktivierung der Hirnareale, die der Sportler für das Training braucht, spielt eine wesentliche Rolle. Damit erweitert Neuroathletiktraining das Spektrum für Sportler enorm und bietet eine neue Perspektive auf ein ganzheitliches Training. Bewegungen zu optimieren, zu steuern und zu kontrollieren sind gemeinsame Ziele der Neuroathletik und der Sportpsychologie. Wissenschaftliche Befunde zum Neuroathletiktraining liegen aktuell nicht vor, da das Nervensystem eines Sportlers so individuell wie ein Fingerabdruck ist. Die Liste namhafter Sportler und Sportlerinnen, die auf Neuroathletik vertrauen, ist beachtlich. Es wird also Zeit, sich mit Neuroathletik und den neuronalen Prozessen genauer zu beschäftigen. Durch das Zusammenspiel aus Neuroathletiktraining und Sportpsychologie können die praktischen Methoden individualisiert und so effektiver werden – mehr als nur eine Gelegenheit für eine enge Zusammenarbeit der zwei Felder. 

#Neuroathletik

Katja Kramarczyk und Dr. Fabio Richlan sind sich einig: Es lohnt sich, aus sportpsychologischer Perspektive das Thema Neuroathletik zu beleuchten. In ihrem Schwerpunkt erklären sie, was sich hinter dem Modewort verbirgt. Zeigen auf, was Trainer, Betreuer, Eltern und Sportpsychologen über neurowissenschaftliche Grundlagen wissen sollten. Und lassen einen der Köpfe der Neuroathletik-Szene zu Wort kommen.

Lars Lienhard: Neuroathletik: Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst

Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern

Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen

ZDF-Beitrag: Neuro-Athletik – Training von Gehirn und Sinnen (Link)

Zu den Autoren: Katja Kramarczyk, Dr. Fabio Richlan

Literatur:

Schmid-Fetzer, U. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag. 

Lienhard, L. (2019). Training beginnt im Gehirn. Mit Neuroathletik die sportliche Leistung verbessern. München: riva Verlag. 

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Johannes Wunder: Flow in Sport und Business – kein zufälliger Zustand

Gerade im Ausdauersport sprechen wir immer wieder von Flow. Doch die Frage stellt sich, was ist Flow überhaupt? Und gibt es Flow nur im Sport oder auch im Business und Alltagsleben? Der freie Wissenschaftler und Coach Dr. Simon Sirch und ich haben uns vor einigen Wochen in Nürnberg getroffen, um genau diese Fragen zu beantworten. Dabei herausgekommen ist eine mehrteilige Videoserie, welche tiefe Einblicke in das Flow-Erleben gibt. Nachfolgend möchte ich auf einige Teilbereiche kurz eingehen. Die entsprechenden Videos und Mitschnitte sind natürlich auch verlinkt.

Zum Thema: Flow-Erleben in Sport und Business

Natürliche Bewusstseinszustände (Quelle: Dr. Simon Sirch)

Flow ist ein wissenschaftliches Phänomen welches messbar ist und sich im Bereich von 8-12 Herz der durchschnittlichen Gehirnfrequenz abspielt (Hornig, 2013). Das bedeutet, das für ein Flow-Erleben ein Aktivitätslevel notwendig ist, welches weder zu stark noch zu schwach ist. 

Abgesehen von der rein physischen Ebene, gibt es aber auch einige Merkmale, die sich mental wiederfinden lassen. Die drei Hauptkriterien zur Steigerung des Flow-Zustands sind:

  1. Voller Fokus im Hier und Jetzt
  2. Eine innige Verbindung mit der Tätigkeit
  3. Selbstwirksamkeit beim Tun

Sind alle drei Kriterien erfüllt, wird ein Flow-Erleben sehr wahrscheinlich. Klar ist auch: Bin ich in der Lage, die Kriterien willentlich zu beeinflussen, kann ich somit auch willentlich Flow-Momente herstellen. 

Der Weg zum „Hier und Jetzt“

Viele Athleten reden von Fokus und auch vom im „Hier und Jetzt“ sein. Doch immer wieder sind einige Sportler nicht in der Lage, diesen Zustand herzustellen. Ein Kernelement, welches direkte Auswirkungen auf dieses Kriterium hat, ist das Training der Achtsamkeit in Form von Übungen, wie zum Beispiel Meditation. Hier geht es vor allem darum, regelmäßig den Fokus herzustellen, zu bündeln und zu trainieren. Was in Ruhe praktiziert wird, kann Stück für Stück auch in den Alltag und schlussendlich in Wettkampfsituationen angewandt werden. Weitere interessante Beispiele haben wir in unserem Interview besprochen.

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Resonanz und Selbstwirksamkeit

Wie sieht es hingegen mit dem zweiten Kriterium für Flow aus? Bei Sportlern ist die eigentliche Tätigkeit natürlich das Sporttreiben als solches – so weit, so klar. Doch wie schafft man es, hierzu eine innige Verbindung herzustellen? Das Stichwort ist Resonanz. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa hat die Hintergründe von Resonanzbeziehungen hinreichend erforscht. Diese Verbindung zur Tätigkeit entsteht natürlich nicht immer von allein, auch hier können einige Tricks helfen. Ein sportliches Ziel und die Aufteilung in Teilziele macht es der Resonanz einfacher „vorbeizuschauen“. Aber nicht nur Ziele, sondern auch eine Vision generell – ob nun sportlich, privat oder persönlich. Wenn ich mir im Klaren bin, wo es hingehen soll, fällt die Motivation leichter und die Verbindung wird intensiver. Ähnliches natürlich auch im Mannschaftssport. Wenn jedes Teammitglied weiß, wofür es in der Halle oder auf dem Platz steht, wird das Flow-Erleben auch im Team wahrscheinlich.

Der dritte Punkt Selbstwirksamkeit kann hier wortwörtlich genommen werden. Es geht darum, mit seinem eigenen Tun wirksam zu sein. Sich selbst, wirksam zu erleben. Sportler müssen also in der Lage sein, ihr eigenes Tun zu beobachten, die resultierenden Wirkungen zu registrieren und entsprechend einzuordnen. Nicht umsonst, erleben viele Menschen in der Kunst unheimliche Selbstwirksamkeit: Das Ergebnis ist sofort sichtbar! Bei Sportlern ist das durch die einseitige Zielfokussierung nicht immer beobachtbar. Nehmen wir eine gewünschte Top-Platzierung bei einem Wettkampf als Ziel. Viele Athleten haben auf dem Weg dorthin nur das Endziel im Blick und sind nicht in der Lage, die Teilschritte so zu registrieren, dass auch hier Motivation und Energie gezogen wird. Neben der Tatsache, dass der unheimliche Zeitaufwand des Trainings bis zur Zielerreichung ungeachtet bleibt, wird es an einem Punkt kritisch: Was passiert, wenn das Ziel nicht erreicht wird, und währenddessen keine Selbstwirksamkeit erlebt wurde?

Parallelen zwischen Sport und Business

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Simon Sirch und ich sprechen auch über die Parallelen zum Business. Denn auch hier herrscht eine große Zielfokussierung vor. Themen wie Resonanz und Achtsamkeit finden bei vielen Unternehmern keinen Platz im Alltag, können aber unheimlich hilfreich sein.

Denn eines ist in Sport und Business definitiv gleich: Die Akteure sind so genannte High-Performer. Es geht häufig nur um die Leistung, und diese muss auf den Punkt erbracht werden können. Für eine gesunde und nachhaltige Zielerreichung, aber auch generell Arbeitswelt sind Themen wie Flow deshalb von großer Bedeutung.

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/12/19/jan-d-deneke-surfen-die-essenz-vom-hier-und-jetzt/

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/04/09/mila-hanke-zielsetzung-vor-und-nach-grossen-erfolgen/

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/09/01/thorsten-loch-leistungsabfall-unter-druck/

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Jürgen Walter: Umgang mit Restrisiko

In führenden Unternehmen der deutschen Wirtschaft gilt in Sachen Sicherheit oft folgender Grundsatz: „Keine Arbeit kann so eilig und so wichtig sein, dass man sie nicht auch sicher ausüben kann. Das heißt: Wir arbeiten sicher oder wir arbeiten nicht- im Zweifelsfall hat Sicherheit Vorrang“. Sollte dieser Grundsatz nicht auch im Sport gelten? Kann der sportliche Erfolg so wichtig sein, dass Athleten*innen dafür ihre Gesundheit eventuell sogar ihr Leben opfert? In jüngerer Vergangenheit trugen gleich mehrere Sportarten Trauer.

Zum Thema: Wie Sportler lernen können, das Restrisiko zu kalkulieren, um mit dem Ergebnis arbeiten

Zuletzt hat es Todesfälle im Radsport (Bjorg Lambrecht) und im Boxen gegeben (Maxim Dadaschew, Hugo Alfredo). Lambert stürzte auf der 3. Etappe der 76. Polen- Rundfahrt, eingeleitete Reanimationsversuche blieben erfolglos. Aufgrund widriger Wetterbedingungen kam es zu einigen Stürzen, der des 22- jährigen Radprofis endete tödlich. 

Der Profiboxer Maxim Dadaschew erlitt während des Kampfes in Oxon Hill/USA schwere Verletzungen, sodass nach der 11. Runde der Kampf abgebrochen wurde. Trotz einer Notoperation und künstlichem Koma erlag der 28-jährige Boxer den Verletzungen. Aber ist es das wirklich wert? 

Hilfe zur Gefährdungsbeurteilung

Auch für Sportler gilt: Jeder kann sein Risiko im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung einschätzen, unter Zuhilfenahme von zwei Kriterien: 

  • 1. Wie wahrscheinlich ist der Unfall/der Gesundheitsschaden? 
  • 2. Wie schwer könnte der Unfall/die Gesundheitsschädigung sein? 

Jeder Sportler sollte hier sein Risiko abwägen. 

Im Risiko-Homöostase-Modell nach G.J.S. Wilde hängt das Eingehen des Risikos vor allem von zwei Faktoren ab. Dazu zählen der Faktor wahrgenommenes Risiko, welches aus der Informationsaufnahme über die Sportart resultiert (kognitiv) und der motivationale Faktor des angestrebten und akzeptierten Risikos. Daraus resultiert eine Entscheidung, die beide Faktoren in Einklang bringen soll. Dabei wird angenommen, dass es eine relativ konstante Risikoakzeptanz gibt. So geht man davon aus, dass erhöhte Sicherheitsmaßnahmen die Zielgröße des Risikos nicht unbedingt ändern. Schließlich können Verhaltensanpassungen (z.B. mehr Leichtsinn) als Reaktion auf sicherheitstechnische Verbesserung das Risiko gleich halten.

Mehr Infos zu Jürgen Walter: https://www.die-sportpsychologen.de/juergen-walter/

Der Einfluss von Dritten

Außerdem kommt es nicht ausschließlich auf eigenes risikoreiches Verhalten an, auch fremde Personen können einen entscheidenden Einfluss haben. Zweimalige Bahn- Olympiasiegerin Kristina Vogel prallte beim Training in Cottbus mit einem niederländischen Nachwuchsfahrer zusammen. Trotz mehrerer Operationen waren die Verletzungen so stark, dass sie nun querschnittsgelähmt ist. 

Die Formel 1 ist zuletzt von schweren Zwischenfällen verschont worden. Die Strecken sind sicherheitstechnisch optimiert worden, aber auch die Fahrer scheinen in Sachen der Beurteilung von sicherheits- und risikobewusstem und relevanten Fahrverhalten dazugelernt zu haben.

Vom Wingsuit-Fliegen bis zum Reitsport

Trotzdem zählt der Motorsport zu den gefährlichsten Sportarten der Welt, genauer gesagt: auf Rang 3. Die Liste wird angeführt vom Wingsuit-Fliegen. Die mit Abstand gefährlichste Sportart wurde bis 2013 von weltweit ungefähr nur 1000 Extremsportlern ausgeübt. Davon kamen knapp 50 ums Leben. 

Ebenso zählen Big-Wave-Surfing, Drachenfliegen, Reitsport, Tauchen, Radrennen, Klettern und viele Wintersportarten wie Ski Alpin zu sehr gefährlichen Sportarten mit hohem Verletzungsrisiko und eben auch Sterberaten.

Unterstützung

Meine Kolleg*innen (zur Übersicht) und ich (zum Profil von Jürgen Walter) helfen gern, wenn es um die Einschätzung der Gefährdungsbeurteilung geht. Sollten in dem Zusammenhang Probleme entstehen können wir im Zusammenspiel zwischen Sportlern, Trainern und Eltern effektiv helfen.

Mehr zum Thema:

Literatur:

Wilde, G. J. S. (1988). Risk homeostasis theory and traffic accidents: Propositions, deductions and discussion of dissension in recent reactions. Ergonomics, 31, 441–468. 

https://wettbonus.net/top10-die-gefaehrlichsten-sportarten-und-sportevents-der-welt/

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