(ml) Spätestens mit Beginn der Achtelfinalspiele der Fußball-Weltmeisterschaften in Brasilien bekommen es nicht wenige Spieler mit der blanken Angst zu tun. Genauer mit der Angst vor dem Versagen im Elfmeterschießen. Dabei wären – bis auf handverlesene Ausnahmen – die meisten der 736 für die WM nominierten Kicker motorisch zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Lage, den Ball vom Strafstoßpunkt an einer Stelle im Tor zu platzieren, die kein Torhüter der Welt verteidigen kann.
Faktisch kommt es aber immer wieder, wenn über den großen Triumph oder die bittere Niederlage in per Elfmeter entschieden wird, zu individuellen oder sogar kollektiven Systemabstürzen. Die Engländer, inzwischen fast bekannter für klägliches Scheitern im Elfmeterschießen (1990 im Halbfinale gegen Deutschland, 1998 im Achtelfinale gegen Argentinien und 2006 im Viertelfinale gegen Portugal) denn für ihren WM-Titel 1966, arbeiten nun seit Monaten mit einem Sportpsychologen zusammen. „Es geht um Charakter, Selbstvertrauen und die Fähigkeit, die Schlagzeilen des nächsten Morgen auszublenden. Wenn ein Psychologe einen Weg aufzeigen kann, wären wir sehr, sehr glücklich“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung den englischen Trainer Roy Hodgson, der einen Weg vorgibt, den sicher noch nicht alle seiner 31 Auswahltrainer eingeschlagen haben.
Für die-sportpsychologen.de berichtet Nils Gatzmaga:
Der Kopf spielt DIE entscheidende Rolle
„Wenn Sie meinen, dass im hoch professionalisierten Fußball die Teams auf alle Eventualitäten vorbereitet sind, schauen Sie bitte diesen Ausschnitt vom Finale der Europa League 2014 zwischen dem FC Sevilla und Benfica Lissabon an.
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Nach 120 torlosen Minuten folgte im Europa League-Finale das Elfmeterschießen. Schon beim ersten Schützen Sevillas, Bacca, fiel die entschlossene und routinierte Ausführung auf: Kraftvolle, abgezählte Schritte rückwärts, eine offene, stabile Körperhaltung, ein eiskalter Blick, ein wuchtiger Anlauf und ein umso härterer und präziser Schuss ins obere Eck – 1:1, nach dem Lima zuvor Sevillas Keeper verladen hatte. Nun folgte aber der zweite Schütze von Benfica Lissabon, Cardozo. Er erschien mir ängstlich, so als ob er am liebsten wegrennen würde. Hochgezogene Augenbrauen, ein unsicherer Blick, ein leicht geneigter Kopf, alles kleine Hinweise auf einen ängstlichen Zustand. Cardoso lief an, verzögerte den Anlauf, wahrscheinlich versuchte er den Torwart „auszugucken“, der sich jedoch nicht beirren ließ. Am Ende schoss Cardozo unentschlossen und mit letzter Kraft den Ball Richtung Tor – der Keeper hielt. Schütze zwei von Sevilla, Mbia, spulte ähnlich lässig wie sein Kollege Bacca seine Routine herunter (Ball hinlegen, Tritt in den Rasen neben Ball, ruhige Schritte rückwärts, Zeit nehmen nach Pfiff des Schiris, ein kraftvoller & durchgezogener Anlauf) und traf sicher. Jetzt lastete schon viel Druck auf den dritten Schützen Sevillas, Rodrigo. Auch hier lassen sich Parallelen zur Unsicherheit Cardozos erkennen: kein Ruhe beim Platzieren des Balles, ein geneigter Kopf, ein ängstlicher Blick, auch er verzögerte den Anlauf. Seine mentale Blockade wird vor allem deutlich, wenn man sieht, wie früh sich der Keeper für die Ecke entscheidet, in die Rodrigo letztendlich schießt, ein klarer Hinweis auf angstvolle Gedanken, die den Keeper als pure Bedrohung interpretieren und automatisch als Zielobjekt anvisieren. Der Rest war eine Demonstration der Sevilla-Schützen, wie trotz des großen Drucks sicher und entschlossen Elfmeter verwandelt werden können.
Die sportpsychologische Analyse
Das Beispiel aus der Europa League verdeutlicht sehr schön, dass mentale Stärke beim Elfmeterschießen nichts Gottgegebenes ist, sondern durchaus trainierbar und erlernbar ist. Im Folgenden möchte ich auf vier Aspekte des Elfmeterschießens eingehen, die eine zentrale Rolle spielen: Körpersprache & Mimik, Gedanken, Routinen und Training.
Körpersprache & Mimik: Im obigen Beispiel wird schnell offensichtlich, wie entscheidend die Körpersprache für unsere mentale Verfassung ist. Es gilt: Unser Geist und beeinflusst unseren Körper UND unser Körper beeinflusst unseren Geist.
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Umso wichtiger ist es, bewusst eine dominante Körpersprache zu wählen, die sogenannten High Power-Poses, wie z.B.: Schulterbreiter Stand, aufrechter Kopf, Brust raus, Arme vom Körper leicht gespreizt. Dadurch wird sogar Testosteron ausgeschüttet, das uns dominant, stark und kräftig fühlen lässt. Positiver Nebeneffekt: Wir schüchtern unsere Gegenspieler durch dominante Posen ein.
Gedanken: Unser Geist beeinflusst unseren Körper. Konkret sind es die störenden Gedanken/Bilder, die in Drucksituationen uns leicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken können. Typisch sind Gedanken an die Konsequenzen eines Fehlschusses oder Treffers. Auf jeden Fall Gedanken/Bilder, die sich nicht mit der Ausführung und dem Schussziel beschäftigen. Dabei ist die Lösung so einfach: Durch Konditionierung/Eintrainieren spezieller positiver Gedanken/Bilder im Vorfeld steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Aufgabe lenken und verhindern damit, dass uns negative Gedanken ablenken. Eine schöne Anleitung zum Eintrainieren positiver Gedanken und Bilder verschafft uns Kai Engbert et al. in seinem Buch „Mentales Training im Leistungssport“.
Literaturtipp: Mentales Training im Leistungssport – Ein Übungsbuch für den Schüler- und Jugendbereich (Link zum Buch)
Zudem beschreibt Ruud Vreuls in seinem Die-Sportpsychologen-Artikel „Stress bei Nachwuchsspielern“ (Link zum Text) den Einsatz von Selbstgesprächstechniken von Leistungssportlern.
(Leistungs-)Routinen: Weigelt und Steggemann (2013) verstehen darunter mentale, körperliche und handlungsbezogene Vorbereitungsstrategien, wie wir unsere Ausführung einer sportlichen Handlung mit einzelnen Handlungsschritten vorbereiten und funktionale Gedanken einstudieren können, die unsere Handlung begleiten. Dadurch lassen sich unsere Gedanken im Sinne der Aufgabe strukturieren, wir bekommen unsere Emotionen (Angst!!) besser „in den Griff“, unsere Aufmerksamkeit fokussiert sich auf das „Hier und Jetzt“ und es fällt uns leichter, auf aufgabenrelevante Hinweise zu achten (z.B. frühe Bewegungen des Torwarts in eine Ecke). Jeder Spieler kann im Training seine eigene Leistungsroutine einstudieren, die im Idealfall Elemente der Körpersprache, der Gedankenkontrolle und konkrete Handlungsschritte vereint (siehe Sevilla-Spieler).
Training: Solche Leistungsroutinen müssen regelmäßig und unter Druckbedingungen trainiert werden. Idealerweise kombiniert man das „trockene“ Training auf der Couch (Vorstellungstraining, Selbstgesprächsregulation) mit dem Training auf dem Platz. Wichtig hierbei ist es, Druckbedingungen zu kreieren, um störende Gedanken zu provozieren. Natürlich kann die Situation eines realen Elfmeterschießens in einem WM-Finale nie in ihrer ganzen Intensität im Training simuliert werden. ABER: Im Training geht es darum zu lernen, mit negativen Gedanken und seiner Angst umzugehen. Wer so etwas frühzeitig und variabel trainiert, erhöht ganz einfach die Wahrscheinlichkeit, dass er seine stabile Leistungsroutine im Wettkampf abrufen kann. Mögliche Störquellen sind visuelle Störreize (z.B. „Hampelmänner hinter dem Tor“), akustische Störreize (Namen/Beleidigungen rufen, laute Musik) und Handlungsstörungen (z.B. Ausführung verzögern). Im Idealfall wird die Druckintensität noch durch den Wettbewerbscharakter und durch positive bzw. negative Konsequenzen verschärft (z.B. Materialdienst für eine Woche).
Elfmeterschießen ist mental trainierbar
Letztendlich bleibt festzuhalten, dass Elfmeterschießen bei weitem keine Glückssache ist. Vielmehr kann Elfmeterschießen planvoll vorbereitet und mental trainiert werden. Der Berliner Sportpsychologe Georg Froese hat meiner seiner Doktorarbeit zum Thema “Sportpsychologische Einflussfaktoren der Leistung von Elfmeterschützen” sogar den DFB-Wissenschaftspreis gewonnen. Ich bin mir sicher, dass unsere deutschen Spieler optimal auf ein mögliches Elfmeterschießen von dem Sportpsychologen der deutschen Nationalmannschaft, Hans Dieter Herrmann, eingestellt sein werden. Schauen wir mal, wie die Engländer sich dieses Mal schlagen. Ein direktes Aufeinandertreffen zwischen Deutschland und England ist erst im WM-Halbfinale möglich.
Literaturquellen:
Engbert, K., Droste, A., Werts, T., Zier, E., (2011). Mentales Training im Leistungssport. Ein Übungsbuch für den Schüler- und Jugendbereich. Stuttgart: Neuer Sportverlag. Weigelt, M. & Steggemann, Y. (2013). Training von Routinen im Sport. In K. Zentgraf & J. Munzert (Hrsg.), Kognitives Training im Sport. Göttingen: Hogrefe Verlag.
Zum Autor:
Nils Gatzmaga ist Absolvent des Master-Studienganges Angewandte Sportpsychologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und promoviert an der Universität Paderborn. Er forscht im Umfeld des Bundesliga-Aufsteigers SC Paderborn zu einem Beratungs- und Betreuungskonzept im Fußball-Nachwuchsbereich.
Zum Profil von Nils Gatzmaga auf Die-Sportpsychologen
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