Nachwuchsleistungszentren: Das NLZ als Kern des Problems oder Teil der Lösung?

Keine Abstiegsgefahr mehr in den Junioren-Bundesligen, NLZ-Kicker als Oasenbewohner und demgegenüber die Idee, junge Spieler viel länger in den Heimatvereinen zu lassen. Janosch Daul und Prof. Dr. René Paasch von Die Sportpsychologen diskutieren aktuelle Fragen zum Nachwuchsleistungsfußball. 

In den Junioren-Bundesligen soll ab der Saison 2024/2025 für die Teams der NLZ-Vereine kein Abstieg mehr möglich sein. Damit soll verhindert werden, dass in den oberen Jugendbereichen Ergebnisfußball gespielt wird. Welche Gefahren seht ihr allerdings, wenn Spieler im Jugendfußball nicht mehr lernen, unter Druck Leistung zu bringen?

Janosch Daul

Antwort von: Janosch Daul (zum Profil)

Ich glaube nicht, dass die Reform – so, wie sie aktuell angedacht ist –  der Weisheits letzter Schluss ist. Warum sollte sich allein durch das Abschaffen von Auf- und Abstiegsmöglichkeiten gravierend etwas am Ergebnisdenken und dem darauf ausgerichteten Handeln der Führungskräfte und TrainerInnen ändern?

Erst einmal die Fakten: Die DFB-Nachwuchsliga soll in zwei Phasen aufgeteilt werden. Zunächst werden in regionalen Staffeln jeweils die Top 3 ausgespielt, die sich für die Liga A der Hauptrunde qualifizieren. Alle anderen Teams spielen stattdessen in der Liga B. Der Deutsche Meister wird in Liga A in Form einer Endrunde ausgespielt.

Das einfachste (und am besten zu begründende) Kriterium für Führungskräfte, um Trainerleistung zu bewerten, ist und bleibt das nackte Ergebnis. Auch weiterhin. Somit besteht, allein, um den eigenen Arbeitsplatz zu sichern, weiterhin ein hoher Druck für TrainerInnen, Ergebnisse zu liefern. Der Trainer wird zukünftig in die Top 3 kommen wollen (oder müssen?), sich also für Liga A qualifizieren wollen (müssen?), eine gute Endplatzierung erreichen (müssen?) und letztlich Deutscher Meister werden wollen (müssen?). Dieser selbst oder von außen erzeugte Druck wird auch weiterhin auf diejenigen projiziert werden, die für die Trainer die Kastanien aus dem Feuer holen müssen, nämlich die Protagonisten auf dem Platz, die SpielerInnen. Wichtig wäre vielmehr zu überlegen, wie der Verband im Zusammenspiel mit den Vereinen finanzielle Anreizstrukturen entwickeln kann, die sich deutlich unabhängiger von der Altersklasse der zu trainierenden SpielerInnen gestalten. Denn aktuell besteht ein großes Bedürfnis vieler TrainerInnen danach, durch Ergebniserfolg schnellstmöglich die eigene Karriereleiter – und Finanzleiter – aufzusteigen. Der U16-Trainer will die U17 trainieren und der U17-Trainer die U19. Zugleich braucht es Führungskräfte in verantwortlicher Position, die wirklich glaubhaft die individuelle Weiterentwicklung der SpielerInnen in den Mittelpunkt ihrer Ausbildungsphilosophie stellen und infolgedessen somit auch die Leistung der TrainerInnen anhand dessen bewerten.

Antwort von: Prof. Dr. René Paasch (zum Profil)

Die vermeintliche Strategie, den Teams der Nachwuchsleistungszentren (NLZ) in den Junioren-Bundesligen den Pfad des Abstiegs zu versperren, mag auf den ersten Blick wie eine Innovation und im besten Falle zeitgemäß erscheinen. Doch aus der Sicht der Sportpsychologie ergeben sich einige Gefahren:

  • Defizite in der Bewältigung von Drucksituationen: Der Leistungssport, wozu der Jugendfußball zählt, ist oftmals durch drängende Erwartungen und intensiven Wettbewerb gekennzeichnet. Hierbei erwerben Athleten die Fähigkeit, unter Druck ihre Fertigkeiten zu entfalten. Indem der Abstiegsdruck eliminiert wird, könnten aufkeimende Talente möglicherweise nicht die erforderlichen Kompetenzen entwickeln, um Stress und Druck zu bewältigen. Diese Lücke könnte sich in ihrer späteren Karriere im Profifußball oder sogar in anderen Lebensbereichen als Hemmnis erweisen. 
  • Beschränkte Motivation zur Leistungssteigerung: Wettbewerb und die Möglichkeit eines Abstiegs fungieren oft als Antrieb für Spieler, sich kontinuierlich zu steigern und das Maximum ihrer Fähigkeiten zu erreichen. Wenn diese Anreize schwinden, könnte die Motivation der Spieler zur persönlichen Weiterentwicklung abnehmen, da ihnen bereits ein “sicherer” Platz in der Liga gewährt wird. 
  • Entwicklung in einer unrealistischen Umgebung: Der Übergang von der Jugend- zur Profifußballszene erfordert nicht nur fußballerische Fertigkeiten, sondern auch eine widerstandsfähige mentale Verfassung. Wenn Spieler nicht erlernen, wie es ist, in einer umkämpften Liga zu agieren und mit Siegen und Niederlagen umzugehen, könnten sie später Schwierigkeiten haben, sich den Ansprüchen des Profifußballs anzupassen. 
  • Unzureichende Entwicklung von Widerstandsfähigkeit (Resilienz): Robustheit (Resilienz) ist im Sport und im Leben von essenzieller Bedeutung. Spieler, die nie wirklich gelernt haben, mit Rückschlägen umzugehen, könnten anfälliger für Entmutigung und mangelnde Belastbarkeit sein, wenn sie in ihrer Karriere auf Hindernisse stoßen. 
  • Risiko der Selbstgefälligkeit: Wenn Spieler frühzeitig den Eindruck gewinnen, dass ihnen jeglicher Abstieg erspart bleibt, könnte dies zu einer Haltung der Selbstgefälligkeit führen. Diese Geisteshaltung könnte die Entwicklung eines starken Arbeitsethos und des ständigen Strebens nach Verbesserung hemmen. 

In der umfassenden Perspektive wird offenkundig, dass das Fehlen der Abstiegsoption in den Junioren-Bundesligen zwar einige mögliche Vorzüge mit sich bringt, doch gleichzeitig erhebliche Risiken für die mentale und persönliche Entwicklung aufstrebender Spieler in sich birgt. Eine ausgewogene Herangehensweise, die Wettbewerb und Entwicklung in Einklang bringt, könnte sich als eine bessere Lösung erweisen, um die heranwachsenden Talente auf eine erfolgreiche Laufbahn im Profifußball oder im Leben vorzubereiten. 

Wozu führt es, wenn Spielern in den NLZ-Clubs zu viel abgenommen wird? Im Kicker sprach der sportliche Leiter des DFB, Joti Chatzialexiou, dass die Talente in Oasen lebten.

Antwort von: Janosch Daul (zum Profil)

Zunächst einmal würde ich nicht alle NLZs grundsätzlich über einen Kamm scheren. Aber keine Frage: Wir alle schreien regelrecht nach mündigen, eigenverantwortlich denkenden und handelnden Spielern. Und wenn wir mit solchen Spielern arbeiten wollen, so müssen wir Verantwortliche die Spieler gezielt dabei unterstützen, sich zu solchen zu entwickeln. 

Und ich gehe sogar so weit zu sagen: Es ist unser pädagogischer Auftrag, die Spieler maximal dabei zu unterstützen, Profis fürs Leben zu werden! Also ihnen zu helfen, Fähigkeiten zu entwickeln und Werte zu vermitteln, die es braucht, um auch außerhalb der Blase Fußball ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Für uns als diejenigen, die eng mit den Spielern arbeiten, darf es nicht darum gehen, ihnen diese Tätigkeiten abzunehmen, sondern sie gezielt dabei zu unterstützen, diese selbstverantwortlich anzugehen und umzusetzen, indem wir – z.B. durch das Stellen von Fragen – gezielt zur Selbstreflexion anregen und ihnen helfen, adäquate Lösungen zu entwickeln. Auf dem Feld müssen sie schließlich auch passende Entscheidungen treffen!

Mal angenommen, ein Team möchte in der Vorbereitung gemeinsam Mittag essen: Warum also nicht – statt das Essen einfach liefern zu lassen – die Spieler die Mahlzeit mal planen, die Zutaten einkaufen und anschließend das Essen selbst – mit tatkräftiger Unterstützung der Verantwortlichen als Role Models – zubereiten lassen?

Prof. Dr. René Paasch

Antwort von: Prof. Dr. René Paasch (zum Profil)

Wichtig ist anzuerkennen, dass eine zu starke Einmischung in das Leben junger Spieler in den NLZ-Clubs potenziell negative Folgen haben kann. Individuelle Autonomie und persönliches Wachstum sind essentiell für die Entwicklung von Selbstvertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Charakterstärke. Wenn den Spielern jede Entscheidung abgenommen wird, könnten sie Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Fähigkeiten zur Problemlösung zu entwickeln und sich als eigenständige Personen zu entfalten. 

In sportpsychologischer Hinsicht könnte eine solche Umgebung dazu führen, dass die Spieler abhängig von äußerer Führung und ständiger Bestätigung werden. Dies kann zu einem fragilen Selbstwertgefühl führen, das stark von äußeren Erfolgen und Anerkennung abhängt. Wenn diese jungen Talente ausschließlich in einer geschützten “Oase” leben, könnten sie Schwierigkeiten haben, mit den Herausforderungen des echten Lebens und des professionellen Fußballs umzugehen, sobald sie das Schutzschild der NLZ verlassen. Die Metapher der “Oase” lässt auch Raum für die Überlegung, ob diese Spieler ausreichend Möglichkeiten zur intellektuellen, emotionalen und sozialen Entwicklung erhalten? Eine einseitige Fokussierung auf den Fußball kann dazu führen, dass andere wichtige Aspekte des Lebens vernachlässigt werden. Eine umfassende Bildung und die Förderung von Interessen außerhalb des Fußballs sind unerlässlich, um vielschichtige Persönlichkeiten zu formen, die in der Lage sind, sich flexibel an verschiedene Situationen anzupassen. 

Insgesamt erfordert die Frage nach den Konsequenzen, wenn Spielern in den NLZ-Clubs alles abgenommen wird, eine differenzierte Herangehensweise. Es ist unerlässlich, eine Balance zu finden zwischen Förderung sportlicher Leistungsfähigkeit und der Entwicklung von eigenverantwortlichen, resilienten Individuen. Das Ziel sollte darin bestehen, eine Umgebung zu schaffen, in der junge Talente nicht nur ihre fußballerischen Fähigkeiten, sondern auch ihre Persönlichkeit, soziale Kompetenzen und intellektuellen Interessen entfalten können. 

Auch wir bei Die Sportpsychologen haben schon vor Jahren angeregt, dass es sinnvoll sein kann, bis in die späte Jugend als Talent bei seinem Heimatverein oder in seiner Heimatregion zu bleiben. Welche Argumente gibt es dafür? Oder wie müsste sich das NLZ-Umfeld punktuell ändern, um Fußballtalente besser auf das Profi-Geschäft vorzubereiten?

Antwort von: Prof. Dr. René Paasch (zum Profil)

Der Ansatz, dass es sinnvoll sein kann, bis in die späte Jugend bei seinem Heimatverein oder in seiner Heimatregion zu bleiben, steht im Kontrast zur gängigen Praxis des frühen Wechsels junger Talente zu größeren Clubs. Argumentiert wird oft, dass eine längere Verweildauer in der Heimatregion oder dem Heimatverein den jungen Spielern eine stabilere soziale Umgebung bietet. Diese Vertrautheit kann dazu beitragen, psychische Belastungen zu reduzieren, die aus einem abrupten Wechsel zu einem NLZ resultieren könnten. Auch die emotionale Bindung an das Team, die Fans und die lokale Identität könnten die Motivation und das Wohlbefinden der Spieler positiv beeinflussen. Ein weiteres Argument ist die kontinuierliche individuelle Betreuung und Entwicklung. In größeren Clubs konzentriert sich die Aufmerksamkeit oft auf die vielversprechendsten Talente, während in einem regionalen Umfeld die Möglichkeit besteht, gezielter auf die Bedürfnisse jedes Spielers einzugehen. Dieser persönliche Ansatz könnte eine gesündere Balance zwischen sportlichem Druck und psychischem Wohlbefinden schaffen, indem er den jungen Spielern ermöglicht, sich in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln. 

Dennoch darf nicht übersehen werden, dass der Schritt zu einem professionellen Club auch Vorteile bietet. Ein NLZ mit erfahrenen Trainern, moderner Ausrüstung und einem höheren spielerischen Niveau kann die technische und taktische Entwicklung der Talente beschleunigen. Der Wettbewerb auf einem höheren Level kann dazu beitragen, die Spieler aus ihrer Komfortzone herauszufordern und ihre Grenzen zu erweitern. Dies kann wiederum die Fähigkeit zur Bewältigung von Stress und Druck stärken, was im Profifußball von entscheidender Bedeutung ist. 

Um Fußballtalente besser auf das Profi-Geschäft vorzubereiten, müsste aus meiner Sicht das NLZ-Umfeld einige Anpassungen vornehmen:

  • Erstens sollte eine ganzheitliche Ausbildung angestrebt werden, die sowohl sportliche als auch psychologische Aspekte umfasst. Die Schulung mentaler Stärke, Stressbewältigung und sozialer Kompetenzen sollte genauso prioritär sein wie das Training auf dem Spielfeld. 
  • Zweitens sollte das NLZ die Bedeutung individueller Unterschiede anerkennen. Nicht alle Spieler entwickeln sich im gleichen Tempo oder haben die gleichen Ziele. Eine flexible Ausbildungsstrategie, die Raum für persönliche Entwicklung lässt, ist unabdingbar. 
  • Drittens sollte das Umfeld so gestaltet sein, dass es einen gesunden Wettbewerbsgeist fördert, ohne exzessiven Druck auszuüben. Ein unterstützendes soziales Netzwerk, das Familie, Trainer und Freunde einschließt, kann dazu beitragen, den emotionalen Stress zu minimieren. 

Letztlich geht es darum, eine ausgewogene Balance zwischen regionaler Verbundenheit und professioneller Entwicklung zu finden. Ein umfassenderer Ansatz, der die psychologischen Aspekte der Spielerentwicklung berücksichtigt, könnte dazu beitragen, Talente besser auf die Anforderungen des Profifußballs vorzubereiten. 

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de