Dr. René Paasch: Wir müssen die NLZ-Kicker aus den Zwangsjacken befreien

Nach der sehr erfolgreichen Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien vor gut vier Jahren beneidete uns die ganze Welt. Allen voran das 2002 ins Leben gerufene DFB-Stützpunkt-Konzept wurde von vielen Experten als eine der entscheidenden Grundlagen für den WM-Titel der Nationalmannschaft im Sommer 2014 gesehen. Nach dem Ausscheiden in Russland im vergangenen Sommer ist die Euphorie bezüglich der geschaffenen Strukturen verflogen. Der deutsche Fußball, so lautet vielfach der Vorwurf, hat die Entwicklung verschlafen. Welchen Beitrag kann nun die Sportpsychologie für die Erfolge von übermorgen leisten?

Zum Thema: Sportpsychologie im Nachwuchsfußball  

Aus meiner Sicht sind die Nachwuchsleistungszentren zu einem zentralen Teil des Problems geworden. Denn Trainer, Sportliche Leiter und Stützpunkttrainer bekommen inzwischen alles vom DFB und der Vereinsführung diktiert. Die ausführenden Personen haben kaum noch Freiheiten. Hinzu kommt, aus meiner Sicht, dass die Sportpsychologie vielerorts nur geduldet wird.

Trainer und Übungsleiter bekommen Trainingspläne, die für jeden Tag bis ins kleinste Detail vorschreiben, was trainiert werden muss. Von Persönlichkeitsentwicklung, Charakterstärkung und Individualisierung ist kaum was zu erkennen. Viele Trainer und Sportpsychologen sind inzwischen damit sehr unzufrieden. Denn so wird uns die Möglichkeit genommen, jeden Spieler individuell und ganzheitlich zu fördern. Vor vielen Jahren hat man den Trainern noch geglaubt, ob alle beim Training waren oder nicht und was gemacht wurde. Inzwischen müssen sie alles dokumentieren, jede Trainingseinheit festhalten und entsprechend bewerten.

Die aktuelle Rolle der Sportpsychologie

Auch mit der Einführung der Sportpsychologie ist zwar ein wichtiger Schritt vollzogen worden, doch eine wirkliche ernsthafte Absicht lässt sich dabei nicht erkennen. Eine oder zwei Personen – wie es nicht selten in Nachwuchsleistungszentren der Fall ist – können nicht alle Nachwuchsmannschaften umfangreich sportpsychologisch betreuen. Man hat das Gefühl, dass wir nur Mittel zum Zweck im Zuge der gewünschten Zertifizierung sind.

Wir Trainer und Sportpsychologen haben mehr Arbeit mit der Datenbank und Problemgesprächen als mit dem Training zur Leistungsoptimierung auf dem Platz selbst. Und die Kinder und Jugendliche sind heute total gläsern, damit sie nicht von der Norm abweichen. Wollen wir das wirklich? Ist der deutsche Nachwuchs wirklich eine einheitliche und formbare Masse? Alles wird in Kategorien gepresst, die Spieler in Zwangsjacken gesteckt, anstatt die Talente laufen zu lassen und ihre Individualität zu fördern. Wir bilden Sechser, Achter, Innenverteidiger aus, aber der Mittelstürmer und das Mentale Training und Coaching kommt in den Trainingsprogrammen der NLZ`s und des Deutschen Fußball-Bundes schlicht und einfach nicht vor. In schriftlicher Form ja, jedoch kaum in der Praxis. Daran müssen wir dringend etwas ändern.

Zum Profil von Dr. René Paasch: https://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Dem Sittenverfall entgegen

Andere Länder haben erkannt, dass man ganzheitliche Spielertypen entwickeln muss. Ebenso wie gute Standards, um tiefstehende Ketten zu knacken. Auch unser Bundestrainer Joachim Löw äußert sich kritisch beim Amateurfußball-Kongress in Kassel über das Verhalten vieler Bundesliga-Spieler. Mit unfairem Auftreten seien sie schlechte Vorbilder für Kinder und Amateure. Er forderte mehr Respekt für Schiedsrichterentscheidungen. Er sprach von „Sittenverfall“ und „ständiger Rudelbildung, Schwalben, Simulanten“. Dies und weitere Beispiele zeigen, dass wir mehr in den Charakter der Spieler investieren müssen.

Natürlich dürfen wir jetzt nicht den Fehler machen, alles in Frage zu stellen und die Entwicklung bei den anderen zu kopieren. Dann laufen wir nur hinterher. Wir haben es versäumt, über den Tellerrand zu blicken und zu schauen, was andere Länder anders machen, um eine wirksame Antwort auf den Fußball zu finden.

Sportpsychologie als Teil der Antwort

Gehen wir davon aus, dass es in den Nachwuchsleistungszentren nun viel stärker um eine ganzheitliche und nachhaltige Entwicklung unserer Jugendspieler gehen würde. Dass die Spieler, von denen aktuell ja nur etwa jeder 30. den Sprung aus einem NLZ zu einem Profi-Verein schafft, gleichermaßen auf die Anforderungen im Fußball und auch im Leben vorbereitet werden. Wo lege dann die Aufgabe der Sportpsychologie? Was könnten Sportpsychologen und gut ausgebildete Mentaltrainer konkret leisten? Dazu einige Anregungen:

  • Beratung und Betreuung unserer Spieler und Trainer
  • Wettkampfvorbereitung, -beobachtung und -betreuung
  • Vermittlung und Anwendung sportpsychologischer Trainingsmaßnahmen
  • Kriseninterventionen
  • Talentdiagnostik, Talentförderung und Laufbahnberatung
  • Moderation von dualen Karrieren (Zusammenhang von Ausbildung und Leistungsfußball)
  • Elternberatung und – betreuung
  • Themengebiet der Regeneration, Erholungsoptimierung und Belastung
  • Aus- und Fortbildung für Trainer und Übungsleiter, Vorträge, Fortbildungen und Seminare zu sportpsychologischen Fragestellungen

Fazit

Ich bin gespannt, welche Erkenntnisse die angekündigte Fehleranalyse des DFB bringt. Und was das für uns als Sportpsychologen bedeutet. Ich persönlich sage: Weg mit den hierarchischen Strukturen, mehr Sportpsychologen/innen einstellen und die Jungs wieder spielen lassen und ganzheitlich entwickeln. Aber wir müssen jetzt direkt damit anfangen, um in einigen Jahren davon auch im Deutschen Fußball zu profitieren.

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Prof. Dr. René Paasch
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