Mathias Liebing: Jürgen Klinsmann – Der Messias kehrt zurück

Als Jürgen Klinsmann zwei Jahre vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland die Nationalelf übernahm, lüftete der Schwabe in der Frankfurter DFB-Zentrale kräftig durch. Einige seiner Ideen, etwa der Fokus auf ein modernes Athletik- und Koordinationstraining, haben den deutschen Fußball bis in die untersten Amateurklassen nachhaltig verändert. Vielleicht sogar revolutioniert. 2004 holte Klinsmann mit Prof. Dr. Hans-Dieter Hermann auch einen Sportpsychologen mit in den Betreuerstab der Nationalelf. Ein Game Changer, um im Sprachgebrauch vom US-Sport inspirierten Klinsmann zu bleiben, für das gesamte Berufsfeld. Entsprechend begleiten den früheren Bundestrainer die Hoffnungen, dass er nun auch auf Bundesliga-Ebene die Tür für eine professionelle und konsequente sportpsychologische Betreuung auf stößt.

Zum Thema: Sportpsychologische Betreuung im deutschen Profi-Fußball

Sieben von 56 Profi-Teams von der Bundesliga bis zur Dritten Liga arbeiten aktuell mit einem festangestellten Sportpsychologen zusammen. Dies haben Recherchen des Bayerischen Rundfunks hervorgebracht. Anders als in den Nachwuchsleistungszentren müssen auf Ebene der Profi-Teams keine Sportpsychologen arbeiten. Stattdessen lassen sich mehr und mehr Profis und auch Trainer von externen Experten beraten. Welche Qualitäten die meist fern von der öffentlichen Wahrnehmung tätigen Dienstleister mitbringen, sind – vorsichtig formuliert – unterschiedlich. Ulf Baranowsky, Geschäftsführer der deutschen Spielergewerkschaft VdV gegenüber die-sportpsychologen.de: “Wir fordern schon seit langer Zeit, eine Sportpsychologenpflicht im Profibereich. Umgesetzt wurde dies bisher aber nur in den Nachwuchsleistungszentren. Und auch dort längst noch nicht überall optimal.” 

Wird Jürgen Klinsmann nun zum zweiten Mal in seiner Karriere zu einem Türöffner für die Sportpsychologie im deutschen Fußball? Die Meinung im Kreis des Experten-Netzwerks Die Sportpychologen sind geteilt. “Ein krasser Schritt, den ich so nicht erwartet hätte. Er hat im Verein definitiv Zugriff auf die wichtigen Stellschrauben”, sagt Prof. Dr. Oliver Stoll (zum Profil). Der Leipziger sieht Klinsmanns Amtsübernahme beim Hauptstadtklub also absolut positiv an. Ilias Moschos aus Krefeld (zum Profil) fürchtet hingegen, dass dem Schwaben die Zeit fehlt: “Bislang heißt es, dass Klinsmann nur bis Saisonende arbeiten soll. Ich befürchte, diese Zeit ist zu kurz, um seriöse Strukturen entstehen zu lassen.” Auch der Leipziger Klaus-Dieter Lübke-Naberhaus (zum Profil) schränkt ein: “Klinsmann ist ein Vorbild und steht als Person für Inspiration und Strukturveränderung. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob seine Ansichten wirklich zum Verein passen. Auch wenn es mich natürlich sehr freuen würde.” Anke Precht (zum Profil) aus Offenburg ergänzt: “Insgesamt steht Klinsmann dem gängigen Vorurteil im Profi-Fußball entgegen, dass starke Männer alles mit sich selbst ausmachen.” 

Berliner Kopfsache?

Zuletzt beklagte der im Sommer vom U23-Trainer zum Bundesliga-Chefcoach beförderte Covic, dass sein Team Probleme im mentalen Bereich habe. Gegenüber dem Sportinformationsdienst äußerte er noch wenige Tage vor seinem Rauswurf: “Wir müssen in den Köpfen eine gewisse Sicherheit vom Einfachen zum Schweren schaffen, damit sie dann möglichst schnell an ihre Leistungsgrenze kommen.” Laut Berliner Zeitung machte der Kroate es sich noch während der Länderspielpause im November zur Aufgabe, “in die Köpfe der Spieler schauen zu wollen, um zu sehen, wo es beim ein oder anderen drückt.” Mehr noch: Seit Monaten wird in Berlin über das Talent Marko Grujic, Leihgabe vom FC Liverpool, gestritten, der seiner Form hinterläuft. Covic sprach schon vor Wochen von einer “mentalen Blockade”. Wird über mentale oder sportpsychologische Aspekte mehr gesprochen als tatsächlich adäquat gearbeitet?

Nüchtern betrachtet: Bei Hertha BSC Berlin findet sportpsychologische Arbeit bislang in übersichtlichem Umfang im Nachwuchsleistungszentrum statt. Bei den Profis gehörte bereits unter Covic-Vorgänger Pal Dardai kein Sportpsychologe zum Betreuerteam.

Der wichtige Blick in die Chefetage

Die Hoffnung, die Jürgen Klinsmann aus sportpsychologischer Perspektive nun begleitet, speist sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass er offenkundig einen guten Draht zum neuen Hertha-Investor Lars Windhorst hat. Der Unternehmer will den Berliner Traditionsverein zurück in die Champions League führen. Genau an diesem Punkt wird es auch für die Sportpsychologie interessant: Denn Entscheidungen im Profi-Fußball werden nicht nur in der Trainerkabine getroffen. Sportdirektoren, Vorstände, Manager und im Einzelfall auch Investoren haben die Macht, auch über Nacht mittel- bis langfristig stabile und seriöse Strukturen für sportpsychologische Arbeit zu schaffen. Allerdings fehlt es bei vielen Verantwortungsträgern aus Erfahrungswissen im Umgang mit seriöser sportpsychologischer Arbeit. Ob Klinsmann, der als Club-Trainer beim FC Bayern München scheiterte, seinem Ruf als Messias der Sportpsychologen gerecht wird? 

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Text: Mathias Liebing, Journalist und Redaktionsleiter von Die Sportpsychologen (mehr Infos)

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de