Feature: Was bei der deutschen Auftaktniederlage aus sportpsychologischer Sicht gefehlt hat

Deutschland verliert bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland das Auftaktmatch gegen Mexiko mit 0:1. Die Niederlage deutete sich schon in der ersten Hälfte an, in der der Herausforderer aus Mittelamerika zu zahlreichen Chancen kam und absolut verdient den Führungstreffer erzielte. ZDF-Taktikexperte Holger Stanislawski meinte in der Halbzeitpause, dass für das deutsche Team in der Pause drei Dinge wichtig würden: Herunterfahren, Kopf frei kriegen, auf die Stärken besinnen. Unter dem Blickwinkel des früheren Bundesliga-Trainers haben sich unsere Experten die Partie angeschaut – das Ziel war, in Erfahrung zu bringen, was hinter der Phrase “Kopf frei kriegen” steckt:

Rita Regös von die-sportpsychologen.atRita Regös

Gewundert hat Rita Regös (zum Profil) schon allein die Kürze der Aufzählung von Holger Stanislawski. In Sportarten wie Bogenschießen, Kanu oder Sportschießen packt sie mindestens noch einen Gedankenstrich oben drauf:

1. Entspannung (= runterfahren)
2. Ablenkung (= Kopf frei kriegen und etwas gänzlich anderes tun bzw. denken)
3. Aktivierung ( = hochfahren physiologisch und mental)
4. Konzentration ( = aktive Lenkung der Aufmerksamkeit auf bevorstehendes Spiel, Aufgabe und Ziele)

(5. Los, Anpfiff, Start, Peeep und Peng)

Prof. Dr. Oliver Stoll

Als Schwarzmaler ist Prof. Dr. Oliver Stoll (zum Profil) nicht bekannt. Aber er erkannte bezüglich der Grundhaltung fundamentale Schwächen und stellt voran: “Wenn die Spieler dies nicht ändern, fahren sie in zwei Wochen nach Hause.”

“Eines vornweg: Volition im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft lässt sich nicht kurzfristig ändern. Eine situative Grundhaltung aber eben schon. Und dazu gehört eine schonungslose Aufklärung der Schwachen. Ein Aufzeigen der positiven Ansätze. Und dann eben eine positive emotionale Einstellung auf die bevorstehende Aufgabe.

Besorgniserregend finde ich, dass ich auch in der zweiten Hälfte kein Wille, und zwar in letzter Konsequenz, zu sehen war. Das Problem: Wille kann man nicht in einer Woche entwickeln. Die Mexikaner haben genau das gezeigt, was Deutschland nicht auf den Platz gebracht hat. Mexiko hat das einfach besser gemacht – in der 1. und auch in der 2. Halbzeit. Da war eine Idee da (1. Halbzeit) und auch eine in der 2. Halbzeit (wir verteidigen das mit dem Messer zwischen den Zähnen). Man könnte ja meinen, die Deutschen wären in Schönheit gestorben… sind sie aber nicht. Hier hat der letztendliche Wille gefehlt. jetzt bin ich mal gespannt, wie es nun weitergeht :-).”

Mario Schuster

Auch in Österreich wurde der deutsche Auftakt ins Turnier verfolgt. Und Mario Schuster (zum Profil) unterstreicht, dass ein freier Kopf für eine mental starke Leistung eine wesentliche Voraussetzung ist:

“Wieso der freie Kopf so wichtig ist? Ganz einfach, denn die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses sind begrenzt. Nur ein freier Kopf lässt das Arbeitsgedächtnis des Fußballspielers gut arbeiten. Das ist besonders wichtig, um Spielsituationen blitzschnell einschätzen zu können, um in Sekundenbruchteilen optimale taktische Entscheidungen treffen zu können. Vor allem bei herausfordernden Großereignissen wie einer WM kann dies zwischen Sieg und Niederlage entscheiden. Klar gibt es auch mentale Techniken, um sich in der Halbzeitpause selbst zu regulieren. Doch noch wichtiger ist es, diese Techniken zur mentalen und emotionalen Selbstregulation bereits Monate vor der WM zu trainieren und nicht erst in entscheidenden Spielen zu erproben. Nach dem Runterfahren ist es zudem auch ganz wichtig, wieder ‘ready’ zu sein, wenn das Spiel wieder losgeht um den Start nicht zu verschlafen.”

Dr. Fabio Richlan die-sportpsychologen.atDr. Fabio Richlan

Wenn wir über den Kopf sprechen, müssen wir auch über Selbstgespräche reden, sagt Dr. Fabio Richlan (zum Profil), übrigens noch einer unserer österreichischen Experten im Netzwerk:

“Von grundlegender Bedeutung ist, ein positives Selbstgespräch zu führen, bei dem die Situation nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung interpretiert wird. Wichtig dabei ist, dass die Konzentration auf die gegenwärtige Aufgabe (Hier und Jetzt) bzw. auf das eigene Verhalten fokussiert wird (etwas das zu 100% unter eigener Kontrolle ist). Das Selbstgespräch oder die Selbstinstruktion kann eine motivationale (“Bleib ruhig”, “Gib alles”) und eine technisch-taktische (“Achte auf die Bewegung des Gegners”, “Setze den Körper ein”) Komponente enthalten. Im Idealfall ist das Selbstgespräch schon im Training und unter Druckbedingungen erprobt und benötigt keine zusätzlichen mentalen Ressourcen, sondern läuft vielmehr automatisch ab!”

Thorsten Loch

Was für ein Geschenk. Unser Profilinhaber aus Hennef (zum Profil von Thorsten Loch) feiert pünktlich zum ersten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft seinen Ehrentag und dann solch ein Geschenk. Die Hoffnung hat er noch nicht verloren, aber mit den Lebensjahren kommt ja auch mehr und mehr Weisheit hinzu:

“Nach wiederholten Fehlern im Wettkampf kann das Selbtvertrauen einen Knacks bekommen. Der innere Dialog kippt und der Sportler bleibt beim Misserfolg hängen, kann sich ihn nicht erklären und findet keine Lösung. Die Folgen konnte der aufmerksame Zuschauer beobachten. Selbst die einfachsten Dinge schienen ein großes Problem zu sein. Die mögliche Ursache ist die Fokussierung auf den Misserfolg und der negative Affekt, welchen den Zugang zu den eigenen Stärken blockiert. Lösungorientiertes, passischeres und schnelles Spiel waren Mangelware in der Begegnung. Hier ist Jogi Löw gefragt. Hilfreich ist das Abrufen einer erfolgreichen Situtionen (Imagination). Zudem kann Löw die Spieler bei der Ehre packen und gezielte Rückmeldung auf eine positive Körpersprache (Embodiment) nehmen. Was macht uns aus und wie viel haben wir dafür gegeben – ggf. kann er Bezug auch auf Situationen aus dem Trainingslager nehmen. Hier scheint der Solgan “Best NeVer rest” ideal zu sein. Sicher wurde dieser Spruch mit Inhalten aus der Manschaft gefüllt, welche es zu mobilisieren gilt.”

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de