Dr. Hanspeter Gubelmann: Die schädliche Seite des Nachwuchs-Hochleistungssports

Scheitern ist offensichtlicher Bestandteil des Leistungssports. Der Grad der Betroffenheit steigt, wenn dabei junge Menschen zu Schaden kommen. Wenn es etwas gibt, das mich als Sportpsychologe, als Vater einer jungen Leistungssportlerin und auch als ehemaliger Nachwuchs-Leichtathletiktrainer heftig betroffen macht, dann dies: Die Selbsttötung eines jungen Menschen. Die schreckliche Meldung des Suizids der 21-jährigen US-Leichtathletin Sarah Shulze erschüttert. Mein Blog ist (m)ein Versuch einer persönlichen, sachbezogenen Aufarbeitung – in drei Teilen.

Zum Thema: Nutzung von Fallbeispielen für die eigene sportpsychologische Arbeit

Unlängst fragte mich ein Student in meiner Vorlesung «Sportpsychologie»: „Gibt es in deiner Tätigkeit als Sportpsychologe eine Periodisierung?“ Ich zögerte kurz, meinte dann: „Ja, schon! Ich gehe von einer Jahresplanung aus, definiere die zentralen Themen, wichtige Events (z.B. sportliche Höhepunkte, Tagungen) und koordiniere diese Aktivitäten mit meinen Lehrverpflichtungen an den Universitäten.“ In meinem persönlichen Kalender sind insbesondere April und Mai diesbezüglich die mit Abstand umtriebigsten Monate. Aktuell bereite ich einen Beitrag für das Nachwuchsleistungssport-Symposium „Gemeinsam gross werden“ vom 09. bis 11. Mai 2022 in Leipzig vor. Ich wurde eingeladen, im Rahmen eines „Schlaglicht“-Vortrags aus meinem Erfahrungsschatz zum Thema „Elterncoaching“ zu berichten. Einen aktuellen Orientierungspunkt dazu liefert mir das tragische Beispiel von Sarah Shulze und folgendes Statement ihrer Familie: «Der Spagat zwischen Sport, Studium und den Anforderungen des täglichen Lebens überforderte sie in einem einzigen, verzweifelten Moment».

Es steht mir nicht zu, diese Äusserung als Aussenstehender zu kommentieren. Andererseits verfolge ich mit diesem Beitrag das (psychoedukative) Ziel einer exemplarischen Veranschaulichung der Thematik. Dabei möchte ich eine Idee vermitteln, wie ich mir in meiner alltäglichen Arbeit als angewandter Sportpsychologe die Einordnung verschiedener Erkenntnisse und Sachverhalte zunutze mache. Konkret beschäftigen mich drei, eher zufällige „Episoden“, der letzten sieben Tage.

Teil 1: Erstgespräch mit einer jungen Spitzensportlerin

Ein passender Einstieg eröffnet mir ein Erstgespräch mit einer jungen Spitzensportlerin, das erst kürzlich stattgefunden hat. Carla (Namen geändert) gilt als shooting-star im Schweizer Sport, eine der Weltbesten ihres Alters in ihrer Disziplin, eine Athletin mit grossem Potential. So wie die Diskussion verläuft wird schnell klar: mir gegenüber sitzt eine ambitionierte, motivierte und erfolgsorientierte junge Frau. Eloquent schildert sie ihren bisherigen Karriereverlauf, betont die Komplexität ihres Betreuungsumfeldes. Auf ihr Interesse an sportpsychologischer Begleitung angesprochen meint sie: „Ich handle gerne nach einem gut funktionierenden Plan, den ich für meine Wettkampfvorbereitung noch verbessern will.“ Weiter erwähnt sie körperliche Einschränkungen, die ihr momentan noch im Trainingsalltag zu schaffen machen sowie das Unistudium, welches sie unlängst begonnen hat.

In meinem Gesprächsprotokoll streiche ich später fünf Stichworte dick an: Duale-Karriere, Perfektionismus, Versagensängste, Erholungs-Belastungsmanagement und Umfeldoptimierung.

Teil 2: Interview mit Bradley Wiggins

Vor wenigen Tagen bin ich auf ein Interview mit dem ehemaligen Rad-Star Bradley Wiggins gestossen. Der Titel zum Gedankenaustausch mit dem früheren Tour de France- und Olympia-Siegers lässt wahrlich nichts Schönes erahnen „Mit 41 Jahren begräbt Bradley Wiggins seine Dämonen“.

Die Liste seiner Dämonen: Sexueller Missbrauch durch einen Jugendtrainer, die Ermordung seines Vaters („Ich habe nie Antworten erhalten, als er 2008 ermordet wurde“), ein gewalttägiger Stiefvater, der ihn Schwuchtel nennt. Isolierte Jugend mit Flucht in den Radsport, um später ein Rockstar des Spitzensports zu werden. Abschliessend umschreibt er diese Zeit desaströs: „Es war wahrscheinlich die unglücklichste Zeit meines Lebens.“ Wiggins’ Beschreibungen wandern bei mir in verschiedene aktuelle Arbeitsdossiers: u.a. Elterncoaching, Psychoedukation Trainer*innen und Verbände, Aktion „SaveSport“. 

Teil 3: Whistleblowing im Schweizer Spitzensport: „Swiss Sport Integrity“

Die dritte Episode ereignete sich beim Besuch meines Vaters in der Innerschweiz, als ich – wohl eine Gewohnheit aus meiner Jugendzeit – einen Blick in die Luzerner Zeitung vom 19. April warf. Darin las ich, dass der im Schweizer Sport neu aufgebauten Abteilung „Swiss Sport Integrity“ täglich mindestens eine Meldung zu einem möglichen Übergriff gemeldet werde. Die vom Abteilungsleiter Markus Pfisterer vorgestellte Statistik macht mich nachdenklich: „Erst 34 Dossiers konnten bislang ad acta gelegt werden. 57 Meldungen sind noch in Bearbeitung. In drei Fällen wurde bereits provisorische Massnahmen zum Schutz der Opfer getroffen. Bislang 13 Fälle wurden als derart schwerwiegend eingestuft, dass eine offizielle Untersuchung im Gang ist. Insgesamt stammen die 91 Meldungen aus mehr als 30 verschiedenen Sportarten.“ 

Bei mir erhält dieser Zeitungsbeitrag verschiedenen Aktenzeichen, z.B. „Magglinger Protokolle“, Elterncoaching und SafeSport Schweiz.

Ausblick

Wie ich diese Episoden in meinen Leipziger „Schlaglicht“-Beitrag verweben werde, weiss ich noch nicht. Die Komplexität der Themenfelder, aber auch die  unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Akteure erschweren die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, die Festlegung eines Schwerpunktes. 

Zielführend könnte aber folgende Anekdote sein. Manchmal nutze ich die sozialen Medien als „Resonanz-Raum“ – so auch im Fall des tragischen Suizids der US-amerikanischen Leichtathletin. Mein Post (siehe Quellen) führte zu zahlreichen Einträgen und sehr persönlichen Stellungnahmen. Jenen der von mir ausserordentlich geschätzten kanadischen Arbeitskollegin Theresa Bianco möchte ich an dieser Stelle zitieren: „So devastating. Really sad for all concerned, this beautiful young woman and all who loved her. Hanspeter, I can certainly understand your concern. The main things, as you know, is to keep the channels of communication open.“

Ein Leitsatz

Den Leitsatz – die Kommunikation auf allen Kanälen offen halten und zu führen – werde ich mir für meine weiteren Aktivitäten insbesondere beherzigen. Allein, weil wir dies den Menschen im System Leistungssport schuldig sind. 

Mehr zum Thema:

Quellen:

https://twitter.com/UWBadgers/status/1517594087980867584?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1517594087980867584%7Ctwgr%5E%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.blick.ch%2Fassets%2Fdist%2Fstatic%2Ftwitter.html%3Furl%3Dhttps%3A%2F%2Ftwitter.com%2FUWBadgers%2Fstatus%2F1517594087980867584

https://www.facebook.com/profile.php?id=100010772712360

https://www.luzernerzeitung.ch/sport/whistleblower-im-sport-ein-riesenbeduerfnis-pro-tag-wird-ein-ethikverstoss-in-der-schweiz-gemeldet-ld.2277676

https://www.srf.ch/news/schweiz/magglinger-protokolle-misshandlungen-im-training-staenderat-will-meldestelle-schaffen

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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