Dr. René Paasch: Warum der deutsche Fußball Mentoren braucht

In der Kommandozentrale des deutschen Fußballs wird seit mehreren Monaten an tiefgreifenden Veränderungen gearbeitet. Die Diskussion dahinter kennen wir: Kaum mehr außergewöhnliche Talente, zu viel Gleichmacherei in den Nachwuchsleistungszentren und zu wenig Bolzplatzmentalität. Oliver Bierhoff, Manager der Nationalmannschaft, äußerte vor wenigen Wochen, dass die Jugendarbeit “sehr deutsch” sei – alles sei klar organisiert und strukturiert, die Freiheit des Einzelnen komme zu kurz (Sportschau, 19.02.2020). Für meine Begriffe fehlt es im deutschen Nachwuchsfußball vor allem an einer Schlüsselposition: Es fehlt unseren Talenten an Mentoren. Was ich damit meine, habe ich hier ausführlich notiert.  

Zum Thema: Wenn jemand kommt und an dich glaubt

Die Frage, wie eine optimale Ausbildung für junge Spieler aussehen soll, ist so vielschichtig wie der Fussball selbst. Manche fordern intensivere und verbesserte Trainingseinheiten und individuelles Training. Andere meinen, es komme vor allem auf die Aneignung von Trainerkompetenzen an. Manche finden die Förderung der kleineren Vereine besonders wichtig, andere weisen darauf hin, dass den besonders begabten Spielern dringend bessere Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden müssen. Und so geht die Debatte gegenwärtig munter weiter: Eliteschule oder lieber der Dorfverein, der regelmäßige Bolzplatzbesuch statt starre Trainingseinheiten, Entwicklungsgespräche mit Notengebung und Selektion oder keinen talentierten Spieler zurücklassen? Übergang in die Nachwuchsleistungszentren oder ab in die Vollzeitausbildung zum Profispieler? Zu jeder Frage gibt es zermürbende Diskussionen und Ansichten. Aber Uneinigkeit herrscht nicht nur hinsichtlich der Frage, wie eine optimale Fussball- und Persönlichkeitsausbildung auszusehen hat. Noch viel breiter wird das Spektrum an Vorschlägen und Ideen, wenn es darum geht, Spieler ganzheitlich zu entwickeln. Wer dieses ganze Hin und Her und das ständige Für und Wider der heute üblichen Ausbildungsdebatten im deutschen Fussball als befangener/unbefangener Beobachter betrachtet, kann sich des Eindrucks kaum gewähren, dass da etwas nicht stimmt. 

Wer könnte uns sagen, worauf es dabei ankommt und wie sich das dann auch praktisch umsetzen lässt? Ehemalige Profispieler? Fussball-Lehrer & A-Lizenz Trainer? Professoren? Oder unsere Nachwuchsleistungszentren? Deren Vorstellungen, Konzepte und Maßnahmen haben unser Fussball ja genau dorthin geführt, wo wir heute angelangt sind. Haben wir an dieser Stelle ein großes Problem? Sollten wir deshalb nicht lieber bei denjenigen Rat suchen, die auf Kosten von Renommé andere Wege gegangen sind? Das können auch Trainer, DFB-Mitarbeiter, Spezialisten oder ehemalige Profispieler sein, aber vor allem denke ich an diejenigen, die diesen Kindern ihr Leben geschenkt, die sie begleitet und großgezogen haben. Und was antworten aber die meisten Fussball-Eltern, wenn sie gefragt werden, was sie sich für ihre Kinder und Jugendliche wünschen? „Glückliche Momente sollen sie haben.“ Und wenn man die Eltern dann weiter befragt, was ihrer Meinung nach jeder junge Spieler überall auf der Welt wirklich braucht, um seinen sportlichen Weg so gestalten zu können, dass er glücklich wird, kommen die folgende Antworten: Einen Verein und Mannschaft, die Freude macht, verlässliche Teamkollegen, die zu ihm halten, und natürlich auch Nähe, Vertrauen, Motivation, Zuversicht, viel Individualität und menschliche Trainer, natürlich auch Herausforderungen und immer wieder ganz viel Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Kreieren. Nun sind wir endlich dort angekommen, wo die Frage nach dem Sinn der Fussball-Ausbildung spannend wird: Wir können es nicht für sie machen, selbst wenn wir uns noch so sehr darum bemühen. Aber wir können ihnen ermöglichen, sich all das anzueignen, was sie brauchen, damit sie ein großartiger Mensch und Spieler werden. Dann werden sie auch glücklich und sportlich erfolgreich sein. Und was sie dazu benötigen, ist Bildung. Bildung für ein gelingendes sportliches Leben. Alles andere ist Ausbildung. Und die dient dazu, später im Sport bestimmte Leistungen erbringen zu können. 

Um es deutlich zu machen: Ich bin kein Profi-Trainer oder DFB-Verantwortlicher. Ich bin ausgebildet als Psychologe, Sportpsychologe, Sportwissenschaftler, Sportpädagoge und Fussballtrainer. Aber ich bin leidenschaftlicher Vierfach-Vater und demnächst bekommen wir einen weiteren Jungen. Und ich bin mehr denn je auf der Suche nach dem, was uns und unsere jungen Spieler im Fussball glücklich macht und voranbringt. Als ehemaliger Leistungskicker und aktiver Sportpsychologe im Fussball kann ich das gegenwärtige Geschehen im Nachwuchsfussball deshalb aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit dem nötigen Abstand anschauen. Der Fussball, den wir heute erleben, befindet sich schon seit vielen Jahren in einem besorgniserregenden Wandel. Kaum etwas ist heute noch so, wie es noch zur Jahrtausendwende war. Aber der große Wandel ist längst im Gang (DFB-Akademie „Think Tank“, Trainer und Verantwortliche die über den Tellerrand schauen u.v.m.). Jeder spürt das, aber fast alle, die nun langsam wach werden müssten, wie bspw. diese in den Nachwuchsleistungszentren, versuchen zum Teil genauso weiterzumachen wie bisher. Das kann nicht gut gehen. Die Voraussetzung, um irgendetwas an unserem gegenwärtigen Jugendfussball verändern zu können, ist eine zumindest einigermaßen klare Vorstellung davon, weshalb er so geworden ist und wie er künftig werden sollte. Doch ganz besonders sollte der Einzelne in seinen Möglichkeiten gesehen und entwickelt werden. Eine hilfreiche und nachhaltige Anregung ist die Verhaltensweise eines Mentors statt die der klassischen Trainertätigkeit.  

Mediator statt Jugendtrainer 

Die Beziehungen zu Mentoren sind eine der wirkungsstärksten Erfahrungen im Aufwachsen junger Spieler. Der Begriff des Mentors stammt aus der griechischen Mythologie. Der erfahrene Mentor kümmerte sich während der Abwesenheit seines Freundes Odysseus um dessen Sohn Telemach. Und als solch ein Freund der Familie lässt sich der Begriff des Mentors, auch ganz gut verstehen. Mentoren sind Personen außerhalb der Familie, die den Heranwachsenden viel bedeuten. Sie sind älter als die Heranwachsenden und teilen mindestens eine bedeutsame Sache mit ihnen. Eine Sportart, wie bspw. das Fussball spielen. Mentoren sind im eigenen Anliegen präsent. Sie teilen ihre Begeisterung für ihre Sache mit jüngeren Menschen und sind gleichsam um deren Entfaltung bemüht. Mentoren können auch eine Vorbildrolle einnehmen. Sie sind Vorbilder zum Anfassen. Man kann mit ihnen Gespräche führen, ihnen Fragen stellen oder sich Hilfe holen. Das Wertvolle an Mentoren als Vorbilder zum Anfassen ist, dass Kinder und Jugendliche sich von ihnen als Subjekt gesehen fühlen, indem sie eine wahrhaftige Beziehung zu ihnen aufbauen. Mit wahrhaftig meine ich eine Beziehung, in der keine Beurteilung und Bewertung in fremdbestimmten Kategorien stattfindet. Sie wollen sie nicht für ihre Zwecke benutzen. Sie sind nahbar und nicht distanziert, sie zeigen sich als Mensch, ihr Interesse gilt in erster Linie dem Spieler und nicht den Ergebnissen und Tabellenplätzen, wegen der sie zusammenkommen. Das Verhältnis zwischen Mentor und Spieler beruht immer auf Freiwilligkeit, selbst wenn der Kontakt zwischen beiden mitunter in einem Zwangsrahmen, zum Beispiel im Verein, entsteht. Mentoren laden ein, ermutigen und inspirieren ihre Spieler, Herausforderungen anzupacken. Sie geben Anregungen und erschaffen Anlässe. Sie begleiten und leiten sie durch diese Herausforderungen, stehen ihnen bei Schwierigkeiten zur Seite, feiern ihre Erfolge und helfen ihnen, mit dem Misserfolg umzugehen. Sie begegnen ihnen mit Wertschätzung und Achtsamkeit. Dabei können die Kinder und Jugendlichen an ihnen wachsen und in reflektierenden Gesprächen Momente der Selbstachtung erfahren. Mentoren geben den Heranwachsenden ständig wertschätzendes Feedback und nötigen sie niemals, mehr zu leisten, als sie wollen und können. Bewusst oder unterbewusst haben sie dadurch einen starken Einfluss auf deren Selbstkonzept. So helfen sie ihnen bei der Entfaltung ihrer Potenziale. Sie sind gekennzeichnet durch bedingungsloses Wohlwollen und Anerkennung. Sie wollen sie nicht bewerten oder beurteilen, sondern sie hilfreich unterstützen in ihrer Entfaltung. Mentoren treiben kein narzisstisches Bedürfnis nach Bedeutsamkeit und Karriere an. Sie verwirklichen sich selbst durch ihr gebendes Wirken. Dadurch begegnen sie ihren Spielern als Subjekte. Indem sie sie so sehen, wie sie sind, können sie ihre Spieler innerlich berühren und entwickeln. 

Dr. René Paasch

Sportarten: Fußball, Segeln, Schwimmen, Handball, Hockey, Eishockey, Tennis

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Heranwachsende können in ihrer sportlichen Karriere wechselnden Mentoren begegnen, die sie jeweils eine Weile lang begleiten und die für sie von Bedeutung sind. Trainer in Sportvereinen sind potenziell geeignet als Mentoren, weil Ihre Schützlinge zu ihnen aufschauen. Allerdings können sie nur dann Mentoren für sie sein, wenn ihre Haltung keine der Abrichtung ist, ihr Training nicht auf die Erfüllung von Wettkampfstandards ausgerichtet ist, wenn ihr Antrieb nicht in erster Linie dem Siegen bei Spielen gilt. Wenn sie keine allzu formellen Trainingsmethoden einsetzen, mit hoher Ähnlichkeit zu militärischer Ausbildung. Denn das Spiel von Kindern folgt keiner Siegeslogik. Es beruht auf reiner Freude. Freude am Spielen und Lernen. Sporttrainer können also dann Mentoren sein, wenn ihr Anliegen in erster Linie die kreative Entfaltung der Kinder und Jugendliche ist. Wenn sie sich entschieden haben, diese Freude am Spiel niemals zu rauben, dann prägt diese Entscheidung ihr gesamtes Verhältnis zu ihnen. Beeindruckende Siege sind möglich. Aber sie sind nie der eigentliche Sinn der Sache. Das ist der Unterschied etwa zwischen einem Fussballtrainer und einem Fussballmentor. Aufmerksame Eltern können bei der Wahl von Sportvereinen auf diesen Unterschied Wert legen. Wenn Sie als Eltern Ihren Kindern die Begegnung mit Mentoren ermöglichen wollen, können Sie als einfachsten Schritt zunächst Ihre Akzeptanz gegenüber informellen Bezugspersonen überprüfen – also gegenüber solchen Trainern, die nicht immer in einem leistungsorientierten Rahmen stattfinden, sondern auch dort, wo Ihre Kinder und Jugendliche sich frei bewegen dürfen. Wie besorgt oder entspannt sind Sie hier und welche Erwartungen werden an den Nachwuchs gestellt? Anhand der Merkmale, die ich benannt habe, können Sie sie jetzt erkennen. Viele solcher mentorenartigen Begegnungen ergeben sich auch im Rahmen der offenen Trainingstagen, Fussballschulen oder in persönlichen Gesprächen mit anwesenden Eltern. Als Vorsitzender und sportlicher Leiter können Sie also an der Ermöglichung dieser wertvollen Erfahrung für Heranwachsende mitwirken, indem Sie sich mit Ihrer Entscheidungsmacht für den Ausbau kreativer Möglichkeiten und ihrer personalen Vielfalt in Ihrem Verein einsetzen. In Vereinen können Sportpsychologen, Laufbahnberater, Fahrdienste, Physiotherapeuten und externe Akteure des Vereins zu Mentoren für Heranwachsende werden. Auch Großeltern können Mentoren für ihre Enkel sein. Oma und Opa verfügen häufig über mehr Zeit und Ruhe als die Eltern. Mit all ihrer Erfahrung können sie ihren Enkeln zahlreiche wertvolle Anregungen verschaffen. 

Mehr zum Thema: 

  1. https://www.die-sportpsychologen.de/2019/02/dr-rene-paasch-ein-menschlicherer-fussball-wer-ist-dabei/
  2. https://www.die-sportpsychologen.de/2018/12/dr-rene-paasch-die-wuerde-der-nachwuchsspieler-ist-unantastbar/
  3. https://www.die-sportpsychologen.de/2019/02/dr-rene-paasch-wir-muessen-die-nlz-kicker-aus-den-zwangsjacken-befreien/ 
  4. https://www.die-sportpsychologen.de/2020/03/dr-rene-paasch-trainer-und-spielerpersoenlichkeiten-im-fussball-entwickeln/
  5. https://www.die-sportpsychologen.de/2020/01/dr-rene-paasch-vom-trainer-zum-top-trainer-werden/
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  7. https://www.die-sportpsychologen.de/2019/04/dr-rene-paasch-soziale-kompetenzen-im-fussball-foerdern/ 
  8. https://www.die-sportpsychologen.de/2018/11/dr-rene-paasch-emotionale-kompetenz-im-fussball/ 
  9. https://www.die-sportpsychologen.de/2018/01/dr-rene-paasch-das-wohlbefinden-verbessern/
  10. https://www.die-sportpsychologen.de/2017/11/dr-rene-paasch-joachim-loews-neue-fehlerkultur-wie-fehler-positive-wirkung-entfalten-koennen/ 

Fazit

Eine gelingende Entwicklung im Nachwuchsfussball zeigt sich unter anderem daran, wie sehr ein Trainer bzw. aktiver Mentor den Nachwuchskicker erreicht, mit ihm tiefere persönliche Beziehungen eingehen und pflegen kann und dies auch innerhalb der Mannschaft. Das pädagogisch/didaktisch/psychologische Interaktionsverhalten des Begleiters hat Auswirkungen auf die nachhaltige Entwicklung des Einzelspielers sowie die Wahrnehmung der Sportler als Mitglied in seinem Team. Besonders diesem Aspekt sollte in der „Trainerausbildung“ ein stärkeres Gewicht gegeben werden.

Mehr zum Thema:

Literatur 

Pahmeier, I. (2003): Eine Untersuchung über die Ausstiegsgründe und Bindungsfaktoren von Fußballspielern. Beitrag zum DFB-Amateurfußballkongress in Barsinghausen vom 13.-15. Juni 2003 (S.95-110). Köln: Führungsakademie des DSB.

Mann, T. (2017): Meisterschaft dank Menschlichkeit: Leitfaden für Trainer zum Thema Menschenführung im Mannschaftssport. Books on Demand; Auflage: 1. 

Online: 

https://www.dfb.de/fileadmin/_dfbdam/202541-bestandserhebung.pdf (Zugriff am 10.03.2020) 

http://www.fussball.de/newsdetail/drop-out-bei-junioren-nicht-unterschaetzen/-/article-id/213810#!/ (Zugriff am 10.03.2020). 


https://www.sportbuzzer.de/artikel/dfb-oliver-bierhoff-jugendarbeit-jugendforderung-philipp-lahm-reaktion-gabfaf/ (Zugriff am 10.03.2020)

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Prof. Dr. René Paasch
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