Dr. René Paasch: Trainer- und Spielerpersönlichkeiten im Fussball entwickeln

In einem spannenden Interview mit der ARD Sportschau äußerten sich der Akademieleiter Tobias Haupt und Teammanager Oliver Bierhoff zu der aktuellen Situation im Deutschen Fussball (Sportschau, 19.02.2020). Dabei wiesen sie auf zwei wichtige Kernpunkte hin, die aus ihrer Sicht reformbedürftig sind: Die Talentförderung und Trainerausbildung. Haupt: “Wir müssen definitiv wieder das Talent in den Fokus stellen. Und wir müssen unsere Trainer ganz individuell entwickeln. Das viel gepriesene System der Nachwuchsleistungszentren habe in den vergangenen 20 Jahren einige Schwachstellen aufgebaut. Wir bilden zu wenig altersspezifisch aus, wir setzen zu wenig auf Persönlichkeitsentwicklung. Vielen Jungs in den U-Teams fehlt der ursprüngliche Spaß am Spiel, sie zeigen im Training und im Spiel kaum noch Emotionen.” Bierhoff formulierte die Versäumnisse sogar noch deutlicher: “Wir waren zu technokratisch, haben nur an Taktiken und Systeme gedacht. Persönlichkeit, Menschenführung, Charakter sind verloren gegangen.” Diese Erkenntnisse sind nicht neu und wurden schon vor Jahren in Blogbeiträgen von mir und meinen Kollegen thematisiert. Denn genau in den von Bierhoff und Haupt umrissenen Arbeitsbereichen können wir Sportpsychologen sehr effektiv wirken – Grund genug für mich, hier ein praktikables Tool für Vereine und Verbände hinsichtlich der Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit anzubieten. Es heißt „Big Five“.  

Zum Thema: Wie wir Persönlichkeiten unserer Trainer und Spieler feststellen und entfalten können 

Es ist aus meiner Sicht unheimlich wichtig, dass wir im Fußball viel stärker darauf achten, wen wir vor uns haben. Um aber die verschiedenen Persönlichkeiten einschätzen zu können, habe ich auf Basis eines Persönlichkeitsmodells eine Übersicht erstellt, mit dem Sie als Trainer, Manager oder Verantwortlicher hoffentlich gut arbeiten können. Ich selbst nutze dieses Raster, wenn ich mit Team- oder Einzelsportlern arbeite, um den jeweils richtigen Zugang zu finden.

Denken Sie doch jetzt bitte mal testweise an einen Trainer oder Spieler und machen Sie sich kurze Notizen zu jedem einzelnen Punkt, die im Ergebnis die Persönlichkeit des ausgewählten Individuums beschreiben helfen:   

  1. Verträglichkeit Wenn Akteure im Fussball stärker kooperativer, freundlicher und mitfühlender sind, reden wir von einer hohen Verträglichkeit. Ist Verträglichkeit dagegen schwach ausgeprägt, so sind sie eher misstrauisch und weniger freundlich. Verträglichkeit spielt in der Entwicklung von Trainern und Spielern eine herausragende Rolle. Es ist kaum vorstellbar, sie zu entwickeln und zu inspirieren, wenn sie dauerhaft den Fussball als Leistungsdruck empfinden, Trainer und Spieler als Objekte sehen und dem System misstrauisch und feindselig gegenüberstehen.  
  2. Extraversion bedeutet, wie stark oder wie schwach wir auf äußere Reize reagieren. Trainer und Spieler mit hohen Extraversionswerten sind teamfähig, aktiv, gesprächig und optimistisch. Introvertierte sind zurückhaltend bei Teaminteraktionen, sind gerne allein und agieren ansonsten sehr verhalten. Sie mögen die Gesellschaft von Mannschaftskollegen, sie fühlen sich in Teams und in der Öffentlichkeit  besonders wohl. 
  3. Gewissenhaftigkeit bedeutet, persönliche und sportliche Anregungen anzunehmen und möglichst zeitnah umzusetzen. Es liegt eine gesunde Fehlerkultur vor. Gewissenhaftigkeit hat auch viel mit Selbstständigkeit zu tun. Gewissenhafte Trainer und Spieler dulden häufig keine Nachlässigkeiten und können sehr gut strukturieren und organisieren. Diese Charakter-Ausprägung steht vor allem für Selbstkontrolle, Genauigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zielstrebigkeit. Viele schreiben dieser Eigenschaft maßgeblichen Einfluss auf den späteren sportlichen Erfolg zu.
  4. Neurotizismus spiegelt als Faktor Unterschiede in der Verarbeitung von negativen Emotionen. Trainer und Spieler mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus erleben häufiger Unsicherheit und haben Angst vor Misserfolg. Zudem bleiben diese Empfindungen bei ihnen länger bestehen und werden leichter ausgelöst. Personen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind dagegen weniger unsicher und agieren ruhiger. Neurotizismus spielt insbesondere auch in der Entwicklung von Trainer und Spielern eine bedeutsame Rolle, da es hier darauf ankommt, häufiger auftretende Emotionen im Umgang mit Misserfolgen, Schiedsrichterentscheidungen, Konflikten im Team, Umgang mit Teammitgliedern und sozialen Medien, Reaktionen von Zuschauern, Verletzungen oder Ergebnisdruck auf eine möglichst produktive Art zu verarbeiten. 
  5. Offenheit für Erfahrungen – solche Trainer und Spieler sind mit einer starken Ausprägung bereit, bestehende Normen kritisch zu hinterfragen und auf neuartige Ideen und Wertvorstellungen anderer einzugehen. Sie sind unabhängig in ihrem Urteil, verhalten sich häufig unkonventionell und erproben neue Vorgaben und bevorzugen Abwechslung. Wer dagegen eine nur schwach ausgeprägte Offenheit besitzt, ist eher konservativ und vorsichtig und bevorzugt das Bekannte und Bewährte. 

Machen Sie den Big Five Test!

Wenn Sie nun die gemachten Notizen betrachten oder die Gedanken ordnen, dann sollten Sie ein gewisses Gefühl für die jeweils ausgewählte Person entwickelt haben. Auf dieser Grundlage lässt sich dann gut arbeiten. In der Praxis lohnt es sich, wenn zum Beispiel ein Sportpsychologe mit der ausgewählten Person ins Detail geht. Hierzu zeige ich Ihnen einen Test, den Sie jetzt gern selbst an sich einmal ausprobieren können. 

Auf dieser Online-Seite finden Sie den Big Five Test: http://big-five.plakos.de/. Es erwarten Sie insgesamt 42 Fragen, wobei der Test nur etwa acht Minuten dauert. Noch aussagekräftiger wird der Persönlichkeitstest jedoch, wenn Sie nicht nur selber die einzelnen Fragen beantworten, sondern die Einschätzung ihrer eigenen Persönlichkeit zusätzlich durch einen weiteren Trainer- und Spielerkollegen ergänzen. Meine Kolleginnen oder Kollegen aus unserem Experten-Netzwerk (zur Übersicht) oder ich (zum Profil von Dr. René Paasch) können mit solchen Hilfsmitteln relevante Einschätzungen liefern, auf deren Grundlage sich konkrete Maßnahmen zur Entwicklung der Persönlichkeiten in ihrer Mannschaft oder dem Trainerteam ableiten lassen. Dies kann dann in besonderen Ansprachen, Übungen im Training oder in Einzelgesprächen münden.

Theoretischer Hintergrund

Bedient habe ich mich bei der Entwicklung dieser Anwendung an einem Modell, was seit vielen Jahren in der Wissenschaft diskutiert wird: Seit Beginn der 1990er Jahren besteht in der Forschung aber Konsens darin, dass fünf Faktoren höherer Ordnung beschrieben werden können. Diese Dimensionen werden als Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit bezeichnet und lauten (Amelang & Bartussek, 2001): 

1) Extraversion (Extraversion)

2) Verträglichkeit (Agreeableness)

3) Gewissenhaftigkeit (Conscentiousness)

4) Emotionale Stabilität vs. Neurotizismus (Emotional stability)

5) Offenheit für Erfahrungen (Openess to experience)

Jeder Faktor erhält mehrere detaillierte Beschreibungen von Persönlichkeitsmerkmalen, die ein zentrales Thema haben. Die Faktoren stellen bipolare Dimensionen dar. In ihrer negativen wie auch positiven Ladung beinhalten die fünf Faktoren im Einzelnen folgende Eigenschaften:

Positive Ladung Negative Ladung 
Extraversion gesprächig, bestimmt, aktiv, energisch, offen,dominant, enthusiastisch, sozial, abenteuerlustig,gesellig, herzlich, durchsetzungsfähig, fröhlichstill, reserviert, scheu, zurückgezogen
Verträglichkeit mitfühlend, nett, bewundernd, herzlich, warm, weichherzig, großzügig, vertrauensvoll, hilfsbereit, nachsichtig, freundlich, kooperativ,feinfühlig, gutherzig, wohlwollend, bescheidenkalt, unfreundlich, streitsüchtig, hartherzig, grausam, undankbar
Gewissenhaftigkeit organisiert, sorgfältig, planend, effektiv,verantwortlich, zuverlässig, genau, praktisch,vorsichtig, überlegt, gewissenhaftsorglos, unordentlich, leichtsinnig,unverantwortlich, unzuverlässig,vergesslich
Neurotizismusgespannt, ängstlich, nervös, launisch, besorgt,empfindlich, reizbar, unstabil, mutlos,selbst bemitleidend, verzagtstabil, ruhig, zufrieden
Offenheit fürErfahrungenbreit interessiert, einfallsreich, fantasievoll,intelligent, originell, wissbegierig, gescheit,künstlerisch, geistreich, erfinderisch, weisegewöhnlich, einseitig interessiert,einfach, ohne Tiefgang, unintelligent
Tabelle 1: Auswahl aus 112 Adjektiven der Big Five Persönlichkeitsmerkmale nach Amelang & Bartussek, 2001, S. 371

Entwickelt wurden diese fünf Faktoren auf Basis einer 1936 von Allport und Odbert im Rahmen des lexikalischen Ansatzes aufgestellten, rund 18.000 Begriffe umfassenden Liste von in der natürlichen Sprache vorkommenden Beschreibungen von Persönlichkeitsmerkmalen. Trotz berechtigter Kritik enthält es doch Ergebnisse aus rund 70 Jahren Persönlichkeitsforschung und wird als wichtigstes Standbein wissenschaftlicher Arbeiten und als „Referenzmodell“ (Amelang und Bartussek, 2001) für Forschungsergebnisse in diesem Bereich angesehen. Erwähnen möchte ich noch, dass es durchaus einige Alternativmodelle gibt (bspw. Hexaco-Modell). Das sogenannte Hexaco-Modell, das den Big Five noch einen Faktor hinzufügt: Ehrlichkeit-Bescheidenheit. Trotz allem möchte ich Ihnen die Big Five empfehlen, da sich diese Testung in meiner Fussballpraxis bewährt hat. Mir ist bewusst, dass die entsprechenden empirischen Daten in diesem Zusammenhang noch fehlen, dennoch ist es aus meiner Sicht möglich, dies als Basiswerkzeug für die Entwicklung von Trainern und Spielern zu nutzen. Wenn Sie als Interesse an der Anwendung des Fünf-Faktoren-Modells der Persönlichkeit im Fussball haben, nehmen Sie gern Kontakt auf. 

Dr. René Paasch

Sportarten: Fußball, Segeln, Schwimmen, Handball, Hockey, Eishockey, Tennis

Kontakt

+49 (0)177 465 84 19

r.paasch@die-sportpsychologen.de

Zum Profil: https://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Fazit 

Das Big Five Modell aus der Persönlichkeitspsychologie bietet dem Fussball einen guten Überblick über die grundlegenden Dimensionen unserer Persönlichkeit. Allerdings sollten wir derartige Modelle auch nicht überbewerten, da die Persönlichkeit immer komplexer ist! Dennoch lohnt es sich, sich mit den Erkenntnissen der modernen Persönlichkeitspsychologie vertrauter zu machen und gegebenenfalls mehr über andere Personen zu erfahren, die wir entwickeln wollen. Dies kann ein Baustein sein, die eingangs erwähnten Absichten von Bierhoff und Haupt mit Leben zu füllen.

Mehr zum Thema:

Literatur 

Allen, M. S., Greenlees, I., Jones, M. (2011): An investigation of the five-factor model of personality and coping behaviour in sport. Journal of Sports Sciences, 29, 841 – 850.

Amelang, M., Bartussek, D., Stemmler, G. & Hagemann, D. (2006): Differentielle Pyschologie und Persönlichkeitsforschung (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Conzelmann, A. (2006): Persönlichkeit. In M. Tietjens & B. Strauß (Hrsg.), Handbuch Sportpsychologie (S. 117 – 136). Schorndorf: Hofmann.

Conzelmann, A. (2001). Sport und Persönlichkeitsentwicklung. Schorndorf: Hofmann.

Eysenck, H. J., Nias, D. K. B., Cox, D. N. (1982): Sport and personality. Advances in Behaviour Reasearch and Therapy, 4, 1-56.

Morris, L. D. (1975): A socio-psychological study of highly skilled women field hockey players. International Journal of Sport Psychology, 6, 134-147.

Singer, R. (1986). Sport und Persönlichkeit. Gabler, H., Nitsch, J. R., Singer, R. (Hrsg.) Einführung in die Sportpsychologie. Teil 1 Grundthemen (S. 145-187). Schorndorf: Hofmann.

Singer, R. (2000). Sport und Persönlichkeit. Gabler, H., Nitsch, J. R., Singer, R. (Hrsg.) Einführung in die Sportpsychologie. Teil 1. Grundthemen. Schorndorf: Hofmann.

Singer, R. (2004). Sport und Persönlichkeit. In Gabler, H., Nitsch, J. R., Singer, R. Einführung in die Sportpsychologie. Teil 1 Grundthemen (4. Aufl.). Schorndorf: Hofmann.

Schwinger, M., Olbricht, S., Stiensmeier-Pelster, J., (2013):  Der Weg von der Persönlichkeit zu sportlichen Leistungen. Ein hierarchisches Modell. Zeitschrift für Sportpsychologie (2013), 20, pp. 81-93. https://doi.org/10.1026/1612-5010/a000100.

Online

https://www.sportschau.de/fussball/allgemein/dfb-akademie-leiter-tobias-haupt-100.html (Zugriff am 25.02.2020)

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Prof. Dr. René Paasch
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