Wolfgang Seidl: Die Bedeutung von Routinen und Ritualen im Fußball

Bei der Fußball WM der Frauen in Australien und Neuseeland werden wir bei den einzelnen Mannschaften wieder die unterschiedlichsten Rituale und Routinen beobachten können. Vom Voodoo Zauber im afrikanischen Fußball bis zum Bilden eines Kreises, wie wir es vom deutschen Team kennen, ist alles dabei. Ich bin ernsthaft gespannt, was uns darüber hinaus erwartet! 

Zum Thema: Was unterscheidet Routinen von Ritualen?

Wenn wir von Ritualen sprechen, dann sind diese häufig an den Glauben übernatürlicher Kräfte geknüpft und weisen meist starre Verhaltensmuster auf. Typisch ist oft das Bekreuzigen vor Betreten des Spielfeldes oder das Anziehen der Schuhe in einer bestimmten Reihenfolge. Im afrikanischen Fußball sind auch das Beschwören magischer Kräfte verbreitet.

Der symbolische Charakter von Ritualen kann unter gewissen Umständen entlastend auf die Spieler wirken, indem sie durch Ablenkung, die mentale Belastung mindern sowie Ungewissheit und Angst auf ein erträgliches Maß reduzieren. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass bei veränderten Umständen das Ritual oft nicht ausgeführt werden kann und sich negativ auf die Leistung auswirken kann. Ein Beispiel dazu ist das Champions League Achtelfinale 2009 zwischen Arsenal und AS Rom. Das Ritual des damaligen Arsenal Spielers Kolo Touré war, als letzter Spieler seines Teams den Rasen zu betreten. Und daran hielt er auch konsequent fest. Problematisch wurde es für Touré allerdings bei diesem Match gegen die Römer: Einer von Tourés Mitspieler hatte sich kurz vor der Halbzeit verletzt und wurde noch in der Kabine behandelt. Da der Schiedsrichter wieder zur zweiten Hälfte anpfeifen wollte, jedoch Touré keinesfalls als Vorletzter auf das Feld wollte, mussten seine Teamkollegen kurzzeitig mit neun Spielern aufs Feld. Erst als der behandelte Spieler wieder fit war, betrat auch Touré, natürlich als letzter Spieler Arsenals, den Rasen. 

Routinen haben direkten Einfluss auf die Leistung

Im Vergleich dazu haben Routinen direkten Einfluss auf die Leistung und verleihen Sicherheit und Vertrauen. Wenn zum Beispiel ein Spieler vor dem Match mittels einer Pre-Match Routine bewusst seinen idealen Erregungszustand herstellt, dann wirkt sich das positiv auf seine Leistung aus. Der Spieler steuert durch diese Routine gezielt seine physischen, mentalen und emotionalen Prozesse, ohne sich wie bei Ritualen auf irgendwelche Götter oder übersinnliche Kräfte zu verlassen. 

Ein zweites Unterscheidungsmerkmal ist, dass Routinen flexible Anteile beinhalten. Sie sollten so verinnerlicht werden, dass sie auch bei wechselnden Bedingungen vor dem Match angepasst werden können. Folgender Ausspruch beschreibt den Unterschied zwischen Ritualen und Routinen ganz gut:

„Whereas rituals often control athletes, athletes always control their routines“

Einsatzmöglichkeiten von Routinen

Die positive Wirkung von Routinen auf die sportliche Leistung ist unbestritten. Das zeigt eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten in verschiedenen Sportarten. Routinen werden dabei zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt, zum Beispiel zur Vorbereitung auf ein Match, aber auch zur Bewältigung von Misserfolgen. 

Im Allgemeinen unterstützen Routinen Spieler und Spielerinnen dabei, ihre Gedanken zu strukturieren, emotionale Stabilität zu erlangen, ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und auf aufgabenrelevante Informationen zu achten. Diese trainierten Verhaltensmuster helfen dabei, die Trainingsleistungen auch unter Wettkampfbedingungen abrufen zu können. So sagt Bill Beswick, der ehemalige Sportpsychologe von Manchester United: “Eine Routine kann definiert werden als eine Reihe von Vor-Leistungs-Verhaltensweisen, die in einem umfangreichen Plan organisiert sind und darauf abzielen, die Leistung zu optimieren.” 

Praktisches Beispiel für eine Halbzeitroutine im Fußball 

Nach der Belastung der ersten Spielhälfte ist es zunächst notwendig, dass sich die Spieler gedanklich und körperlich von der ersten Halbzeit lösen. Je nach Spieler muss zuerst einmal der Ärger oder die Freude herausgelassen werden. Im nächsten Schritt sollte dann bewusst auf Ruhe und Entspannung geschaltet werden. Mit einem ruhigen Geist können die Sportler den Anweisungen des Trainers leichter folgen und diese danach umsetzen. Dafür gibt es effiziente mentale Methoden, wo sich die Spieler schnell in einen kohärenten Zustand versetzen können.

Im letzten Abschnitt steht dann die körperliche und gedankliche Aktivierung im Vordergrund. Die Spieler müssen sich wieder auf die Anforderungen des Matches einstimmen und ihren Erregungsgrad, bis zum Anpfiff, kontinuierlich steigern. 

Tipp der Weltmeisterin

Fußball-Weltmeisterin Nia Künzer schreibt in ihrem Buch „Warum Frauen den besseren Fußball spielen“, dass der Sport von Ritualen und Routinen lebt. Dabei zitiert sie auch einen Absatz eines Artikels von mir in der Ausgabe des Sport Business Magazin über die Wichtigkeit von Routinen im Spitzensport. 

Meine Empfehlung an Sportler ist, sich ihre eigenen individuellen Routinen zu erarbeiten, die ihnen Sicherheit und Vertrauen geben. Gern helfen meine Kolleginnen und Kollegen (zur Übersicht) und natürlich auch ich (zum Profil von Wolfgang Seidl) weiter, wenn konkretes Interesse entsteht.

Mehr zum Thema:

Literatur:

Bill Beswick (2011). Mental gewinnen. Erfolgsfaktoren im Fußball, 69-70

Nia Künzer, Bernd Schmelzer (2023). Warum Frauen den besseren Fußball spielen, 167

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