Feature: Nur als Turniermannschaft zum Titel?

Bislang ist es noch nicht die WM der Favoriten. Nahezu jeder vermeintliche Titelkandidat tat sich bislang sehr schwer mit seiner Rolle und dem ersten Auftritt auf russischem Boden. Denken wir nur an das 0:1 des Weltmeisters aus Deutschland gegen Mexiko, das 1:1 der Argentinier gegen Island oder auch das in den Details beeindruckende Remis der Schweiz gegen Brasilien. Worin liegen die Gründe, dass die WM bislang ein Turnier der Überraschungen ist? Was hat es eigentlich mit dem Mythos Turniermannschaft auf sich? Oder wird es vielleicht sogar die WM, bei der die Mentalität die Individualität schlägt?

Zum Thema: Geheimnisse des Erfolges bei einer Fußball-Weltmeisterschaft

Cristina Baldasarre (zum Profil)

Vollkommen überraschend kommt der gute Auftritt der Schweizer Nati natürlich nicht. Schließlich hat das Team von Trainer Vladimir Pektovic in der WM-Qualifikation nur ein einziges Spiel gegen Portugal verloren. Die Eidgenossen machen aber bislang vor, was Selbstbewusstsein – wie es beispielsweise der deutsche Kapitän Manuel Neuer nach der Partie gegen Mexiko bei seiner Mannschaft vermisst hat – hervorrufen kann.

“Das 1:1-Unentschieden gegen Brasilien geht nicht auf Zufall oder glückliche Umstände zurück. Meiner Meinung nach war dieser Auftakterfolg die Ernte einer gut gelungenen Planung und dem Aufbau des Teams in allen Facetten. Eine besondere Rolle spielt für mich die Selbstwirksamkeit. Sprich: Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten. Dies ist ein zentraler Pfeiler für das Selbstvertrauen, welches sich aus mehreren Quellen nährt:

– Die individuelle Arbeit an erlebten, persönlichen Erfolgen: Persönliche Stärken kennen und immer wieder abrufen können. Damit sind aus sportpsychologischer Sicht nicht die Anzahl gewonnener Spiele gemeint, sondern vielmehr die persönlich gesteckten Ziele, vor allem in den Trainings. Solche persönlichen Erfolge und Erfahrungen konnten die Schweizer Spieler in den letzten zwei Jahren viele sammeln. Die Startelf vom Sonntag verdient sich ihre Sporen überall dort ab, wo die Konkurrenz herausfordernd ist … drei Akteure spielen in der Bundesliga, drei in der Premier League, drei in der Serie A, einer ist in Portugal und einer in der türkischen Liga anzutreffen.

– Als Team steht die Mannschaft schon seit längerem zusammen, was man zuletzt deutlich in den der WM vorangegangenen Freundschaftsspielen sehen konnte. Der Trainer Vladimir Petkovic hat mit seiner fordernden und gleichzeitig fairen Art die Mannschaft deutlich geprägt und ihr auch hinsichtlich Taktik und Strategie neue Impulse gegeben. Er lebt seine Idee von Fussball vor, mit viel Ruhe und psychologischem Geschick, ohne Schnick-Schnack. Er ist den Spielern wohlgesonnen und weiß um die individuellen Stärken – was einer Vertrauensspritze gleichkommt. Das ist der Nährboden für grosse Leistungen, wie wir es am Sonntag beispielsweise von Valon Behrami gegen Neymar sehen konnten. Petkovic weiss auch um die grosse Kraft des eingeschworenen und konstanten Teams, welches gewohnt ist zusammen zu spielen und einander vertraut.”

Thorsten Loch (zum Profil)

Beeindruckt haben Thorsten Loch allein schon die Minuten vor dem Anpfiff des Spiels Panama gegen Belgien. Mit voller Inbrunst und Überzeugung schrien die Spieler des WM-Debütanten kurz vor Anpfiff ihre Hymne in den Himmel von Sotschi. Einige hatten dabei sogar Tränen in den Augen. Ist diese Hingabe möglicherweise dafür ausschlaggebend, dass die vermeintlichen Außenseiter als Team die Stars um Messi und Co. bis dato vor enorme Schwierigkeiten stellen? Ist dies eine Hingabe, die Turnierfavoriten nur schwerlich entwickeln können?

“In der Wissenschaft ist bekannt, dass eine emotionale Kraftquelle existiert, die der Einzelne aus der Mannschaft beziehen kann. In diesem Zusammenhang wird die Kraftquelle als Synergie bezeichnet. Darunter ist die vollkommene Zugehörigkeit zu einer Mannschaft zu verstehen, ohne dabei seine Individualität aufzugeben (vgl. Baumann, 2001). Das Erleben der harmonischen Zusammenarbeit und die Begeisterung für die gemeinsame Aufgabe stellt eine Quelle für jeden Einzelnen dar. Die schöpferische Kraft, die Energie und die Stärke jedes Einzelnen vereinen sich in der Summe als gemeinsame Mannschaftsleistung. Synergie entsteht durch die Lust und Freude, Mitglied einer Mannschaft (Stolz) zu sein, durch das gemeinsame Erlebnis des Miteinanders und der gemeinsamen Aufgabe als Herausforderung.

Wichtig: Damit Synergieeffekte eintreten, bedarf es Zeit. Unsicherheit, Misstrauen oder gar Feindseligkeit/Neid verhindern die Entstehung. Mannschaften sollten aus diesem Grund möglichst einen längere Zeit zusammenbleiben, damit das nötige Vertrauen und Verstehen zwischen den Spielern aufgebaut werden kann. Auch hier bietet das Feld der Sportpsychologie den Trainern und Mannschaften Methoden, wie sie diese Grundbausteine aufbauen können. Die WM-Debütanten Island (1:1 gegen Argentinien) oder auch Panama, trotz der am Ende deutlichen 0:3-Niederlage gegen Belgien, haben Synergieeffekte spürbar werden lassen: Die Mannschaftsleistung war größer als die Summe der Einzelleistungen.”

Dr. Hanspeter Gubelmann (zum Profil)

Mythos Turniermannschaften. Die Sportwissenschaft scheint zumindest wenig Gefallen daran zu finden. Die Recherche zu validen Studien fällt bescheiden aus, was auch der schwierigen Fassbarkeit des Begriffs „Turniermannschaft“ geschuldet ist. Eine 2010 an der Uni Duisburg Essen durchgeführte Untersuchung zeigte, dass bei den letzten neun Fußballwelt- und -europameisterschaften die DFB-Elf gerade einmal in 25 Prozent der Wettkämpfe ihre Leistungen der Vorjahre toppen konnte. Die Autoren folgerten daraus, dass sich Deutschland – im Gegensatz etwa zu England (das sich um 67% steigerte!) – gemessen am Merkmal der „Leistungssteigerung“ nicht als Turniermannschaft bezeichnen kann! Anmerkung: Die Studie stammt aus dem Jahr 2010, insofern ist der Gewinn des Weltmeistertitels nicht in die Betrachtung eingeflossen. Ein mögliches Ausscheiden Deutschlands in der Vorrunde bei der WM 2018 würde die Untersuchung aber schon wieder stützen. Zahlenspielerei…

Wird für der Bezeichnung „Turniermannschaft“ aber ein anderes Merkmal zugeschrieben, nämlich die tatsächlich an Weltmeisterschaften erzielten Erfolge (z.B.  Finalteilnahmen, Titel), gebührt der Titel „Turniermannschaft“ insbesondere drei Teams: Brasilien (5 Titel), Deutschland und Italien (je 4 Titel). Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, dieser Fassung von „Turniermannschaft“ vier plausible sportpsychologische Erklärungsansätze zuzuordnen.

Selbstverständnis, Status und eigener Anspruch

In Brasilien, Deutschland und Italien ist Fussball DIE Nationalsportart Nr. 1. Die Verankerung des Fussballsports in der Gesellschaft, das gewaltige öffentliche Interesse in Verbindung mit der breiten Unterstützung und Förderung der Sportart selbst, befeuert das Selbstverständnis hinsichtlich Erfolgsaussicht und Erfolgserwartung. Dieses Selbstbewusstsein verbunden mit dem Vertrauen in das eigene Leistungsvermögen verkörpern die Weltklassespieler dieser Länder schliesslich auch auf dem Fussballfeld!

Ein gut vorbereiteter Favorit kommt durch!

Um es mit Sepp Herbergers Ansatz zu verdeutlichen, der seine Turniermannschaft jeweils topfit, hochmotiviert, kraftvoll und taktisch brillant an die Endrunde zu führen wusste: an Weltmeisterschaften setzt sich die optimale Kombination von spielerischem Potential und zielgerichteter Vorbereitung durch! Interessant dabei ist die Feststellung, dass an den Weltmeisterschaften 2002 (Brasilien), 2010 (Spanien) und 2014 (Deutschland) die jeweils auf Rang 2 des FIFA-Rankings geführte Nationalmannschaft den Titel gewann. Einzig 2006 setzte sich mit Italien eine andere „Turniermannschaft“ durch, die in der Vorbereitungszeit nicht in den Top-3 des Rankings vertreten war.

Das Team als Star – auch nach einer Niederlage!

Berti Vogts prägte in seiner Zeit als Nationaltrainer das Bonmot: „Die Mannschaft ist der Star“. Damit meinte Vogts insbesondere jene Solidarität und Aufopferungsbereitschaft, die das Team auf und auch neben dem Spielfeld während einem vierwöchigen Turnier zum Erfolg führt.

Eine positive Teamdynamik ist insbesondere nach sportlichen Niederlagen und in der Verarbeitung medialer Kritik gefragt. Jogi Löw steht vor der Herausforderung, mit seinen Interventionen das Vertrauen in das Kollektiv und die eigenen Fähigkeiten zu stärken, um aus einer Gruppe verunsicherter Einzelspieler wieder eine Erfolgsgemeinschaft zu formen. Eine durchaus neue, ungewohnte Situation, wie er in seiner ersten Analyse nach dem verlorenen Spiel gegen Mexiko eingestand.

Mentale Stärke in spielentscheidenden Situationen notwendig!

Echte Turniermannschaften sind stark vom Elfmeterpunkt. Zahlreiche WM-Partien in der K.O.-Phase müssen durch das Penaltieschiessen entschieden werden. Auch hier gibt die Statistik eine klare Antwort auf die Frage, wer sich in dieser Disziplin potentieller Turniermannschaften besonders hervortut. Deutschland steht in dieser Rangliste mit 4:0 Erfolgen an erster Stelle, gefolgt von Argentinien (4:1) und Brasilien (3:1). Einsam an letzter, 26. Stelle dieses Rankings: England (0:3) Anders als die Deutschen scheinen die Briten die Gelassenheit am Punkt zu verlieren, dem so genannten „choking under pressure“ zu erliegen (vgl. Beilock & Carr, 2001).

Unter sehr hohem psychischen Druck führen störende Gedanken zu einer Verunsicherung, die sich negativ auf die Präzision einer ansonsten automatisierten Bewegungshandlung auswirkt. Aus sportpsychologischer Sicht bemerkenswert: Standards wie Freistösse oder Penalties lassen sich sehr effizient auch mental trainieren, was aber vor dieser WM auch die englischen Spieler von Trainer Gareth Southgate (wer Zeit hat, bitte mal Elfmeterschiessen und Southgate googeln) versucht haben sollen!

Und am Ende gewinnt Deutschland!

Die Ausgangslage nach Abschluss der ersten Runde in der Gruppenspielphase präsentiert sich auch aus sportpsychologischer Sicht sehr interessant. Von den drei designierten Turniermannschaften Deutschland, Brasilien und Argentinien hat keine wirklich überzeugen können. Dagegen hat sich Belgien, Nr. 3 des aktuellen FIFA-Rankings, mit einer soliden Teamleistung gegen Panama durchgesetzt und positioniert sich nach 20 Spielen ungeschlagen als valabler Meisterschaftskandidat!

Vor einer besonderen und ungewohnten Bewährungsprobe steht das deutsche Team. Vielleicht sollten sich Jogis Jungs ein Stück Zuversicht auch aus Gary Linekers humorvollen Zitat abschneiden. “Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans always win.”

 

Quellen:

Beilock, S.L. & Carr, T.H. (2001). On the fragility of skilled performance: What governs choking under pressure? Journal of Experimental Psychology: General, 130, 701- 725.

https://de.fifa.com/fifa-world-ranking/ranking-table/men/index.html

http://www.bisp.de/SharedDocs/Downloads/Publikationen/Jahrbuch/Jb_2004_Artikel/Maurer_Munzert.pdf?__blob=publicationFile

http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball-em/fussball-em-2016-mythen-wissen-ueber-elfmeterschiessen-14298205.html

https://rp-online.de/sport/fussball/wm/dfb/markenzeichen-turniermannschaft_aid-12753797

 

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de