Christian Bader: Sportpsychologie – wir haben ein Problem

Die Sportpsychologie ist zur grossen und bunten Werkzeugkiste des Sports geworden. Atemübungen gegen Nervosität, Visualisierung für bessere Leistung, Selbstgespräche für mehr Motivation. Diese Sammlung mag funktional erscheinen – doch sie verfehlt möglicherweise das Wesen dessen, was mentale Exzellenz wirklich ausmacht. Das Problem: Wir reparieren Symptome, statt Systeme zu verstehen.

Zum Thema: Vom Defizit-Modell zur mentalen Exzellenz 

Der sportpsychologische Ansatz, der sich im Sport aus meiner Sicht bisher etabliert hat, folgt oft einem Defizit-Modell: Problem identifiziert, Technik angewandt, Problem gelöst. Stellen Sie sich vor, ein Mechaniker repariert immer nur einzelne Autoteile, ohne zu verstehen, wie das ganze Fahrzeug funktioniert. Genau das passiert oft in der Sportpsychologie: Wir behandeln Aufmerksamkeit, Aktivierung und Zielsetzung als getrennte Baustellen, anstatt sie als integriertes System zu begreifen. 

Die Sportpsychologen zeigen im Beitrag vom 25. Jänner 2025 (In den Köpfen und zwischen den Ohren… Sportpsychologie im Biathlon | Die Sportpsychologen) das Gegenteil: Wie die drei Ebenen Attention (Tunnelblick-Fokussierung auf das Ziel), Intensity (Druckregulation durch Entspannungstechniken) und Intent (klare Absicht des erfolgreichen Schiessens/Treffens) ein selbstverstärkendes System bilden. AthletInnen lernen, sich der der (brutal) hohen Intensität hinzugeben, in dem sie physische, mentale (kognitive Ebene) und emotionale (Gefühls Ebene) Aspekte berücksichtigen, statt nur auf ein Punkt einzugehen oder diesen zu eliminieren versuchen. 

Die Illusion der Durchgriffskausalität

Das klassische Mentaltraining folgt einem naiven Modell: Problem identifiziert → Technik angewandt → Problem gelöst. Wie ein Lichtschalter: Drücken und das Licht geht an. Doch das menschliche System funktioniert nicht wie eine Maschine!

Die Realität im Training sieht daher oft so aus:

  • Athlet lernt Entspannungstechnik
  • Im Wettkampf funktioniert sie nicht
  • Trainer ist ratlos: „Wir haben das doch geübt!“

Warum? Weil das System Athlet bestimmt, wie es auf unsere Interventionen reagiert – nicht umgekehrt.

Die drei fatalen Denkfehler der modernen Sportpsychologie

1. Der Defizit-Mythos 

Nervosität = schlecht, Entspannung = gut. Ablenkung = Problem, Konzentration = Lösung. Diese Schwarz-Weiss-Malerei ignoriert die Funktionalität mentaler Zustände. Manchmal ist Nervosität genau das, was ein Athlet braucht.

2. Die Werkzeugkiste-Illusion 

Wir sammeln Techniken wie Briefmarken. Progressive Muskelentspannung hier, Visualisierung dort. Doch mentale Exzellenz entsteht nicht durch Addition von Methoden, sondern durch das harmonische Zusammenspiel psychologischer Systeme.

3. Die Kontroll-Fantasie 

„Du musst nur wollen!“ – Als ob mentale Prozesse per Befehl funktionieren würden. Doch Spitzenleistung entsteht oft gerade dann, wenn wir loslassen statt krampfhaft zu kontrollieren.

Was die Systemtheorie uns lehrt

Hier wird’s interessant: Organisationen können nichts vermittelt bekommen – sie können es nur selbst entdecken. Das gilt auch für das „System Athlet“. Unsere Aufgabe als Trainer und Berater ist nicht, Lösungen zu liefern, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen Athleten ihre eigenen optimalen Muster entwickeln.

Der Paradigmenwechsel: Von der Reparatur zur Navigation

Statt zu fragen: „Wie eliminiere ich Nervosität?“, fragen wir: „Welche Funktion hat diese Nervosität?“ Statt zu fordern: „Konzentrier dich!“, schaffen wir: „Bedingungen für flexible Aufmerksamkeit“. Statt „Die richtige Technik“ zu trainieren, entwickeln wir: „Adaptive Regulationsfähigkeit“.

Warum Trainer diese Perspektive brauchen? Weil die Realität im Leistungssport komplex ist:

  • Ein Spieler braucht Power-Musik, der andere Ruhe
  • Was gestern funktionierte, versagt heute
  • Mentale Stärke zeigt sich nicht in Perfektion, sondern in flexibler Anpassung

Die Lösung: Integration statt Isolation

In den nächsten Wochen zeige ich Ihnen, wie Attention (Aufmerksamkeit), Intensity (Aktivierung) und Intent (Absicht) als integriertes System funktionieren. Nicht als einzelne Werkzeuge, sondern als orchestrierte Symphonie mentaler Exzellenz.

Sie erfahren: Warum „Konzentrier dich!“ oft kontraproduktiv ist, weshalb manche Athleten bei hoher Nervosität ihre beste Leistung zeigen und wieso „Ich will gewinnen!“ häufig zur Niederlage führt.

Die unbequeme Wahrheit

Die Sportpsychologie muss erwachsen werden. Weg von der Symptombekämpfung, hin zum Systemverständnis. Weg von der Werkzeugkiste, hin zur adaptiven Navigation.

Denn mentale Exzellenz ist kein Schalter, den man umlegt. Sie ist ein lebendiges System, das verstanden, nicht repariert werden will.

Die entscheidende Frage für Sie als Trainer: Wollen Sie weiterhin einzelne mentale „Probleme“ reparieren – oder Bedingungen schaffen, unter denen sich mentale Exzellenz von selbst entwickelt?

Hinweis: Ich freue mich auf Basis meiner kritischen und vielleicht spitz formulierten Töne auf Austausch, sowohl innerhalb des Netzwerks (zur Übersicht) als auch von außen. Meine Kontaktdaten stehen auf meiner Profilseite: Zur Profilseite von Christian Bader

Mehr zum Thema:

Literatur: 

Weinberg, R. S. & Gould, D. (2019). Foundations of Sport and Exercise Psychology (7th Edition). Human Kinetics.

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