Dr. Hanspeter Gubelmann: Wenn es Alexander Zverev nicht genügt, «sein Herz in die Hand nehmen»

Bauchlandung, Debakel, Blamage: Für Alexander Zverevs Erstrunden-Aus in Wimbledon bedienen sich Sportredaktoren vieler Medien zuoberst im Phrasenkatalog desaströser Beschreibungen einer sportlichen Niederlage. Dabei geht beinahe unter, wie offen und ehrlich der Tennisspieler sein Ausscheiden deutet. Wer verstehen will, wie es um das Innenleben des Sportlers bestellt ist, braucht ihm bloss zuzuhören. Da spricht ein junger, erfolgreicher Mann, dem seine Lebensfreude offensichtlich abhanden gekommen ist. 

Zum Thema: Mentale Stärke und physische Gesundheit

Um es sportlich einzuordnen: Erstrunden-Niederlagen von Top-Spieler:innen im Londoner Rasentennis-Mekka gehören aktuell zur Normalität – wie die legendären Erdbeer-Sahne-Törtchen – sie versüssen beide auf ihre Art den Sportgenuss für uns Zuschauer:innen. Neben Zverev schieden drei weitere Top-10 Spieler in ihren Erstrundenpartien aus. Im Frauenturnier erwischte es mit Coco Gauf (Nr.2) Jessica Pegula (Nr.3) und Olympiasiegerin Zheng Qinwen (Nr.6) ebenfalls sehr arrivierte Spielerinnen. Allesamt bittere Erfahrungen für die Betroffenen: überraschend, unrühmlich, ärgerlich und vielleicht auch verunsichernd. Eine Ursachenzuschreibung scheint oft einfach und logisch. «Prime»-Expertin Andrea Petkovic ortet das Übel in Zverevs Niederlage in fehlender Entschlossenheit und Angriffslust, er spiele durchwegs ängstlich und passiv. «Da muss er einfach sein Herz in die Hand nehmen. Das ist aber genau das, wo es heute hakt.»

Ein individueller, wesentlich subtilerer Umgang mit derartigen Niederlagen zählt zu den Kernanliegen sportpsychologischer Unterstützung. Ausgangspunkt dazu bieten Überlegungen zum «winning mindset» (vgl. Dweck, 2012) der Spitzensportler:innen. Dieses speist sich u.a. aus einem positiven, lernförderlichen Verarbeiten sportlicher Rückschläge. Der ehemalige Skirennfahrer Marco Büchel (LIE) umschrieb es mir einmal so: «Siege und Erfolge geniesst du, aus Niederlagen lernst und reifst du. Beide Erfahrungen sind gleichermassen wichtig für deine sportliche Karriere». 

Mentale Stärke allein reicht nicht!

Ein positiver Umgang mit Niederlagen zielt erstrangig auf eine Erhöhung der mentalen Stärke ab. Die Direktive lautet: beim nächsten Mal – dann wenn’s wieder zählt – werde ich bereit sein und meine spielerische Leistungsfähigkeit erfolgreich(er) abrufen. Einen ersten Aufschluss zum «Wie weiter?» liefern die betroffenen Spieler:innen sehr oft in ihren Statements gegenüber den Medien, z.B. im Rahmen von Pressekonferenzen. Im Fall von Alexander Zverev präsentiert sich diese Ausgangslage aber gänzlich anders. Seine Statements klingen düster, gequält und zuweilen ratlos. Seine berührend-offene Beschreibung seiner Gemütslage (vgl. sporty.com) lassen sich in folgenden Kernaussagen bündeln.

  • Ich fühle mich einsam in meinem Leben (ausserhalb des Tennisplatzes);
  • Ich quäle mich mental und schaffe es nicht aus diesem Loch herauszukommen;
  • Ich finde keine Freude in meinem Alltag;
  • Ich habe mich noch nie so (hilflos) gefühlt in meinem Leben;
  • Ich habe mich in meinem Leben noch nie so leer gefühlt – die Lebensfreude fehlt, selbst wenn ich Matches wie in Halle oder Stuttgart gewinne;
  • Vielleicht brauche ich zum ersten Mal in meinem Leben Therapie.

Überforderung, Demotivation und Hilflosigkeit

Allein der Wortlaut dieser Aussagen schmerzt und macht betroffen. Ausdruck, Tonalität und Körpersprache im Video (siehe sporty.com) lassen erahnen, wie schwer sich Zverev mit seiner Situation tut, wie sehr er um Halt und Erklärungen ringt. Bemerkenswert ist, wie er von Bild online zitiert wird: „Es ist das Gefühl, als würde man ins Bett gehen und ist einfach nicht motiviert für den nächsten Tag. Man hat keine Lust, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Dieses Gefühl kennt jeder, egal, welchen Job man hat. Als Sportler beeinflusst es die Leistung stark. Genau das habe ich gerade.“

Ich kenne Alexander Zverev nicht persönlich. Es steht mir in keiner Art und Weise zu, ihm Ratschläge zu erteilen. Es kann und darf nicht Inhalt dieses Blogs sein, hier eine psychologische Ferndiagnose zu stellen. Stattdessen soll versucht werden, ein tiefgreifenderes Verständnis hinsichtlich der Komplexität der Thematik zu vermitteln – dann nämlich, wenn Athleten:innen Gefahr laufen, den Halt unter den Füssen zu verlieren. Im Fachjargon sprechen wir von «Floundering» – ein Zustand der Überforderung, Demotivation und Hilflosigkeit.

Flourishing – nur mit mentaler Gesundheit erreichbar!

Aus dem Zusammenspiel von mentaler Stärke (Toughness) und psychischer Gesundheit (vgl. Abb. 1) lassen sich unterschiedliche psychophysische Zustände, Erlebens- und Verhaltensweisen beschreiben. Ebenso lässt sich daraus die Notwendigkeit und eine allenfalls angezeigte Dringlichkeit einer (sport-)psychologischen Intervention ableiten. Das Modell erklärt beispielsweise, dass sportliche Spitzenleistungen auch trotz psychischer Erkrankungen durchaus möglich sind, die dabei errungenen Siege möglicherweise unter Aufbringung aller psychischer Ressourcen erkämpft wurden – wie das Beispiel des U.S.-amerikanischen Schwimmers Michael Phelps zeigt, der in seiner langen und erfolgreichen Karriere immer wieder unter seiner diagnostizierten Depression litt. Unter einer ganz anderen Symptomatik leidet dagegen der „Trainingsweltmeister“, dem es tatsächlich an mentaler Stärke in der Wettkampfsituation mangelt und in seiner Leistungsentwicklung stagniert (Languishing), von psychischen Erkrankungen aber weitgehend verschont bleibt. Wiederum völlig anders präsentiert sich die Lebenslage eines psychisch erkrankten, mental angeschlagenen Athleten (Floundering), der dringend auf psychotherapeutische Unterstützung angewiesen ist.

Längerfristige, «gesunde» sportliche Leistungsfähigkeit im Spitzensport setzt demgegenüber die Konvergenz von mentaler Stärke und psychischer Gesundheit voraus. Hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung der psychischen Gesundheit orientiere ich mich an Küttel & Larsen (2019). Sie bezeichnen in ihrem Übersichtsartikel «mental health» „… as a resource for a successful and sustainable sports career. We advocate that future studies include the whole spectrum of the mental health continuum (i.e. from languishing to flourishing; Keyes, 2002) with an increased focus on the role of the (sport) environment and the athlete-environment fit.“ 

Wie weiter? Sportpsychologische/ -therapeutische Angebote

In mehr als 35 Jahren Berufserfahrung als Sportpsychologe im Spitzensport bin ich einigen Athlet:innen begegnet, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten, wie wir sie jetzt von Alexander Zverev hören. In folgenden Themenfeldern können die professionell ausgebildeten Kolleg:innen unseres Netzwerkes die-sportpsychologen.de (zur Übersicht) wertvolle Unterstützung anbieten:

  • Stabilisierung, Verständnis und Unterstützung: Wo und wie erhält der/die Athlet:in kurzfristig positiven Rückhalt in der akuten Krise?
  • Vertrauen und zwischenmenschlicher Rückhalt: Wer und wo sind die Bezugspersonen, die den/die Sportler völlig unabhängig von seinen/ihren sportlichen Erfolgen wertschätzen?
  • Einordnung, Klärung und Ausrichtung: Wann ist ein «teachable moment», z.B. hinsichtlich einer Psychotherapie-Abklärung, sozialpsychologischen Anamnese u.a.m.
  • Distanzierung und Zuwendung: Wer gibt dem/der Sportler:in Support (im Sportsystem)? Wo sind die Konfliktfelder?
  • Anleitung zum Selbstschutz: z.B. Distanzierung von «Ratgebern»
  • Umgang mit Medien: Wo sind die inhaltlichen «red flags»?
  • Ressourcenmanagement: Ist ein Rückzug (z.B. Saisonunterbruch, Urlaub etc.) angezeigt?
  • Eigene Werte und Prioritäten im Leben: Was ist dem/der Sportler:in besonders wichtig?

Epilog

Nachdenklich stimmt mich Zverevs Aussage zum familiären Kontext. Angesprochen auf seine Tochter Mayla, sagte er im Interview: „Meine Tochter macht mich generell glücklich, das ist die Person, die mich am glücklichsten macht in meinem Leben. Aber sie ist vier. Normalerweise muss es andersrum sein, ich muss ihr Energie geben, ich muss sie glücklich machen und nicht andersrum. Das kann es nicht sein.“ Vielleicht gibt es tatsächlich Wichtigeres im Leben als eine Erstrunden-Niederlage in Wimbledon.

Mehr zum Thema:

Quellen:

Dweck, C. S. (2012). Mindset: How you can fulfill your potential. Constable & Robinson Limited.

Keyes, C.L.M. (2002). The mental health continuum: From languishing to flourishing in life. Journal of Health and Social Behavior, vol.43/2,pp.207-222.

Küttel, A. & Larsen, C.H. (2019). Factors affecting elite athletes’ health: a systematic review. In: Strauss, Halberschmidt et al. (Eds). Abstract Book of the 15. FEPSAC Kongress, 15.-19. Juli 2019 in Münster, p.184.

https://sporty.com/news/video/quite-alone-in-life-zverev-opens-up-on-personal-struggles-after-wimbledon-exit/1pkz3964napkn1cmiyrjh1wnc4

https://www.blick.ch/sport/tennis/zverev-gesteht-mentale-probleme-ich-fuehle-mich-im-moment-ziemlich-allein-im-leben-id21012796.html

https://www.focus.de/sport/tennis/als-zverev-sein-wimbledon-match-wegwirft-sagt-tv-expertin-bezeichnende-saetze_d9d0f00c-f14b-4c34-895c-7b9a850a8db0.html

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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