Christian Bader: Zeit spielt mit – Mentale Stärke braucht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Stell dir vor, du sitzt mit einer 15-jährigen Nachwuchsspielerin zusammen. Sie erzählt: „Letzte Woche hab ich im Training super gespielt. Im Wettkampf war alles weg.“ Was ist passiert? Die übliche Antwort: „Du warst zu nervös.“ Doch die Wahrheit ist komplexer und viel spannender.

Zum Thema: Zeitliche Dimensionen mentaler Regulation im Leistungssport – Eine integrative Perspektive

Viele Nachwuchszentren arbeiten im mentalen Bereich noch immer nach dem Rezeptbuch-Prinzip: Nervös? Hier, eine Atemübung. Unkonzentriert? Probier’s mit Visualisierung. Problem gelöst? Nicht wirklich.

Denn diese Herangehensweise übersieht etwas Entscheidendes: Mentale Prozesse sind keine Schalter, die man umlegt. Sie sind lebendige Systeme, die sich ständig gegenseitig bedingen. Es geht darum, die aktuelle Situation eines Menschen in einen Kontext zu bringen und auf verschiedenen Ebenen zu beginnen, sportpsychologisch oder als Mentaltrainer zu unterstützen. In einem kürzlich erschienenen Magazin wurde der Zeitaspekt in Bezug auf Changemanagement in Organisationen beleuchtet. Was gestern funktioniert hat, klappt heute vielleicht nicht. Und was morgen wichtig wird, baust du heute auf. Mir fällt auf, dass die Dimension Zeit im Kontext der Sportpsychologie gänzlich fehlt. 

Ich lade Dich ein, mit einem neuen Blick auf ein Thema zu schauen, welches zunächst ziemlich abstrakt und wenig greifbar klingt. Ich versuche es, das Thema in einer stark reduzierten Form darzustellen und eine praktikable Anschlussfähigkeit herzuleiten. 

Die drei Zeiten der Aufmerksamkeit

Vergangenheit: Dein unsichtbares Archiv

Jede Trainingsstunde, jedes Spiel, jeder Moment voller Konzentration speichert sich ab. Nicht als bewusste Erinnerung, sondern als Muster. Diese Muster sind wie gut eingelaufene Schuhe: Sie fühlen sich vertraut an, auch wenn sie nicht immer passen.

Ein Beispiel: Ein junger Torhüter hat früh gelernt, bei hohen Bällen hyperkonzentriert zu sein. Das war damals richtig. Heute, drei Jahre älter und 15 Zentimeter grösser, verkrampft er genau bei diesen Situationen. Sein Aufmerksamkeitsmuster aus der Vergangenheit arbeitet gegen ihn.

Was Trainer tun können:

  • Fragt nicht nur „Was machst du?“, sondern „Wann hast du das zum ersten Mal so gemacht?“
  • Helft junger Athlet*innen zu verstehen: Alte Muster sind nicht schlecht, sie hatten mal einen Sinn und dienten der Lösungen. 
  • Macht vergangene Erfolge sichtbar: „Erinnerst du dich, als du letztes Jahr bei diesem Druck eiskalt geblieben bist? Das steckt noch in dir.“

Gegenwart: Die Kunst des Wechselns

Im Hier und Jetzt geht’s um Flexibilität. Nicht darum, ein „perfektes“ Aufmerksamkeitsmuster zu haben, sondern zwischen verschiedenen Modi wechseln zu können – wie zwischen den Gängen beim Fahrrad.

In einem meiner Texte ging ich auf die Hypervigilanz ein. Dieses überdrehte, alles-gleichzeitig-wahrnehmen ist nicht dein Feind. Ein Formel-1-Fahrer braucht diese Multi-Kanal-Alertness. Würde er sich entspannen, wäre das fatal. 

Die Frage ist nie: „Ist mein Fokus gut oder schlecht?“ Die Frage ist: „Passt er zu dem, was gerade gefordert ist?“

Schlüsselkompetenz für junge Athlet*innen: Entwickelt einen „inneren Beobachter“. Jemanden in euch, der mitbekommt: „Ah, ich bin gerade eng fokussiert. Ist das jetzt hilfreich?“ Diese Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ist Gold wert.

Praktisch im Training:

  • „Aufmerksamkeits-Check-ins“: Pfeife, kurze Pause, Frage: „Wo war dein Fokus gerade?“
  • Trainiert bewusste Aufmerksamkeitswechsel: „Die nächsten drei Pässe: erst breiter Blick übers Feld, dann enger Fokus auf den Ball.“
  • Macht Störungen zum Teil des Trainings, nicht zum Ärgernis: „Heute trainieren wir mit Lärm (offene Fenster, sehr laute Musik, 1 zweites Team, das in der Halle einläuft und laut sein darf). Eure Aufgabe: Merkt, wenn ihr abgelenkt werdet, und findet zurück.“

Zukunft: Der vorausschauende Fokus

Und jetzt wird’s richtig interessant: Du kannst deinen zukünftigen Fokus vorprogrammieren.

Stell dir einen Elfmeterschützen vor. Bevor er anläuft, entscheidet sein Gehirn bereits: „In zwei Sekunden werde ich nur noch den Ball sehen. In vier Sekunden nur noch meine Beinbewegung.“ Diese Vorausplanung schafft eine Brücke zwischen jetzt und gleich.

Für die Praxis:

  • Vor komplexen Übungen: „Was wird dein erster Fokuspunkt sein? Dein zweiter? Dein dritter?“
  • Nach missglückten Versuchen nicht nur fragen „Was ist schiefgelaufen?“, sondern „Wo sollte dein Fokus hin? Wo ist er tatsächlich hingewandert?“
  • Das ist ein wesentliches Element (Intensität). Also das bewusste Wahrnehmen des Jetzt und Hier.

Vergangenheit als persönliche Datenbank

Dein Körper merkt sich alles. Jede Situation, in der du nervös warst und trotzdem abgeliefert hast. Jeden Moment, wo Entspannung zum Fehler führte. Das ist deine biografisch gewachsene „Erfahrungsdatenbank“.

Manche Spieler*innen brauchen Nervosität wie Treibstoff. Andere laufen bei Anspannung gegen eine Wand. Beides ist ok aus meiner Sicht, solange man es weiss.

Wichtig für Trainer: Hört auf, allen das Gleiche zu empfehlen. „Entspann dich“ kann für manche Athlet*innen der schlechteste Rat sein. Helft jedem Einzelnen, sein persönliches Intensitätsprofil zu entdecken. 

Gegenwart: Zwischen den Polen navigieren

Vergiss die Idee von „guter“ und „schlechter“ Nervosität. Die Frage ist: „Ist diese wahrgenommene Intensität in dieser Situation nützlich?“

Ein Weitspringer beim Anlauf? Braucht Power, Anspannung, Explosivität. Derselbe Weitspringer beim Techniktraining am Morgen? Braucht Ruhe, Achtsamkeit, Feinmotorik.

Du kannst nicht nur planen, worauf du achtest, sondern auch, wie intensiv du sein willst. „In fünf Minuten steige ich schrittweise hoch. Beim Aufwärmen 60%, beim ersten Zweikampf 80%, ab Minute 15 volle Pulle.“

Diese Vorausplanung gibt Sicherheit und verhindert, dass du entweder zu früh verbrennst oder zu spät «in Fahrt» kommst. Oder anders ausgedrückt: Du weisst wie eine Spitzenköchin, wann das Essen «à point» ist.

Konsequenzen für die Sportpsychologie

Für die sportpsychologische Theorie und Praxis ergeben sich mehrere Konsequenzen. Erstens erfordert effektive mentale Regulation ein explizites Verständnis von zeitlicher Koordination. Interventionen sollten nicht nur auf Einzelkonstrukte zielen, sondern deren zeitliche Verschränkung adressieren. Zweitens verschiebt sich der Fokus von Elimination unerwünschter Zustände zu deren kontextsensitiver Regulation. Das dichotome Paradigma von richtig und falsch wird durch die Frage nach situativer Funktionalität bzw. Nützlichkeit ersetzt.

Drittens offenbart die zeitliche Perspektive die Notwendigkeit metakognitiver Kompetenzen. Athleten benötigen nicht nur technische Fertigkeiten der Aufmerksamkeits- oder Intensitätssteuerung, sondern die Fähigkeit zur reflexiven Beobachtung eigener mentaler Prozesse in ihrer zeitlichen Dynamik.

Fazit 

Die Integration der Zeit in sportpsychologische Modelle bietet somit einen konzeptuellen Rahmen, der über die Toolbox-Mentalität hinausweist und mentale Regulation als zeitlich koordinierte Systemdynamik versteht. Die zentrale Frage lautet nicht mehr, welche Technik angewendet werden soll, sondern wie die Zeitdimension zwischen vergangenen Mustern, gegenwärtiger Regulation und zukünftiger Intention funktioniert. 

Mehr zum Thema:

Literatur:

Picht, Georg: Auffassung der Zeit, SpringerLink

Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Suhrkamp

Eidenschink, Klaus; Merkes Ulrich: Entscheidung ohne Grund, Vandenhoeck + Ruprecht

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