Ich musste ein paar Tage verstreichen lassen, bevor ich zu Alexander Zverev etwas schreiben konnte. Spannenderweise habe ich mir einige seiner Spiele im Vorfeld von Wimbledon im Turnier in Halle angeschaut. Schon hier beschlich mich das Gefühl, dass trotz der Erfolge (Erreichen des Halbfinales) und auch guten Leistungen gerade in den Spielen gegen die beiden Italiener im Achtel- und Viertelfinale, Alexander Zverev sich gequält hat. Dies war an seiner Mimik und Gestik abzulesen, der Körper signalisierte nach außen, dass ihm dieses „Spiel“ nicht spielerisch von der Hand ging, obwohl er teilweise hervorragendes Tennis spielte. Doch in manchen Situationen fehlte anscheinend die letzte Konzentration, manchmal auch die Lockerheit. Es sah so aus, als „kämpfte“ Alexander Zverev Tennis, ohne einen Anflug von Lächeln bei gelungenen Bällen oder Freude über seinen Sieg. Was mir jedoch noch auffiel, da ich schon lange keine ganzen Matches mehr geschaut hatte, war, dass auch das Niveau der beiden in der Weltrangliste hinter ihm liegenden Italiener sehr hoch war und ihre Motivation Zverev schlagen zu wollen, extrem ausgeprägt schien. Damit müssen die Favoriten ständig leben, sie sind die Gejagten.
Ich weiß, hierin liegt viel Interpretation von Bildern, Mimik und Gestik, die auch von meiner Seite auch falsch sein können. Doch ich war nicht überrascht, als ich vom Erstrundenaus von Alexander Zverev in Wimbledon hörte. Es hatte sich in Halle aus meiner Sicht angekündigt. Überrascht haben mich dann doch die offenen Worte Alexander Zverevs. In Kreisen von Die Sportpsychologen sprachen wir oft darüber, dass Alexander Zverev ein Entwicklungsfeld im Bereich des mentalen Trainings haben könnte. Dass es jedoch so tiefgreifend in sein ganzes Leben hineinspielt, wurde erst jetzt offensichtlich.
Zum Thema: Viel Unterstützung, gute „Ratschläge“ und Hilfe
An Zuspruch und mangelnden Unterstützungsangeboten mangelt es Zverev nicht. Alcaraz, Djokovic und Bencic zeigten Verständnis oder boten Unterstützung an. Doch kann Zverev diese annehmen? Dabei sind das soziale Netzwerk und die Einbindung in Beziehungen die größte Prophylaxe und hilfreiche „Heilmittel.“
Und von Emma Raducanu stammt wohl der Satz: “Tennis sei einfach ein mental sehr anspruchsvoller Sport.“ – Dies gilt nicht nur für Tennis, doch für diesen durchaus im Besonderen.
Was zeigt uns das? Das der Mensch, wie ich immer wieder betone, ganzheitlich zu sehen ist. Mir wird immer wieder unverständlich bleiben, wie viele Menschen doch glauben, sie können ihre Muskeln austrainieren, ihre Technik verbessern und einen taktischen Plan erstellen, um die Schwächen des Gegners zu nutzen und dabei denken, dass der Rest schon von alleine geht. Das Training mentaler Fähigkeiten ist ebenso notwendig und leistungsbestimmend. Wie sage Yogi Berra, der legendäre Baseball Pitcher so schön: „Baseball ist zu 90 Prozent Kopfsache. Die andere Hälfte ist körperlich.“ Und Tennis unterscheidet sich da eher wenig von den Anteilen.
Mangelnde Regeneration
Wenn wir unseren „Körper“ belasten, dann kommt der Parameter Pause, mindestens wenn wir Athletik trainieren, als Belastungsnormativ ins Spiel. Und wir alle wissen, dass je nach Trainingsmethode sehr umfangreiche Pausen notwendig sind, um die volle Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. Doch ob wir mental wieder auf Höchstniveau sind, wo findet das Berücksichtigung? In Halle waren es tägliche Spiele, kaum Zeit zu verarbeiten, was rein technisch-taktisch zu analysieren ist. Wenn ich hier keine Skills und Tools habe, um auch mental zu regenerieren, dann sinkt meine Leistungsfähigkeit, auch wenn es nur ein paar Prozent sind. Wobei nochmals betont sei, dass Körper und Geist eine Einheit bilden, wohl kaum besser zu sehen, als wenn der Schlaf gestört ist. Der Schlaf ist und bleibt das beste Regenerationsmittel, doch dazu muss ich auch diesen ausreichend und tief genug finden. Dazu können bestimmte Tools und Skills dienen, um genau in diesen zu kommen. Doch gleichzeitig darf ich auch verarbeiten, kognitiv und emotional. Und wieder Motivation aufbauen.
Wir reden von Fähigkeiten, die ich ebenso trainieren kann, wie Vorhand Cross oder Long Line, wie Beinarbeit oder Schlagkraft.
Von psychopathologischen Phänomen und Burn-Out
Schaue ich mir die Entwicklung von Alexander Zverev aus der Ferne an und das tue ich schon seit einigen Jahren, lassen sich immer wieder Phänomene feststellen, die sich auch in einem psychopathologischen Befund wiederfinden. Doch all dies sind Phänome, die jeder Mensch zeigen kann, auch ohne gleich eine psychische Störung zu haben. Akute Belastungsreaktionen nach einem traumatisierenden Ereignis sind völlig normal, genauso depressive Stimmungslagen nach einschneidenden persönlichen Erlebnissen. Alleine aus diesem Grund verbietet sich eine Ferndiagnose und Pathologisierung, jedoch lassen einige Aussagen von Alexander Zverev schon aufhorchen. Wenn auch ein naher Verwandter wie sein Bruder Misha nichts vom Innenleben mitbekommen hat, dann scheint Alexander Zverev ein hohes Maß an Verstellfähigkeit nach außen zu haben. Als neutraler Beobachter von außen fallen einem die Phänomene oftmals eher auf, und diese lassen sich schon seit einigen Jahren beobachten.
Das professionelle Tennis ist fordernd, zieht Energie und diese braucht Zeit, Mittel und Wege, um wieder aufgefüllt zu werden. Stimmungsschwankungen, psychomotorische Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Freudlosigkeit sowie ein Mangel an Motivation verbunden mit Konzentrationsstörungen und sozialem Rückzug sind nur einige Phänomene, die aufgetaucht sind und sich nun scheinbar kumuliert haben.
Eine psychologische Begleitung wünschten wir als Sportpsychologen schon lange für Menschen mit solchen Herausforderungen. Es macht mich immer wieder traurig, dass es erst in einer dysfunktionalen Störung enden muss, bevor Unterstützung angenommen werden kann.
Mein Wunsch für Alexander Zverev
Ich wünsche Alexander Zverev, dass er solche professionelle Hilfe findet, und möchte ihm Nahe legen, sich Zeit zu nehmen. Wenn ich höre, dass er bald wieder spielen möchte, beunruhigt mich dieses Vorhaben. Zeit und Abstand sind hilfreiche Faktoren, um sich über Ziele, Motivationen klar zu werden und um Freude wieder empfinden zu können und ausreichend Lebensenergie zu finden. Auf diesem Weg viel Kraft.
Quellen:
https://www.zdfheute.de/sport/tennis-mentale-probleme-zverev-djokovic-depressionen-rublev-100.html
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