Julia Cetin: Wenn die Tage kürzer werden – Warum junge Athlet:innen im Herbst oft in ein Leistungsloch fallen

Du kennst es vielleicht: Kaum sind die Sommerferien vorbei, läuft es nicht mehr rund. Die Jugendlichen wirken müde, gereizt und unkonzentriert. Plötzlich schleichen sich Trainingsausfälle ein. Die Leistungen sinken – körperlich wie mental. Für viele Eltern und Trainer ist das schwer zu greifen. Schließlich ist doch „wieder Alltag“, das Training läuft regelmäßig, und die Wettkämpfe stehen vor der Tür. Und doch: Für viele junge Athlet:innen beginnt jetzt – im Herbst – eine der anspruchsvollsten Phasen des Jahres.

Zum Thema: Impulse für die Arbeit mit jugendlichen Sportler:innen im Herbst

Ich bin Julia Cetin, Sportpsychologin mit dem Schwerpunkt auf mentale Stärke bei jungen Athleten. Ich begleite Jugendliche durch genau diese Phasen – und auch mich selbst fordern sie jedes Jahr aufs Neue heraus. Dunkle Tage, frühes Aufstehen, Kälte. Das drückt aufs Gemüt – und auf die Leistung.

In diesem Artikel möchte ich dir zeigen, warum der Herbst eine mentale Stolperfalle sein kann, was hinter dem plötzlichen Leistungsabfall steckt – und was du tun kannst, um die Jugendlichen in deinem Umfeld besser zu verstehen und zu stärken.

Zwischen Schulstress und Lichtmangel: Die unsichtbaren Gegner

Während der Sommerferien blühen viele Jugendliche auf: Kein Schulstress, längere Tage, mehr Sonnenlicht, mehr Zeit für sich. Sobald das neue Schuljahr startet, ändert sich das schlagartig. Die Tage werden kürzer, die Anforderungen steigen – besonders für Jugendliche, die in der Prüfungsvorbereitung stecken oder in neue Klassen, Schulen oder Internate wechseln.

Typische Stressoren im Herbst:
– Wiederaufnahme des Schulalltags: Frühes Aufstehen, Hausaufgaben, Klassenarbeiten.
– Dunkle Jahreszeit: Weniger Tageslicht, trübes Wetter – das schlägt auf die Stimmung.
– Kälteeinbruch: Training im Dunkeln, kalte Sportplätze oder Hallen.
– Sozialer Druck: Neue Klassengemeinschaften, schulische Unsicherheiten, Versagensängste.

All diese Faktoren wirken sich auf Konzentration, Motivation, Regeneration und Schlaf aus. Die mentale Belastung steigt – oft unbemerkt. Und weil mentale Energie eine begrenzte Ressource ist, hat sie direkten Einfluss auf die sportliche Leistung.

Mentale Ermüdung: Wenn das System überlastet

Ein Begriff, der in der Sportpsychologie zunehmend diskutiert wird, ist mentale Ermüdung. Sie beschreibt einen Zustand, in dem das Gehirn durch anhaltende kognitive Anforderungen erschöpft ist – also durch Konzentration, Planung, Druck, emotionale Anspannung oder innere Konflikte. Klingt harmlos, ist aber gerade für Jugendliche mit hohem Trainingspensum plus schulischen Anforderungen ein echtes Risiko.

Was passiert im Gehirn?

Mentale Ermüdung ist kein „Wille-Problem“, sondern eine neurobiologisch messbare Reaktion: Studien zeigen, dass unter anhaltender mentaler Belastung der präfrontale Kortex – zuständig für Fokus, Planung und Emotionsregulation – weniger aktiv wird. Gleichzeitig steigt die Aktivität in Hirnregionen, die mit Stressverarbeitung und Erschöpfung verknüpft sind. Die Folge: Jugendliche sind weniger entscheidungsfreudig, emotional instabiler und körperlich schneller „leer“.

Besonders kritisch: Mentale Ermüdung beeinflusst die sportliche Leistung unabhängig von der körperlichen Fitness. Ein junger Athlet kann also topfit sein – und trotzdem einbrechen, weil sein mentales System überlastet ist. Diese Diskrepanz wird häufig missverstanden und führt zu Frust auf beiden Seiten.

Typische Anzeichen:
– Konzentrationsprobleme im Training
– Erhöhte Reizbarkeit oder emotionale Rückzüge
– Unerklärliche Leistungseinbrüche trotz guten physischen Zustands
– Unlust aufs Training, obwohl der Sport eigentlich Freude macht
– Schlafprobleme, Gedankenkreisen, Grübeleien

Hier braucht es nicht mehr Druck, sondern mehr Verständnis – und einen Blick auf das große Ganze.

Resilienz stärken: Was jetzt wirklich hilft

Resilienz – also die psychische Widerstandskraft – ist nicht angeboren, sondern trainierbar. Gerade im Herbst kannst du gezielt kleine Routinen einbauen, die Jugendliche mental stabilisieren und ihnen helfen, besser durch diese Phase zu kommen.

Ich orientiere mich dabei gerne an den sogenannten „7 Säulen der Resilienz“, die sich auch im sportpsychologischen Kontext bewährt haben: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Selbstwirksamkeit, Verantwortung, Netzwerkorientierung und Zukunftsplanung.

Ein paar konkrete Impulse:

1. Licht tanken – bewusst!
Der Einfluss von Tageslicht auf Stimmung und Schlaf ist riesig. Achte darauf, dass die Jugendlichen jeden Tag Tageslicht bekommen, idealerweise morgens. Auch Tageslichtlampen können hier sinnvoll unterstützen – ich nutze sie selbst, um besser in den Tag zu kommen.

2. Schlaf zur Priorität machen
Schlafmangel ist ein unterschätzter Leistungsräuber. Feste Einschlafrituale, digitale Pausen am Abend, genug Schlafzeit trotz Schule und Training – das sind kleine Stellschrauben mit großer Wirkung.

3. Trainingsdosis feinjustieren
Mehr Training ist nicht immer besser. Gerade im Herbst kann es sinnvoll sein, die Intensität punktuell zu reduzieren, mentale Einheiten einzubauen oder bewusst Ruhephasen zu schaffen.

4. Raum für Reflexion schaffen
Ein kurzes Wochenjournal kann helfen, Gedanken zu sortieren: Was lief gut? Was war herausfordernd? Was brauche ich nächste Woche? Diese Art von Selbstführung stärkt die Selbstwirksamkeit und entlastet das Gehirn.

5. Gespräche anbieten – ohne Druck
Jugendliche brauchen in dieser Phase offene, wertschätzende Gespräche. Nicht über Leistungen, sondern über ihr Befinden. Sei da, wenn sie dich brauchen – nicht nur als Coach, sondern als Mensch.

Der Herbst ist kein Rückschritt – sondern ein Entwicklungsmoment

Der Leistungsabfall im Herbst ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein völlig natürlicher Prozess – wenn man ihn versteht. Diejenigen, die jetzt Verständnis zeigen, Raum für Anpassung lassen und bewusst gegensteuern, investieren in die mentale Gesundheit und langfristige Leistungsfähigkeit ihrer Athlet:innen.

Vielleicht kannst du den nächsten vermeintlichen Durchhänger also anders betrachten: Nicht als Problem, sondern als Einladung zum Umdenken.

Zum Schluss – mein persönlicher Gedanke

Auch mich fordert diese Jahreszeit immer wieder heraus. Das frühe Aufstehen im Dunkeln, das Training bei Kälte, die Müdigkeit am Nachmittag. Aber ich habe gelernt, diese Phasen ernst zu nehmen – und mit kleinen, machbaren Ritualen gegenzusteuern. Eine Tageslichtlampe, bewusst eingesetzte Pausen, ein Spaziergang in der Sonne, wann immer es geht. Vielleicht ist das keine Wundermedizin – aber es ist ein Anfang.

Gönn auch du den Jugendlichen in deinem Umfeld diesen Anfang. Sie brauchen ihn mehr, als man auf den ersten Blick sieht.

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