Cristina Baldasarre: ADHS im Nachwuchsleistungssport – was Jugendlichen im Verein hilft

Eine Athletin befindet sich seit knapp einem Jahr bei mir in sportpsychologischer und psychotherapeutischer Therapie. Bei ihr wurde im Frühling 2024 von einer Kinder- und Jugendpsychiaterin eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Die Behandlung erfolgt aktuell klassisch dual, medikamentös sowie therapeutisch bei mir. Die therapeutische Arbeit bei mir läuft gut, mit Schwerpunkten in der Psychoedukation und verbesserten Umgang mit seinen Emotionen und kognitiven Funktionen, sowie auch einem jeweils passenden Verhalten in sozialen Situationen. Diese Arbeit erfordert Zeit und ist als Prozess zu sehen, welcher durch die Medikation einen fruchtbaren Boden erhält. Wir arbeiten auch an sportpsychologischen Themen wie beispielsweise einer Routine bei der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung und Selbstvertrauen sowie mentale Stärke bei Wettkämpfen. Auf medizinischer Seite erfolgt die Einstellung auf das Medikament schrittweise; es muss die Dosierung sorgfältig angepasst werden, um unangenehme Nebenwirkungen zu vermeiden bei maximaler Wirkkraft des Medikaments. 

Aber was bedeutet die Diagnose ADHS im Sport – für Jugendliche, Vorstände, Trainer sowie Trainerinnen? Insbesondere während der Pubertät?

Zum Thema: Umgang im Sport mit pubertären Kindern mit ADHS-Diagnose 

Es kursieren bei Menschen ohne genügend Fachwissen leider noch immer falsche Meinungen und Ansichten, dass es sich lediglich um eine schlechte Erziehung handelt, wenn Menschen (auch Erwachsene sind von ADHS betroffen) sich unpassend verhalten. Dem ist nicht so.
ADHS ist eine wissenschaftlich unumstrittene neurobiologische Entwicklungsstörung, die mit einer veränderten Aktivität im vorderen Teil des Gehirns, dem präfrontalen Cortex, zusammenhängt. Diese Region des Gehirns kontrolliert insbesondere die Bereiche der Aufmerksamkeit und Konzentration, der Selbstorganisation, der Motivation, der Impulskontrolle sowie der Selbstregulation (z.B. hört nicht alles, hat Schwierigkeiten zu warten, unterbricht andere, ist schneller frustriert, Stimmungen schwanken schnell und oft ohne äusseren Grund), um nur die zentralsten Punkte zu nennen.

Kinder und Jugendliche mit ADHS verarbeiten Reize allgemein intensiver und schneller und reagieren oft spontaner und emotionaler als Gleichaltrige. Dies kann sich im Sport durch rasche Ablenkbarkeit, schnell ändernde Emotionen, Motivationsschwankungen, impulsive Entscheidungen oder Schwierigkeiten beim Einhalten von Regeln und Abläufen zeigen – insbesondere dann, wenn sie sich überfordert oder missverstanden fühlen.

Der Entwicklungsschritt Pubertät

Meine Athletin, 13-jährig, befindet sich schon in der pubertären Phase, in der sich beispielsweise die Impulskontrolle sowieso bei allen Jugendlichen noch in der Entwicklung befindet, ob mit oder ohne ADHS. Die Neuropsychologie besagt, dass die Reifung des Gehirns stufenweise vorangeht und erst mit ca. 25 Jahren abgeschlossen ist. In der Pubertät gerät diese Reifung durcheinander, durch die Hormonumstellungen, wodurch alles schwieriger wird. 

Kommt bei einem Jugendlichen noch ein ADHS dazu, ist diese Reifung zusätzlich erschwert. Der präfrontale Cortex entwickelt sich im Allgemeinen langsamer als die Region des Gehirns, welche die Emotionen steuert (das Limbische System). Das bedeutet, dass alle Jugendlichen während der Pubertät häufiger emotional statt rational handeln. So kann es vorkommen, dass zum Beispiel meine Athletin in emotional/sozial angespannten oder dynamischen Situationen schneller auf der emotionalen Ebene reagiert, als sie nachdenken kann – etwa durch ein unbedachtes Wort, oder eine impulsive Reaktion. Diese Reaktionen sind aber nicht als Ausdruck von Unwillen, Respektlosigkeit oder schlechter Erziehung zu werten, sondern im Zusammenhang mit ihrer Diagnose als Folge der Neurodiversität, welche mit gezielter Unterstützung und Struktur gut begleitet werden kann.

Stärken und Potenziale von ADHS & Praktische Tipps für den Trainingsalltag

ADHS ist aber auch mit besonderen Stärken verbunden. Viele Kinder und Jugendliche mit ADHS verfügen über ein hohes Mass an Kreativität, Energie, Empathie und Spontanität. Sie können sehr engagiert, begeisterungsfähig, sozial integrierend und leistungsstark auftreten, insbesondere wenn sie sich verstanden fühlen und in einem Umfeld arbeiten, das klare Strukturen bietet, aber gleichzeitig Raum für Eigeninitiative und Bewegung zulässt.

Das Sportumfeld kann Jugendliche wie folgt am besten unterstützen:

– klare, kurze und positive Anweisungen
– Rituale und gleichbleibende Strukturen
– Grenzen konsequent, aber ruhig und respektvoll kommunizieren
– Bewegung sowie Ruhepausen ermöglichen
– Belohnungssystem nutzen

In vielen Studien wurde bereits nachgewiesen, dass Sport und Bewegung, neben der medikamentösen Behandlung inkl. Therapie, positiven Effekt auf ADHS Symptome haben. Es verbessern sich vorwiegend die kognitiven Funktionen des präfrontalen Cortex nachhaltig, aber auch die Impulskontrolle. 

Häufigkeit und Relevanz im Sport

Die sich verändernden neuropsychologischen Gehirnstrukturen während der Pubertät und die ADHS Symptome meiner Athletin bedingen die oben genannten Unterstützungen durch Trainer und Sportumfeld. ADHS tritt nachweislich bei ca. 5%  der männlichen Jugendlichen auf. Die Zahl für weibliche Jugendliche variiert je nach Studie mehr, liegt in der Tendenz aber mit ca. 2-4% etwas darunter. Gründe dafür können sein, dass Mädchen in der Regel weniger auffällige Symptome zeigen und dadurch nicht erfasst werden. 

Im Sportkontext wissen wir aber, dass die Vorkommenshäufigkeit insgesamt sogar erhöht ist, bis zu ca. 8%. Somit kann davon ausgegangen werden, dass sich Sport und Bewegung positiv auf ADHS Symptome auswirken, aber auch, dass ein erhöhtes Risiko an (Sport-)unfällen besteht, die auf Symptome wie Unaufmerksamkeit oder erhöhtes Risikoverhalten (eigene Grenzen sind in der Eigenwahrnehmung von Menschen mit ADHS gehäuft verschoben) zurückzuführen sind. 

Mehr zum Thema:

Literaturangaben und Studien zu ADHS

  • Berg, X., Colla, M., Seifritz, E., Claussen, M. C. (2020). ADHD in Athletes. Sport & Exercise Medicine Switzerland, 68(3), 20-46.
    (Diese Übersichtsarbeit gibt an, dass in jugendlichen Athleten Werte von ~4.2 – 8.1 % berichtet werden)
  • Ekman, E., Hiltunen, A., Gustafsson, H. (2021). Do Athletes Have More of a Cognitive Profile with ADHD Criteria than Non-Athletes? Sports (Basel), 9(5): 61.
    (Hier wurde bei Jugend-Hochleistungsathleten ein profilähnliches Auftreten von ADHS-Merkmalen diskutiert; die Studie nennt eine Prävalenz zwischen ~7-8 % in jugendlichen Athleten) 
  • Griesbach, G. S., Bauer, R. M., et al. (2017). Neurocognitive Deficits Associated With ADHD in Athletes: A Systematic Review. British Journal of Sports Medicine, 51(17), 1343-1350.
    (In dieser Übersichtsarbeit wird berichtet, dass die Prävalenz von ADHS bei jugendlichen Athleten zwischen 4.2 % und 8.1 % liegt) 
  • Polanczyk, G., de Lima, M. S., Horta, B. L., Biederman, J. & Rohde, L. A. (2007). Meta-analysis of the worldwide prevalence of ADHD. American Journal of Psychiatry, 164(6), 942-949.
    (Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen für ADHS bei ~5.29%)
  • Salari, N., Ghasemi, H., Abdoli, N., Shiri, M.H., Hashemian, A.H., Akbari, H. & Mohammadi, M. (2023). The global prevalence of ADHD in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. Italian Journal of Pediatrics, 49, Artikel 13456-1. (Hier zeigt sich weltweit, dass Jugendliche weiterhin eine hohe Prävalenz für ADHS aufweisen)

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Cristina Baldasarre
Cristina Baldasarrehttp://www.die-sportpsychologen.de/cristina-baldasarre/

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