Norbert Lewinski: Wem gehört der sportliche Erfolg?

Es war für mich einer der bemerkenswertesten Momente der Wintersportsaison: Ich ziele auf das abschließende Slalom-Rennen der alpinen Ski-WM im österreichischen Saalbach ab. Genauer gesagt auf ein Statement nach dem Rennen. Linus Straßer hatte gerade die Bronzemedaille geholt und sagte im ZDF-Interview mit Amelie Stiefvater, dass er trotz aller Dankbarkeit für die grundlegende Unterstützung die Medaille für sich gewonnen habe, nicht für den Verband oder das Land. 

Zum Thema: Identitätsbildung im Spitzensport

Linus Straßer wirft mit seiner Aussage eine besondere Frage auf: Wem gehört der sportliche Erfolg? Ist er das Produkt einer Gemeinschaft, einer Nation, eines Verbandes oder letztlich doch eine zutiefst individuelle Leistung? Meiner Meinung nach berührt diese Frage zentrale Konzepte der psychodynamischen Theorien sowie der humanistischen Psychologie und lädt uns dazu ein, die Bedeutung der individuellen Erfahrung, der Motivation und der Identitätsbildung im Spitzensport zu reflektieren.

Aus psychodynamischer Perspektive betrachtet, sehe ich Straßers Aussage als Ausdruck eines tief verwurzelten Bedürfnisses nach Autonomie und individueller Selbstbestimmung. Freud betonte in seiner psychoanalytischen Theorie die zentrale Rolle unbewusster Konflikte und die Dynamik zwischen dem Es, Ich und Über-Ich. Ich denke, dass Spitzensportler oft in einem Spannungsfeld zwischen äußeren Erwartungen und inneren Impulsen agieren. Einerseits existiert der Druck von Verband, Sponsoren und Fans, die den Erfolg als kollektive Errungenschaft betrachten. Andererseits gibt es das individuelle Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, persönlichem Wachstum und den Wunsch, sich unabhängig von externen Strukturen zu definieren. Dies entspricht auch dem humanistischen Ansatz von Carl Rogers, der den Menschen als selbstbestimmtes Wesen betrachtet, das nach Selbstverwirklichung strebt. In meinen Augen spiegeln Straßers Worte diesen inneren Kampf wider, der für viele Athleten ein ständiger Begleiter ist.

Identität im Leistungssport

Ich bin der Meinung, dass ein zentraler Punkt in der psychologischen Entwicklung eines Sportlers die Identitätsbildung ist. In der modernen Psychologie wird zunehmend die Rolle der sogenannten “Subjekt-Revolution” betont. Ich sehe das als eine wichtige Entwicklung, da sie den Athleten nicht nur als ausführendes Organ einer übergeordneten Struktur betrachtet, sondern als eigenständiges Subjekt mit individuellen Bedürfnissen, Emotionen und einer einzigartigen Lebensgeschichte. Die Zeiten, in denen der Sportler ausschließlich als Repräsentant einer Nation oder eines Verbandes gesehen wurde, weichen zunehmend einem Verständnis, das die persönliche Erfahrung und das Erleben des Athleten in den Mittelpunkt stellt. Für mich bedeutet das jedoch nicht, dass Teamgeist oder patriotische Gefühle keine Rolle spielen, sondern vielmehr, dass sie in ein größeres Ganzes eingebettet sind, das die individuelle Autonomie nicht negiert, sondern respektiert.

Ich denke, dass Straßers Haltung auch als gesunde psychologische Abgrenzung interpretiert werden kann. In der Leistungsgesellschaft des Hochleistungssports wird oft von einem “Wir-Gefühl” gesprochen, das Athleten in ein kollektives Narrativ einbindet. Das kann einerseits motivierend sein, andererseits aber auch zu Identitätskonflikten führen, wenn sich ein Sportler nicht vollständig mit diesen externen Zuschreibungen identifizieren kann oder will. Meiner Meinung nach ist es für eine gesunde psychologische Entwicklung entscheidend, persönliche Grenzen zu setzen und eigene Erfolge als solche zu erleben, ohne dass diese notwendigerweise von außen definiert werden. Dies steht im Einklang mit Erik Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung, in der die Phase der Identitätsfindung eine zentrale Rolle spielt. Sportler, insbesondere im Spitzensport, durchlaufen oft eine Identitätskrise, wenn sie versuchen, ihren Platz zwischen individueller Leistung und kollektiver Erwartung zu definieren.

Neue Art des sportlichen Selbstverständnisses

Aus meiner Sicht zeigt die psychologische Forschung, dass intrinsische Motivation – also die Motivation, die aus dem inneren Antrieb einer Person entsteht – nachhaltiger und leistungsfördernder ist als extrinsische Motivation, die auf Belohnungen oder soziale Anerkennung ausgerichtet ist. Ich verstehe Straßers Aussage daher als Ausdruck intrinsischer Motivation. Indem er betont, dass er die Medaille für sich selbst gewonnen hat, unterstreicht er die Bedeutung der persönlichen Sinnhaftigkeit im Sport. Dies entspricht den Erkenntnissen der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan, die Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit als zentrale psychologische Grundbedürfnisse identifizieren. Meiner Meinung nach wird ein Athlet, der seine Erfolge aus einem tiefen inneren Antrieb heraus erlebt, langfristig stabilere Leistungen zeigen und eine gesündere psychologische Entwicklung durchlaufen als jemand, der ausschließlich nach äußerer Anerkennung strebt.

Ich glaube jedoch nicht, dass Straßers Worte als völlige Abkehr von Gemeinschaft oder Teamgeist verstanden werden sollten. Vielmehr sehe ich darin eine neue Art des sportlichen Selbstverständnisses, das sich von überholten Kollektiv-Narrativen emanzipiert und den Athleten als zentrales Subjekt anerkennt. Das bedeutet nicht, dass nationale Zugehörigkeit oder Verbandsstrukturen überflüssig sind, sondern dass sie in ein neues Verhältnis zur individuellen Perspektive des Sportlers gesetzt werden müssen. In einer Zeit, in der die psychische Gesundheit von Athleten zunehmend in den Fokus rückt, halte ich es für entscheidend, ein Gleichgewicht zwischen individueller Selbstbestimmung und gemeinschaftlicher Zugehörigkeit zu finden. Die Aussage von Linus Straßer bietet somit nicht nur einen Einblick in die Gedankenwelt eines Spitzensportlers, sondern auch eine wertvolle Reflexion über die tiefgreifenden psychologischen Dynamiken, die im Leistungssport eine Rolle spielen. Sie erinnert mich daran, dass Erfolg nicht nur eine Frage von Medaillen und Rekorden ist, sondern auch von persönlicher Identität, Selbstbestimmung und dem Mut, seine eigene Wahrheit auszusprechen.

Förderung von Autonomie

Um in Zukunft besser auf den „Geist der Zeit“ zu reagieren und die psychologischen Bedürfnisse von Athleten stärker in den Mittelpunkt zu stellen, halte ich es für essenziell, dass sich Sportverbände, Trainer und Betreuer noch bewusster mit der individuellen Identitätsbildung der Sportler auseinandersetzen. Ein erster wichtiger Schritt wäre eine noch stärkere Förderung der Autonomie von Athleten in ihrer Karriereplanung, Entscheidungsfindung und öffentlichen Kommunikation. Sportler sollten ermutigt werden, ihre eigene Motivation und Werte aktiv zu reflektieren und sich nicht ausschließlich über externe Zuschreibungen zu definieren. Dazu braucht es ein Sportumfeld, das eine Balance zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Zugehörigkeit ermöglicht. Dies könnte durch eine Reform der Kommunikationskultur in Verbänden geschehen, die den Athleten nicht nur als Repräsentanten, sondern als eigenständige Subjekte mit persönlichen Bedürfnissen sieht. Mentale Unterstützung, etwa durch psychologische Betreuung mit einem humanistischen Ansatz, könnte Sportlern helfen, sich in diesem Spannungsfeld zwischen individueller Identität und Gruppenzugehörigkeit besser zurechtzufinden.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Förderung einer gesunden Leistungsmotivation. Statt übermäßiger Betonung extrinsischer Anreize wie Medaillen, nationale Erfolge oder öffentliche Anerkennung sollte stärker auf intrinsische Motivation gesetzt werden. Trainer und Funktionäre sollten Athleten dabei unterstützen, eine persönliche Sinnhaftigkeit in ihrem Sport zu finden, die über äußere Bestätigung hinausgeht. Dies kann beispielsweise durch individualisierte Karriere- und Lebensplanung, flexible Trainingsmodelle und eine stärkere Integration der psychischen Gesundheit in die Trainingsphilosophie geschehen. Letztlich glaube ich, dass der moderne Hochleistungssport einen Wandel braucht – hin zu einem System, das Sportler nicht als Mittel zum Zweck betrachtet, sondern als eigenständige Persönlichkeiten mit einem komplexen psychischen Erleben. Die Revolution des Subjekts bedeutet, Athleten nicht nur als Teil eines Systems zu sehen, sondern als Menschen mit individuellen Ambitionen, Ängsten und Hoffnungen. Wenn sich diese Haltung weiter durchsetzt, wird der Spitzensport langfristig nicht nur leistungsfähiger, sondern auch menschlicher.

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