Janosch Daul: Kopfsache Torwartspiel – Performen unter Druck, Teil 1

Maximaler Druck: WM-Finale 2002. Deutschland gegen Brasilien. Es geht also um den wohl wichtigsten Titel des Weltfußballs. In der 67. Spielminute die wohl spielentscheidende Situation: Oliver Kahn, der bis zu diesem Moment im gesamten Turnier über herausragend gehalten hatte und nicht umsonst von der FIFA zum Spieler des Turniers gewählt wurde, lässt einen Schuss Rivaldos nach vorne klatschen, Ronaldo staubt ab und erzielt das 1:0 für Brasilien. Die Südamerikaner siegen am Ende mit 2:0. Die geschilderte Situation zeigt zum einen eine gewisse Tragik des Fußballs auf – nämlich wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg bisweilen ist und wie schnell ein Torwart wie Kahn, der Deutschland erst ins Finale geführt hatte, gerade auch in den Augen der oftmals sehr schnell und hart urteilenden Öffentlichkeit, vom Helden zum vermeintlichen Versager der Nation werden kann. Zum anderen zeigt die Situation auf, welch enormen mentalen Anforderungen ein Torwart ausgesetzt ist – insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Druck. 

Dieser Text ist der erste einer zweiteiligen Reihe (Teil 2: Link). Hier geht es konkret um das mentale Anforderungsprofil des Torwarts, welches wir uns in der Wettkampfsituation genauer anschauen. Im zweiten Teil möchte ich einige Ansatzstellen und konkrete Interventionsstrategien für einen adäquaten Umgang mit Druck beleuchten.

Zum Thema: Mentales Anforderungsprofil eines Torwarts

Welche mentalen Kompetenzen benötigt ein Torwart unbedingt? Schauen wir uns das einmal genauer an:

  1. Selbstvertrauen (Abdullaeva, 2015) 

Der recht umgangssprachliche Begriff des Selbstvertrauens bezieht sich auf die Kompetenzüberzeugung. Also die Überzeugung und der feste Glaube, ein zur Zielerreichung nötiges Verhalten mithilfe der eigenen Fähigkeiten abrufen zu können. Der Torwart ist sich also z.B. dessen bewusst, dass er mithilfe seiner Antizipationsfähigkeit in der Lage ist, den Steilpass in einer bestimmten Situation abzulaufen. 

  1. Führungskompetenz

Der Torwart muss in der Lage sein, seine Mannschaft in emotionaler und taktischer Hinsicht aktiv zu steuern und darüber auf eine seine Vorderleute gezielt einzuwirken können. Neben einer hohen verbalen Präsenz wird zudem eine ausgeprägte Ausstrahlung auf körperlicher Ebene von ihm erwartet (Abdullaeva, 2015). Als Defensivspieler ist er zudem maßgeblich dafür verantwortlich, dem System, sprich dem Team, Sicherheit zu geben. 

  1. Selbstreflexion (Abdullaeva, 2015) 

Der Torwart muss seine eigene Leistung, insbesondere im Moment des Erfolgs und des Misserfolgs, gerade auch im Nachgang des Spiels, realistisch einschätzen und adäquat verarbeiten, insbesondere Ursachen für die Gesamtleistung und einzelne Aktionen realistisch herausfiltern sowie zukunfts- und lösungsorientiert Schlüsse daraus ziehen können. 

  1. Gesunder Perfektionismus

Wie einem jeden Feldspieler kann auch dem Torwart das Streben nach hohen Leistungszielen dabei helfen, dass zur Zielerreichung nötige Durchsetzungsvermögen sowie die notwendige Selbstdisziplin kontinuierlich zu zeigen (Abdullaeva, 2015). 

  1. Konzentration

Der Torwart muss in der Lage sein, aufgabenirrelevante Faktoren im Spiel, wie z.B. begangene eigene Fehler, auszublenden und sich auf das Spielgeschehen zu fokussieren (Abdullaeva, 2015). Bezogen auf die eingangs beschriebene Situation, die zum 0:1 führte, musste Kahn seinen Fehler schnellstmöglich abhaken, um der Anforderung im Hier und Jetzt gerecht werden zu können – eine enorme mentale Herausforderung.

Mehr zu diesem Thema: https://www.die-sportpsychologen.de/2018/11/janosch-daul-trainingstipps-fuer-die-aergerbewaeltigung/

  1. Druckresistenz 

Mit den verschiedensten Anforderungen und Stressfaktoren (z.B. Erwartungsdruck) sowie emotional belastenden Spielsituationen (z.B. Beleidigung seitens Zuschauer) muss der Torwart konstruktiv umgehen können (Abdullaeva, 2015). 

Die Besonderheit der Anforderungssituation Wettkampf 

Die Mitspieler, die Größe des Tores und des Spielfelds: Vieles scheint wie im Training zu sein. Auch die grundlegende Zielstellung an sich, mehr Tore als der Gegenüber zu erzielen, ist dieselbe. Relevante Aspekte ähneln oder entsprechen sich. Und dennoch scheint der Wettkampf im Vergleich zu Trainingssituationen eine andere Charakteristik zu besitzen. Doch was genau unterscheidet die Anforderungssituation des Wettkampfs von einer Trainingssituation?

  1. Ein Pflichtspiel an sich ist nicht wiederholbar (Schliermann & Hülß, 2016). Es besteht weder die Möglichkeit, eine Situation zu wiederholen noch ein Ergebnis nach dem Schlusspfiff zu revidieren. Mit dem Schlusspfiff wird nach dem Gesetz des Leistungssports knallhart nach Punkten abgerechnet. Dessen ist sich jeder Spieler und Trainer bewusst. 
  2. Ein Pflichtspiel geht bewusst oder unbewusst mit Vorhersagen bezüglich des erwarteten Spielverlaufs und des Ergebnisses einher (Schliermann & Hülß, 2016). Daraus erwächst eine gewisse Erwartungshaltung, die durch Externe zusätzlich verstärkt werden kann.
  3. Ein Pflichtspiel hat oftmals Konsequenzen zur Folge (Schliermann & Hülß, 2016), beispielsweise personeller Natur. Der Spieler weiß, dass er unter Umständen ersetzt wird, wenn er in der Anforderungssituation Wettkampf eben nicht performt.

Daraus erwächst für viele Spieler ein besonderes Empfinden von Stress und Druck, welches durch Faktoren, die das jeweilige Spiel betreffen, zusätzlich beeinflusst wird. Beispielsweise durch

  • Die Bedeutsamkeit des anstehenden Spiels

Zumeist ist der Spielbeginn durch ein Abtasten und eine gewisse Aufregung geprägt. Eine hohe Bedeutsamkeit des Spiels führt oftmals dazu, dass die Anfangsphasen noch zerfahrener verlaufen als ohnehin schon, da das Spiel einen enormen Wert besitzt. Ein WM-Finale wird vermutlich bei den Beteiligten ein höheres Stresslevel hervorrufen als ein „gewöhnliches“ Ligaspiel.

  • Die Einschätzung der Stärke des Gegners

Auch in Abhängigkeit der gegebenen Tabellensituation kann beispielsweise ein Spiel gegen den Tabellenletzten als ein „Must-Win“ interpretiert werden, was zusätzlichen Stress auslösen kann. Aber auch ein Match gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner kann dann zusätzlichen Stress verursachen, wenn die Spieler nicht davon überzeugt sind, der anstehenden Anforderungssituation gewachsen zu sein.

  • Instanzen

Instanzen wie Medien, Mitspieler, Trainer sowie insbesondere im Nachwuchsbereich zusätzlich die Eltern können durch ihr Verhalten und ihre Kommunikation erheblichen Stress und Druck im Spieler auslösen – immer in Abhängigkeit davon, wie dieser das Verhalten und die Kommunikation dieser Instanzen wahrnimmt und subjektiv bewertet.

  • Im Spiel auftretende Situationen

Nicht nur vor dem Spiel können Druck erzeugende Situationen entstehen, sondern auch solche im Spiel. Wenn ein Spieler beispielsweise in einer 1:1-Situation allein vor dem gegnerischen Torwart steht, zeigen Selbstgespräche wie „Ich muss das Tor machen!“ vorzüglich den in solchen Situationen vorherrschenden Druck. Wenn ein Team zudem beispielsweise kurz vor Schluss führt, herrscht oftmals das Gefühl vor, das Spiel auch tatsächlich gewinnen zu müssen. Damit einher geht oftmals eine gewisse Zukunftsantizipation: Was wohl passieren möge, wenn das Spiel wider Erwarten nicht gewonnen wird?

Gerade in Stresssituation hat unser Verstand die unschöne Angewohnheit, zu einem Radio Schwarzmaler zu werden, dessen Sendungen Vergangenheit und Zukunft in düsteren Farben malen und ohne Unterlass die Gegenwart kritisieren. Unser Gehirn ist also oftmals nichts anderes als eine außer Kontrolle geratene Zeitmaschine, die uns gedanklich permanent in die Vergangenheit oder Zukunft befördert. Und genau diese Eigenart liefert einen möglichen Erklärungsansatz dafür, wie Leistungsversagen unter Druck (Chocking under Pressure), wie es gerade bei den sogenannten „Trainingsweltmeistern“ oftmals zu beobachten ist, entstehen kann. Wir sind von der eigentlichen Aufgabe im Hier und Jetzt abgelenkt, denken an Misserfolge in der Vergangenheit, uns plagen Selbstzweifel oder wir malen uns voreilig ein mögliches zukünftiges Scheitern aus. Die Folge? Wir können uns nicht auf die aktuell zu vollziehende Handlung konzentrieren und sind dementsprechend nicht leistungsfähig.

Die Besonderheit der Torwartposition

Die Position des Torwarts ist wohl die herausforderndste schlechthin. Das Hauptziel im Leistungssportsetting Fußball besteht im Besiegen des Gegners. Dies kann nur gelingen, wenn mindestens ein Tor fällt. Tore erzielen können alle Spieler, nicht nur die Angreifer. Tore verhindern kann in letzter Instanz allerdings nur der Torwart, denn nicht jeder Schuss kann schließlich verteidigt werden. Der Torwart ist das letzte Glied der Kette, sodass Fehler zumeist mit einer brutalen Konsequenz verbunden sind: Die unmittelbare Bestrafung folgt oftmals in Form eines Gegentores. Allen Beteiligten, insbesondere dem Torwart selbst, ist bewusst, dass jedes Tor spielentscheidend sein kann. Der Druck ist somit insbesondere auf den Torwart, der das Zünglein an der Waage ist, enorm.

Zudem haben veränderte Spielideen sowie die 1992 eingeführte Rückpassregel, die die Ballarbeit des Torwarts mit den Händen einschränkte, enormen Einfluss auf die Position des Torwarts. Aus diesem musste im Prinzip ein Torspieler werden, denn die Erwartungen an die Spielposition des Torhüters sind heutzutage ganz andere: Seine Aufgabe besteht nicht mehr nur ausschließlich darin, mit starken Reflexen und dem Abfangen von Flanken das eigene Tor zu beschützen, sondern z.B. auch darin, das Spiel geschickt aufzubauen und aufgrund seines Überblicks über die Gesamtsituation aktiv mit seinen Mitspielern zu kommunizieren. Der Torhüter musste also seine Spielweise den erweiterten Anforderungen entsprechend angleichen und seine fußballerischen Fähigkeiten deutlich ausbauen. Durch die Tatsache, dass der Torwart nun deutlich mehr ins Spielgeschehen eingebunden ist, hat der Torwart folglich deutlich mehr Aktionen, die potenziell zu Fehlern führen können.

Ausblick

Wir haben nun also einen Überblick über das Anforderungsprofil. Aber wo liegen die Ansatzpunkte, um den Torhütern zu helfen? Dazu verweise ich auf den zweiten Text dieser Reihe:

Mehr zum Thema:

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Janosch Daul
Janosch Daul

Sportarten: Fußball, Handball, Basketball, Volleyball, Leichtathletik, Schwimmen, Tennis, Tischtennis, Badminton

Halle/Saale, Deutschland

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