Dr. Hanspeter Gubelmann: Von der Siegeslust in die Pillensucht

Als Weltklasse-Langläufer vereinte Petter Northug alle Attribute eines Superstars. Seine legendären Endspurts führten ihn in einen Siegesrausch, dem kaum ein Gegner gewachsen schien. Northug erhitzte aber auch wegen seiner Art die Gemüter. In Norwegen als selbstbewusster und leidenschaftlicher Nationalheld verehrt, galt er insbesondere in Schweden als kaltschnäuziger, überheblicher und zuweilen auch respektloser Rüppel. Wo Northug auftrat – immer gingen die Emotionen hoch, am meisten wohl beim Sportler selbst. Vergangene Woche outete sich der im Dezember 2018 zurückgetretene Langlaufstar und bekannte sich zu seinem gravierenden Drogenproblem. Die Sportpsychologie kann erklären, wie aus der Siegeslust eine Pillensucht wird.

Zum Thema: Der Karriereübergang mit sportpsychologischer Unterstützung

Eines vorneweg: es liegt mir fern, eine Diagnose zur Person von Petter Northug und seinem Verhalten zu stellen. Seine Eskapaden kommentierte er jüngst öffentlich (SRF, 21.8.2020), als er über sein massives Drogenproblem sagte: „Ich habe ein ernsthaftes Rauschproblem, das aus Alkohol, Narkotika und Pillen im Zusammenhang mit zeitweise hartem Feiern besteht.“ Er habe den Tiefpunkt seines Lebens erreicht und um professionelle Hilfe gebeten. 

Schlagartig fühle ich mich an ähnliche Beispiele erinnert, etwa an Radfahrer Jan Ulrich, Fussballer Diego Maradona, oder Skispringer Matti Nykänen u.a.m. Oder ich denke an jenen „namenlosen“ US-Schwimmer, der mir anlässlich der Olympischen Spiele 2000 in Sydney stolz seine 1984 errungene Olympia-Silbermedaille zeigte, notabene in einer Bar und im Vollrausch. „Those days were the best ever – but long gone!“, stammelte er und leerte daraufhin sein Glas.

Karriererücktritt – eine vielseitige Herausforderung!

In meiner mittlerweile jahrzehntelangen Beratungstätigkeit im Umgang mit dem sportlichen Karriererücktritt und dem anschliessenden Übergang in eine nachsportliche Karriere war ich glücklicherweise noch nie betroffen von derart schicksalshaften Entwicklungen. Meine vielfältigen Praxiserfahrungen lassen sich grob in drei Orientierungslinien bündeln:

1) Das sportliche Karrierende ist kein triviales Ereignis. Es ist verbunden mit einem klaren Entscheid, der – wenn möglich – vom Athleten-/der Athletin selbst gefällt wird! Die „Passung“ dieses Entscheids ist u.a. abhängig von der Qualität und der Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Karrierebeendigung schon während der sportlichen Karriere.

2) Alle SportlerInnen erleben das sportliche Karriereende als Zäsur in ihrem Leben. Viele beschreiben es auch als Loch, in welches sie fallen. Die Tiefe des Lochs ist individuell sehr verschieden und abhängig von der Persönlichkeit der AthletInnen sowie einer Vielzahl von (externalen) Aspekten und Rahmenbedingungen.

3) Grosse Unterschiede erkenne ich in der Länge und Intensität der Transitionsphase, die mitunter auch in Comebackversuchen münden kann. Mir sind auch Fälle von AthletInnen bekannt, denen es erst Jahre nach dem letzten sportlichen Applaus gelang, sich auf ein sinnhaftes, „neues“ Leben einzulassen. Dabei spielte mitunter eine im Sport erlittene psychische Versehrtheit (z.B. psychische Gewalt, sexueller Übergriff etc.) eine gravierende Rolle. Letztlich setzt die positive Gestaltung dieser Entwicklungsphase beim betroffenen Ex-Sportler ein hohes Mass an Eigeninitiative, Engagement und Durchhaltewillen voraus.

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„Ich bin verzweifelt!“

In einem kürzlich erschienen Interview zur Thematik eines maladaptiven Karriereübertritts (siehe Tagesanzeiger vom 29.8.2020) äusserte ich die These, wonach das Risiko eines möglichen Scheiterns mit der Höhe des sportlichen Karriereerfolgs einhergehen kann. Die spezifische Problematik sehe ich in einer (auch medialen) Überhöhung des sportlichen Erfolgs (Heroisierung, „Nationalheld“) in Verbindung mit einer primär sportbezogenen Identitätsbildung („Sportikone“). Getrieben von der Lust am Siegen und getragen vom gesellschaftlichen Hype begibt sich die sportliche „Lichtgestalt“ immer mehr in jene «Bubble», die ihn von jeglicher Normalität entfernt. Oft leiden darunter nicht nur die psychische Gesundheit des Betroffenen, sondern insbesondere erdende, haltgebende soziale Kontakte im aussersportlichen Umfeld. 

Wie heftig müssen die Entzugserscheinungen wirken, wie hart muss sich die Landung in der neuen Normalität für einen Weltsportler anfühlen, der seine Karriere schliesslich aufgrund sportlicher Erfolglosigkeit beenden musste und früh einen Ausweg im Alkohol- und Drogenrausch suchte? Petter Northug sagte dazu im Interview: „Ich bin verzweifelt“. Es dürfte insbesondere dieser „emotionale Entzug“ sein, den viele erfolgreiche SportlerInnen meinen, wenn sie von jener (sportbezogenen) Gefühlswelt sprechen, die in dieser einzigartigen Art nie mehr zurückkehren wird. 

Dr. Hanspeter Gubelmann

Dr. Hanspeter Gubelmann

Sportarten: Ski nordisch, Ski alpin, Leichtathletik, Bob, Skeleton, Judo, Eiskunstlauf, Tennis, Short Track, Kanu, Eishockey, Mountainbike, Schwimmen, Triathlon, Rhythmische Sportgymnastik u.a.

+41 (0)79 789 45 13

h.gubelmann@die-sportpsychologen.ch

Mehr Infos: Zur Profilseite, zum Kompetenzzentrum mind2win.ch

Angewandte Sportpsychologie: Kompetenz und Hilfestellung für die Praxis gefragt!

Im Wissen um die gestellten Anforderungen im Übergang in eine nachsportliche Karriere und im Bewusstein auch einer Mitverantwortung der Angewandten Sportpsychologie für das Gelingen dieses Entwicklungsschrittes, lassen sich situativ-individuelle Handlungsmöglichkeiten und passende Massnahmen ableiten. Diese stützen sich auf Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien, wie jene vom ehemaligen Weltklasse-Skispringer Andreas Küttel, der mittlerweile in Dänemark zum Thema forscht und unterrichtet. Nachfolgend sind drei thematische Orientierungspunkte kurz umrissen, die mich in meiner Tätigkeit als angewandter Sportpsychologe immer wieder leiten:

1. Persönlichkeitsentwicklung und Identität

Professionell betriebener Spitzensport übt einen erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung ihrer Protagonisten aus. Im Zentrum steht dabei die Entwicklung der so genannten „sportlichen Identität“ (athletic identity), die als Selbstidentität von Individuen im Sportbereich definiert ist. Die Ausprägung dieser Identität steht in engem Zusammenhang mit der Rolle, den wahrgenommenen Werten und den sozialen Netzwerken der Athleten während ihrer sportlichen Laufbahn. Empirische Ergebnisse zeigten (vgl. Park et al. 2013), dass Athleten, die eine starke sportliche Identität hatten, im Übergang in eine nachsportliche Karriere aufgrund ihres eng fokussierten Lebensstils und ihrer eindimensionalen Identitätsentwicklung einen höheren Grad an Übergangsschwierigkeiten und Identitätskrisen erlebten. Eine duale Karriere im Spitzensport und/oder eine bewusste Orientierung auf aussersportliche Interessensfelder können der Ausbildung einer mehrdimensionalen Identität (balanced identity) zuträglich sein. Entscheidend ist, dass sich der Athlet hinsichtlich seiner individuellen Prägung bewusst wird und sich auf die notwendige Identitäts-Veränderung (identity shift) einlassen kann. 

In Anlehnung an Schinke et al. (2012) wähle ich Selbstreflexivität als Interventionsstrategie, um beim Athleten die eigene Situiertheit in hohem Masse bewusst werden zu lassen. Die selbstreflexive Konfrontation mit der eigenen Entwicklung soll die Offenheit für etwas Neues erhöhen. Die Bewusstheit der eigenen Prägung und der eigenen Interessen bietet die Möglichkeit, auf Dilemmata, Ressourcen und Entwicklungschancen einzugehen, welche im Hinblick auf einen gelingenden Einstieg in die nachsportliche Karriere bedeutsam werden.

2. Elementar wichtig: Menschliche Wertschätzung von ausserhalb!

Je höher der Spitzensportler im sportlichen Olymp steigt, desto höher wird die Fallhöhe. Gleichzeitig entsteht ein spezifischer Sportkosmos, der sich vom herkömmlichen Alltag immer weiter entfernt. Im Sportjargon heisst das: der Athlet läuft Gefahr, die Bodenhaftung, den Bezug zum „normalen Leben“, zu verlieren. Auch aus dieser Perspektive betrachtet, postuliere ich eine abschliessende, für das psychische Wohlergehen des Sportstars essentiel bedeutsame Forderung an das soziale Umfeld: mindestens eine primäre Bezugsperson muss im engsten Betreuungsumfeld vorhanden sein, deren menschliche Wertschätzung komplett unabhängig vom sportlichen Erfolg ist! Das kann die Grossmutter, der langjährige Schulfreund oder der Sportpsychologe sein. 

3. Fokus und Ressource zugleich: psychische Gesundheit

Spitzensportler fühlen sich nach einer langen Sportkarriere oft ausgelaugt, medial unter Druck, psychisch und physisch angeschlagen. Für einen „letzten grossen Wurf“ sind sie mitunter bereit, nochmals viel zu investieren – vielleicht auch mit Hilfe von Rauschmitteln, Medikamenten oder gar Doping. Beispiele wie jenes von Petter Northug zeigen, dass daraus immenser, zuweilen existenzbedrohender Schaden entstehen kann.

Hier liegt DER Ansatzpunkt für eine langfristige, karrierebegleitende Stärkung der Schutzfaktoren (u.a. psychisches Wohlbefinden, emotionale Robustheit, soziale Unterstützung etc.), die unter der Anleitung der Angewandten Sportpsychologie im Rahmen individualisierter psychologischer Betreuungsmassnahmen und in Koordination mit dem Umfeld des Athleten (Trainer, Betreuer, Eltern, Funktionäre) kontinuierlich entwickelt werden müssen.



Mehr zum Thema:

Quellen:

Küttel. A., Boyle, E. & Schmid, J. (2017). Factors contributing to the quality of the transition out of elite sports in Swiss, Danish, and Polish Athletes. Psychology of Sport and Exercise 29(3), 27-39.

Park, S., Lavallee, D. & Tod, D. (2013). Athletes’ career transition out of sport: a systematic review, International Review of Sport and Exercise Psychology, 6:1, 22-53, DOI: 10.1080/1750984X.2012.687053

Schinke, R.J., McGannon, K.R., Parham W.D. & Lane, A.M. (2012) Toward Cultural Praxis and Cultural Sensitivity: Strategies for Self-Reflexive Sport Psychology Practice, Quest, 64:1, 34-46, DOI: 10.1080/00336297.2012.653264

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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