Dr. Hanspeter Gubelmann: Der „Pillen-Sport“ findet auch im Breitensport statt

Der Medikamentenmissbrauch im Sport hat Dimensionen erreicht, die Wissenschaftler und Insider gleichermassen überraschen. Neu am Thema ist, dass sich die Problematik zunehmend auch auf den Breiten- und Freizeitsport ausweitet. „Pillenkick“ – eine Co-Produktion der ARD-Dopingredaktion und des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv – dokumentierte unlängst den verheerenden Umgang mit Schmerzmitteln im Amateurbereich des Fussballs. Wenn sich junge Menschen mit Pillen betäuben, zählt die Gesundheit nicht mehr viel. Eben dies zu verhindern, muss auch die Aufgabe der angewandten Sportpsychologie sein!

Zum Thema: Sechs Leitideen für die Sportpsychologie hinsichtlich des Medikamentenmissbrauchs im Leistungs- und Breitensport 

Meinen persönlichen „Pillenkick“ erlebte ich erstmals 1994. Damals verbrachte ich ein Studienjahr in den USA und kickte einmal die Woche in einem akademischen Soccer-Team. Schon in den ersten Trainings fiel mir auf, dass ich der einzige im Team war, der sich rund 20 Minuten vor Trainingsbeginn gemächlich ans Aufwärmen machte. Auf meine Nachfrage, wieso alle anderen das Einwärmen ausliessen, meinte der Teamleader: „Nope, we just take Advil!“. Zum besseren Verständnis: Advil ist die US-Version der Ibus…

In der Schweiz kam die Thematik 1998 anlässlich des Jungfrau-Marathons in die Medien, als Urinproben bei 30% der TeilnehmerInnen den Einsatz von Analgetika nachwiesen. Kamber et. al. (2000) kritisierten diese aus ihrer Sicht nicht haltbaren Ergebnisse. In ihrer Studie am „Frauenfelder“ (42km Waffenlauf) fielen die Resultate deutlich tiefer aus: „Nur gerade jeder 20. Waffenläufer trat in diesem Sinne „vorbereitet“ zum Start an. In eine ähnliche Richtung zeigen die Befunde von Stamm et al. (2011), die bezüglich Konsumhäufigkeit von Medikamenten bei der Mehrheit der befragten leistungsorientierten Ausdauersportlern kein bedenkliches Ausmass feststellen konnten. Allerdings konstatieren sie ein Informationsdefizit, welches „auf eine erhebliche Sorglosigkeit und Naivität im Umgang mit Supplementen und Medikamenten schliessen lässt“ (S.122).

Dr. Hanspeter Gubelmann

Dr. Hanspeter Gubelmann

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Mehr Infos: Zur Profilseite, zum Kompetenzzentrum mind2win.ch

Wer liest schon den Beipack-Zettel?

Zu einer völlig anderen Einschätzung gelangen Brune et al. (2009) in ihrem äusserst informativen Übersichtsartikel zu Analgetikamissbrauch bei Marathonläufern. In ihrer breit angelegten Studie anlässlich des Bonn-Marathons 2009, die den Schmerzmittelkonsum vor dem Start qualitativ und quantitativ erfasste, zeigen sich besorgniserregend hohe Verbreitungszahlen. Von den 1024 befragten AthletInnen starteten 11% trotz Schmerzen, 60% standen am Start unter Analgetika. 

Männer klagen schon im Training über wesentlich mehr Schmerzen und greifen auch da häufiger und in höherer Dosierung zu Schmerzmitteln als Frauen. „Insgesamt erwiesen sich die Männer als schmerzgeplagter und aggressiver bei der Therapie ihrer Schmerzen.“ (S.40) Die Autoren bescheinigen den betroffenen LäuferInnen auch „erschreckende Sorglosigkeit“ im Umgang mit den Medikamenten, welche sich auch in der Nichtbeachtung des Beipack-Zettels zeigt: „Wenn man die für den rezeptfreien Gebrauch vorgeschlagenen Dosierungen als Richtschnur nimmt, nahmen gut die Hälfte der Anwender von Ibuprofen oder Diclofenac zu hohe Dosen ein.“ (S.40)

Fatale Prophylaxe ohne Schmerzlinderung oder Leistungssteigerung

Die ARD-Doku „Pillenkick“ führt an mehreren Beispielen aus, welche fatalen Folgen ein Schmerzmittelmissbrauch haben kann. Konsultiert man hierzu gängige Fachliteratur (vgl. Schek 2015), stösst man unweigerlich auf zahlreiche Beispiele auch ausserhalb des Fussballs.  

Fallbeispiel zum Risiko im Umgang mit Schmerzmitteln:

Langstreckenlauf: Nach dem Sieg beim 100 Meilen Leadville Trail 2008 in 24:48:28 h sagte die US-amerikanische Siegerin Stephanie Ehret: “I’d never felt so bad” und “I was pretty sure I was dying”, nachdem sie Schleimhautfetzen ihres Verdauungstrakts erbrochen hatte. Akutes Nierenversagen konnte dank sofortiger Einlieferung ins Krankenhaus verhindert werden, wo diagnostiziert wurde: Rhabdomyolyse (Muskelfaserzerfall), hervorgerufen durch Überlastung, Dehydration und die Einnahme von 12 x 200 mg Ibuprofen, welches von manchen Läufern als “Vitamin I” bezeichnet wird (Aschwanden, 2009).  

Quelle: Fallbeispiele (vgl. Schek, 2015)

Wissenschaftliche Erkenntnisse widersprechen verbreiteten Annahmen

Interessant dabei ist, dass – wissenschaftlich betrachtet – die Einnahme von Schmerzmitteln vor oder während des sportlichen Wettkampfs nicht zu einer (erhofften) Leistungssteigerung und/oder (intendierten) Schmerzlinderung führt. Nieman et al. (2006) zeigten, dass Ultramarathonläufer (n = 29), die im Rahmen eines 160-km-Laufs insgesamt 1,8 g Ibuprofen einnahmen (3 x 200 mg am Vortag, 1 x 200 mg vor dem Start, 5 x 200 mg alle 4 Stunden während des Rennens), nicht weniger unter Muskelschäden litten als die Kontrollgruppe (n = 25), vielmehr fielen diverse Indikatoren für Entzündungen und Endotoxine im Blut sogar höher aus. 

Auch auf Muskelkater und Muskelschmerzen, die sich nach einer intensiven Belastung einstellen können, erzielt eine Medikation vor und/oder während des Wettkampfs keine positiven Effekte. Aus medizinischer Sicht ist klar (vgl. Brune et al. 2009): Die (prophylaktische) Anwendung von Schmerzmitteln vor/während intensiven Trainings oder Höchstleistungen im Wettkampf ist weder medizinisch noch sportlich gerechtfertigt. Verschiedene Organsysteme wie Niere, Magen-Darm-Trakt und Herz-Kreislauf werden zusätzlich belastet, die Blutgerinnung kann gestört werden und das Erreichen des erwünschten Ziels (Schmerzfreiheit) während und nach der Anstrengung ist keinesfalls gewährleistet. Geeignete Schmerzmittel können nach der Belastung und nach einer ausreichenden Flüssigkeits- und Salzzufuhr eingenommen werden, wenn mit grosser Wahrscheinlichkeit nachfolgende Schmerzen zu erwarten sind.

Der Medikamentenmissbrauch nimmt zu – auch die Sportpsychologie ist gefordert

Eine Kernaussage der ARD-Doku «Pillenkick» lautet: der Medikamentenmissbrauch im Sport nimmt zu – auch bei Jugendlichen und Frauen. Der Konsum von Medikamenten ist Teil einer auf Perfektion getrimmten Leistungsgesellschaft. Davor bleibt auch der Sport nicht verschont. Kürzlich durfte ich im Rahmen eines Interviews mit der Zeitung «Züricher Oberländer» (ZO, siehe unten) Möglichkeiten im Umgang mit dieser Entwicklung darlegen. Meine pädagogisch orientierte Haltung zielt insbesondere in zwei Richtungen: es gilt, mehr in Gesundheit und Prävention zu investieren und vor allem Kinder und Jugendliche vor dem drohenden “Pillenkick” zu schützen. Nachfolgend sechs Leitideen für die Umsetzung in die sportpsychologische Praxis.

1) Information

Wenn Schmerzmittel – dann die passenden Medikamente richtig dosiert und zum richtigen Zeitpunkt! Ein Missbrauch, falsche Dosierung oder eine heimliche Selbstmedikation müssen unbedingt vermieden werden. Die Sportpsychologie steht in der Pflicht, dieses Wissen – z.B. in einer Coach-the-Coach-Situation im Rahmen eines interdisziplinären Austauschs – einzufordern. In Zusammenarbeit mit der Sportmedizin sollen sportartbezogene Tipps (siehe Abb. 2) erarbeitet werden. Dadurch werden auch Offenheit, Transparenz und Seriosität im Umfeld der Athleten gefördert.

Tipp: Kleiner Leitfaden zum Einsatz von Schmerzmitteln (aus: Brune et al. 2009, S.41, Link)

2) Schwerpunkt Jugendleistungssport:

Jugendliche wachsen heute mit der Pille für jede Gelegenheit auf. Ecstasy für den nächsten Partybesuch, Beta-Blocker vor der Abschlussprüfung, Melatonin für besseren Schlaf oder eben Schmerzmittel gegen den drohenden Muskelkater. Hier braucht es im Sport eine bewusste und sozial unterstützte Abkehr. Kampagnen wie „cool and clean“ von Swiss Olympic oder GATE der Deutschen Sportjugend (im DOSB) zielen in eine positive Richtung. Entscheidend ist aber das „gelebte Vorbild“ – hier sind die Eltern gefragt, aber auch erfolgreiche Sportidole, die „cool and clean“ vorleben und verkörpern können. Die Sportpsychologie übernimmt die Moderation!

3) Sensiblisierung: 

Aus Sicht der Sportpsychologie interessiert vor allem eine Frage: Warum greift ein Athlet in einer bestimmten Situation zu einem Schmerzmittel? Wo liegen die Gründe? Welches sind die Überzeugungen, die den vermehrten Griff zum erhofften „quick fix“ leiten? Im Leistungssport dürften insbesondere Stresssituationen (Zeitdruck, Leistungsdruck, Qualifikationssituation etc.) den Ausschlag geben. 

Schauen wir aber auch in die Regionen unterhalb des Profitums: Vielleicht will der Freizeitsportler seine Grenzen nicht wahrhaben? Getrieben von falschem Ehrgeiz kann der Griff zum Ibu dann auch ein sehr unüberlegter sein. Ein gesundheitsförderlicher Umgang mit dem Thema «Schmerzen» müsste aus psychologischer Sicht auch zum Ziel haben, die Erholungs-Belastungs-Bilanz entsprechend positiv zu gestalten.

4) Nichtmedikamentöse Behandlung von Schmerzen:

Fachlich gut ausgebildeten und erfahrenen SportpsychologInnen stehen im Bereich des komplementären Schmerzmanagements eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dazu gehören u.a. klassische Formen der Gesprächstherapie, Achtsamkeitsübungen, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstraining, Visualisierung, Hypnose sowie der Einsatz von Musik. Angesichts der aktuellen Diskussion hinsichtlich eines gesundheitsförderlichen Umgangs mit körperlichen Schmerzen gilt es, unsere sportpsychologische Fachkompetenz im Bereich der nichtmedikamentösen Behandlung noch deutlich zu steigern! 

5) Mut zur Abwechslung und Veränderung:

Bezogen auf die Prophylaxe und Therapie von Schmerzen im Breiten- und Freizeitsport sollte jeder bei wiederkehrenden, starken Schmerzen für sich selbst die Sinnhaftigkeit des Trainings und/oder der Sportart prüfen. Manchmal könnte es gesünder sein, die Sportart zu wechseln oder auf andere Trainingsreize zu setzen. Vielleicht hilft auch eine sportmedizinische Abklärung, um geeignete (neue) Wege zu beschreiten, auch um einer weiteren Schädigung des eigenen Körpers vorzubeugen. Auch hier kann die Sportpsychologie unterstützend zur Seite stehen.

6) Thema für die sportpsychologische Supervision:

Aus meiner eigenen Arbeit und den daraus gewonnenen Erkenntnissen im Umgang mit dem «Pillen-Sport» bleibt zum Schluss eine wichtige Einsicht. Es ist ein Kernthema im aktuellen Leistungssport, das mich in der Vergangenheit auch schon an meine fachlichen und moralischen Grenzen geführt hat. In solchen Situationen half vor allem der Austausch mit anderen FachkollegInnen – ein typisches Beispiel also auch für Intervision und Supervision!

Mehr zum Thema:

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TV-Doku “Pillenkick”

Das Thema Schmerzmittelmissbrauch im Sport in den Medien:

www.pillenkick.de – Landingpage von Correctiv und der ARD-Dopingredaktion zu den gemeinsamen Recherchen mit vielen Beiträgen, Videos und Texten

Geheimsache Doping – Beiträge der ARD-Dopingredaktion

Ärzteblatt – Beitrag “Schmerzmittel: Missbrauch auch im Breitensport” auf Basis der Recherchen von Correctiv und der ARD-Dopingredaktion

ZO, Ausgabe Samstag, 11. Juli 2020
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Quellen:

Brune, K., Niederweis, U., Kaufmann, M. & Küster-Kaufmann, M. (2009). Jeder Zweite nimmt vor dem Start ein Schmerzmittel – Analgetikamissbrauch bei Marathonläufern. MMW-Fortschr.Med.Nr 151 (40), 39-42.
https://www.semanticscholar.org/paper/Analgetikamissbrauch-bei-Marathonläufern%3A-Jeder-vor-Brune-Niederweis/681902af06930378642b4faa3069931871e6b64d

Kamber, M., Alampi, G. & Marti, B. (2000). Arzneimittelgebrauch im Breitensport: Vergleich von Ausdauersportlern und beruflich körperlich Aktiven. Schweizerische Zeitschrift für «Sportmedizin und Sporttraumatologie» 48 (2), 76–79.
https://sgsm.ch/fileadmin/user_upload/Zeitschrift/48-2000-2/6-2000-2_Kamber.pdf

Krentz, Joel & Quest, Braden & Farthing, Jonathan & Quest, Dale & Chilibeck, Philip. (2008). The effects of ibuprofen on muscle hypertrophy, strength, and soreness during resistance training. Applied physiology, nutrition, and metabolism, 33. 470-5.

Nieman, D.C. et al. (2006). Ibuprofen use, endotoxemia, inflammation, and plasma cytokines during ultramarathon competition. Brain, Behavior, and Immunity, Elsevier (20) 6, 578-584

https://doi.org/10.1016/j.bbi.2006.02.001

Schek, Alexandra. (2015). Substanzmissbrauch im Leistungssport. Leistungssport. 45. 52-55.
https://www.researchgate.net/publication/301328067_Substanzmissbrauch_im_Leistungssport

Stamm, H., Stahlberger, M., Gebert, A., Lamprecht, M. & Kamber, M. (2011). Supplemente, Medikamente und Doping im Freizeitsport. Schweizerische Zeitschrift für «Sportmedizin und Sporttraumatologie» 59 (3), 122-126.
https://sgsm.ch/fileadmin/user_upload/Zeitschrift/59-2011-3/Supplements_Spomed_3-11-4_Stamm.pdf

https://www.coolandclean.ch/de/ueber-uns.html

https://www.dsj.de/index.php?id=477

https://correctiv.org/top-stories/2020/06/08/pillenkick/

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