Andreas Meyer: Stress als Risikofaktor Nummer 1

Stress kennt jeder. Und zwar aus allen Lebensbereichen. Viele Sportler wissen auch aus eigener Erfahrung, wie leistungsmindernd sich Belastungen im Training und Wettkampf auswirken können. Von besonderer Bedeutung ist aber zudem, dass bei einem “ungesunden” Stresslevel auch die Anfälligkeit für Verletzungen steigt. Sportler, Trainer, Betreuer und Eltern sollten dem Thema Stress also mehr Aufmerksamkeit widmen.

Zum Thema: Stress im Zusammenhang mit Verletzungen

Jeder Mensch wird im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Stressoren konfrontiert. Unter Stressoren versteht man generell mögliche innere und äußere Reize, die Stress auslösen können. Die meisten davon sind ganz normal und gehören einfach zum Leben dazu.

Stressoren im Sport haben verschiedene Nährböden, aus denen heraus sie entstehen können. Dazu zählt beispielsweise die Umwelt des Athleten: Medien, Zuschauer, Sponsoren und andere Faktoren aus der Umgebung des Sportlers wie Kälte, unangenehme Lautstärken usw. Hinzukommen, wie bei jedem Menschen Stressoren aus dem privaten Umfeld, wie zum Beispiel Beziehungsproblematiken, Identitäts- und Sinnkrisen, der Umzug in eine neue Wohnung oder ein Arbeitsplatzwechsel. Innerhalb eines Teams kann es zu Kämpfen um Stamm- oder Kaderplätze, sowie zu Uneinigkeiten oder Problemen mit dem Trainer oder Teamkollegen kommen. Nicht zuletzt kann auch die Leistung des Athleten mögliche Stressoren hervorbringen, denn häufig definieren sich Sportler über jene. Bleibt die Leistung auf Grund eines Formtiefs aus, oder hatte der Sportler in jüngster Vergangenheit mit Niederlagen zu kämpfen, so sind auch dies mögliche Stressreize.

Abbildung 1: Entstehung stressbedingter Sportverletzungen nach Meyer (2019)

Anhand eines Modells möchte ich die Rolle des Stresses in der Entstehung von Verletzungen veranschaulichen und mögliche Interventionsmöglichkeiten, welche die Sportpsychologie bietet, darstellen.

Stressbelastung vs. Stressbeanspruchung 

Durch Akkumulation dieser Stressoren, entsteht eine sogenannte Stressbelastung, welche sowohl eine physiologische als auch eine psychologische Last für den Sportler darstellen kann. Eine Stressbelastung ist abzugrenzen von einer Stressbeanspruchung. Die Beanspruchung könnte man als das bezeichnen, was individuell beim Sportler ankommt. Um das etwas deutlicher zu machen, hier ein Beispiel aus der Trainingswissenschaft:

Athlet 1 und Athlet 2 bekommen beim Bankdrücken das gleiche Gewicht (100 kg) aufgelegt. Das bedeutet, dass beide Athleten die gleiche Belastung erfahren! Athlet 1 ist Kraftsportler, wiegt 120 kg und ist gewohnt hohe Gewichte zu stemmen. Athlet 2 hingegen hat gerade mit dem Sport angefangen und wiegt nur 70 kg. Beide Athleten werden sehr unterschiedliche Beanspruchungen erleben, obwohl die Belastung dieselbe ist.

Nicht jede hohe Stressbelastung ist also gleichzeitig auch eine hohe Stressbeanspruchung für den Athleten.

Auswirkungen auf das Handeln

Erfährt der Sportler große Stressbelastungen (sei es durch einzelne einschneidende Erlebnisse (major life event stress) oder durch mehrere kleine Belastungen (daily hassles)) und kann diese nicht gut bewältigen, so entsteht eine große Stressbeanspruchung. Diese zeigt sich dann in Stressreaktionen, welche sich kognitiv, emotional, physiologisch oder auf sein Handeln auswirken können.

Kognitiv kann es zu Aufmerksamkeitsproblemen und zur Beeinflussung von Bewertungsmechanismen kommen. Physiologisch hat eine hohe Stressbeanspruchung Müdigkeit oder eine veränderte Muskelspannung zur Folge. Emotional kommt es zu Zweifeln und Unbehagen und auf der Verhaltensebene greift die beanspruchte Person vermehrt auf ungesunde Lebensweisen wie zum Beispiel überhöhten Alkohol- und Tabakkonsum zurück.

Im Sport sind diese Stressreaktion eng mit dem Verletzungsrisiko verbunden, denn der Sportler trifft aufgrund seiner Müdigkeit und Aufmerksamkeitsproblematik inadäquate Entscheidungen und seine Reaktionszeit verlangsamt sich. Die Wundheilung wird beeinflusst und die Wahrnehmung beeinträchtigt. Außerdem fällt das Filtern von relevanten Informationen für die vor ihm liegende Handlung schwerer und die selektive Aufmerksamkeit sinkt. Das alles führt dazu, dass das Risiko einer Verletzung steigt.

Welche Einflüsse können wir auf diese Prozesse nehmen und somit das Verletzungsrisiko minimieren?

Zunächst einmal bringt jeder Athlet ein gewisses Maß an Einflussfaktoren mit sich. Maßgeblich sind hier seine Persönlichkeitseigenschaften. Ist er eher ein ängstlicher Typ und sieht Belastungen (wie zum Beispiel einen Wettkampf) eher als eine Bedrohung statt als eine Herausforderung? Bringt er ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit mit und vertraut somit darauf, dass er selbst entscheidend Einfluss auf Situationen nehmen kann?

Zudem scheint die grundsätzliche Stimmungslage eine Rolle zu spielen. Athleten die eine negative Grundstimmung haben oder starken Stimmungsschwankungen erliegen, verletzen sich laut Studien öfter als ihre positiv gestimmten Kollegen.

Mehr Infos zu Andreas Meyer: https://www.die-sportpsychologen.de/andreas-meyer/

Die Bedeutung der Stressvergangenheit

Auch die Stressvergangenheit spielt beim Umgang mit Stressbelastungen eine Rolle. War der Athlet schon einmal von Verletzungen betroffen oder gab es große Stresserlebnisse, die er erfolgreich bewältigen konnte, so steigt seine Selbstwirksamkeit. Andersherum können nicht erfolgreich bewältigte stressige Erlebnisse auch negativ auf den ganzen Prozess einwirken.

Verschiedenste Ressourcen, wie eine gute unterstützende soziale Gemeinschaft mit Familie und Freunden, bereits erlernte Bewältigungsstrategien oder eine gesunde Lebensführung (Schlaf, Ernährung usw.), können ebenfalls einen Einflussfaktor darstellen.

Neben diesen Einflussfaktoren bietet die Sportpsychologie an allen Stellen Möglichkeiten, um auf den Stressprozess einzuwirken. Einige Methoden und deren positiven Einfluss stelle ich im Folgenden kurz vor.

Stressauslösende Reize

Stressauslösende Reize treten überall auf! Man braucht nur einen Schritt vor die Tür zu setzen und schon strömen die Stressoren auf einen zu (Straßenverkehr, Regen usw.). Auch in den eigenen vier Wänden ist man nicht davor gewahrt (unangenehmes Telefonat, Rechnungen usw.). Man kann also nicht allen Stressoren aus dem Weg gehen. Allerdings kann man versuchen die Quellen, welche einen hohen Stressfaktor darstellen, zu minimieren. Das setzt voraus, dass man sich damit auseinandersetzt und sich bewusst macht, mit welche stressigen Situationen man konfrontiert wird und wie diese vermeidbar sind. Daraufhin können gewisse Lebensumstände angepasst, Situationen vermieden und Zeiträume für entspannte oder ausgleichende Phasen strukturiert geschaffen werden.

Ein Stressmonitoring erfasst den Zustand des Athleten und sorgt dafür, dass der Trainer Einfluss auf sein Trainingsprogramm nehmen kann. Ist der Sportler beispielsweise gestresst, weil er nicht gut geschlafen hat und er zudem gerade Probleme mit seiner Partnerin hat, so sollte das Training angepasst werden, um zusätzliche Stressbelastungen zu vermeiden.

Wird der Sportler zwangsläufig mit einer hohen Stressbelastung konfrontiert, so kennt der Sportpsychologe einige Methoden, die vermeiden können, dass aus einer hohen Belastung eine hohe Beanspruchung wird. Beispielsweise durch die Vermittlung von passenden Entspannungsverfahren wie Atementspannung, Progressive Muskelrelaxation oder Autogenes Training. Achtsamkeitsübungen können dabei helfen eine akzeptierende Grundhaltung gegenüber der aufgekommenen Stressbelastung zu entwickeln und die selektive Aufmerksamkeit auf positive Dinge zu erhöhen.

Nicht zu vernachlässigen: Die positive Seite des Stress

Außerdem ist es manchmal schon hilfreich den Sportler grundsätzlich aufzuklären, welche Bedeutung Stress generell hat. Das heißt, welche Risiken, aber auch welche Vorteile Stress in gewissen Situationen bietet. Somit muss Stress und Druck generell vom Sportler gar nicht immer gleich als etwas Negatives angesehen werden.

Bewertungsstrategien, beispielsweise nach Niederlagen, nehmen Einfluss darauf, ob die Stressbelastung zu einer Beanspruchung des Athleten führt. So kommt es häufig vor, dass Situationen nicht realistisch eingeschätzt werden und sich falsche Bewertungsmuster (Attributionsstile) einschleichen. Diese gilt es aufzudecken und mit einer neuen, adäquaten Beurteilung zu versehen.

Neben solchen Interventionen, die hauptsächlich auf die Arbeit mit dem Athleten selbst abzielen, hat der Sportpsychologe (nach Rücksprache und Zustimmung des Athleten) auch die Option durch Gespräche mit möglichen Stressoren (Trainer, Kollegen, Familienangehörigen oder Freunden) Einfluss auf den Prozess zu nehmen.

Fazit

Weitere Themen, wie den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit, den Umgang mit Angst und das gemeinsame Erarbeiten einer zielführenden und motivierten Einstellung sind zusätzliche Ansatzmöglichkeiten in der Sportpsychologie.

Was ich zum Schluss noch einmal festhalten möchte ist Folgendes:
Stress ist ein Risikofaktor für die Entstehung von Verletzungen! Stress erleben alle! Leistungssportler sind in der Regel einigen Stressoren ausgesetzt! Ob und wie stark diese Stressbelastung allerdings zu einer Stressbeanspruchung (und in Folge dessen zu einer Stressreaktion) wird, kann durch viele Dinge beeinflusst werden!

Mehr zum Thema

https://www.die-sportpsychologen.de/2019/02/26/andreas-meyer-sportpsychologie-und-sportverletzungen/

https://www.die-sportpsychologen.de/2015/06/02/philippe-mueller-verletzungen-bewaeltigen/

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/10/04/thorsten-loch-die-unterschaetzte-gefahr-bei-kopfverletzungen/

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Andreas Meyer
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