Prof. Dr. Oliver Stoll: Das Ende? (Streakrunning-Serie, Teil 8)

Ich beginne mit dem Schreiben der aktuellen Folge meiner Streaking-Serie schon zwei Tage vor Ende des Monats Juli 2018, weil ich – offen gesagt nicht genau weiß, wie die Sache letztendlich ausgeht. Ich würde vermuten, die Zeichen stehen gut. Aber manchmal kommt es eben anders, als man denkt. Eines vorweg: Wahrscheinlich zieht dieser Blog-Beitrag möglicherweise einen Shit-Storm nach sich. Da lasse ich mich mal überraschen. Und wenn es denn so kommt, dann werde ich damit leben.

Zum Thema: Streakrunning-Serie, Teil 8

Aber fangen wir von vorn an. Der Juni mit den beiden „einerseits belastenden – andererseits so beliebten“  Wettkämpfen war vorbei. Kein Druck mehr – nur noch laufen wie und wann man will – Urlaub steht vor der Tür. Es kann nur besser werden. Der erste Teil des Monats Juni, war, trotz Stress in der Uni (Prüfungsphase), ein Traum von Laufgefühl. Ich hatte es mir zurückgeholt, das Glück und die Leidenschaft, die ich mit dem Laufen verbinde (Link zur Juni-Folge der Streaming-Serie: https://www.die-sportpsychologen.de/2018/07/02/prof-dr-oliver-stoll-krisenmonat-juni-streakrunning-serie-teil-7/).  Jeder Tag war, als gäbe es gar keine „Finish-Line“, die ich ja auch immer so oft haben und erleben muss.

Am 17. Juli joggte ich gemeinsam mit Frauke gemütlich durch unser Lieblingslaufgebiet, und ich war angeregt in ein Gespräch vertieft. Wir querten Straßenbahngleiße, mit anschließenden hohen Bürgersteig und „ZACK“ – ich stolpere – lege allerdings auch eine geniale „Ronaldo-Rolle“ hin und kam schnell wieder ins Stehen. Das Ergebnis: Ein ziemlich ramponiertes linkes Knie, ansonsten alles gut. Die Wunde, im Wesentlichen oberflächlich aber breit. Mein erster Gedanke: Das war`s jetzt. Aber nein – Erstversorgung war hervorragend – alles super – auch am nächsten Tag kein Eiter oder Entzündung – alles gut – nochmal Glück gehabt (es gibt dazu auch Bilder, aber die muss man jetzt nicht haben – da kommt später noch was anderes). Nun ja – nicht funktionale Aufmerksamkeitsregulation. Man könnte ja meinen, dass ich daraus gelernt hätte. Die Aktion behinderte mich jedenfalls nicht weiter beim Streaken – das hätte allerdings auch anders ausgehen können.

Urlaub auf Sardinien

Am 22. Juli reisten wir dann nach Sardinien. Der so lange geplante und erwartete Urlaub. Die Hinreise war für einen Streak-Runner eher schwierig. Flug von Berlin nach Stuttgart um 8 Uhr – dann fünf Stunden Overlay, bevor es dann nach Cagliari weiterging. Wann laufe ich? Nein – nicht am Flughafen die Gateway rauf und runter – und auch nicht in der Overlay-Phase – das war mir zu blöd! Also raus aus dem Bett um 4:00 Uhr und dann eine lockere halbe Stunde in Leipzig (Stötteritz), die ich im übrigen sehr genossen habe, mit so viel Vorfreude und tollen Bildern im Kopf. Bilder und Visionen darüber, was uns wohl erwarten würde.

Es ging alles super. Die beiden Flüge gingen rechtzeitig und wir beide waren an Bord. Ankunft in Cagliari spät abends, Mietauto abholen, ab ins Hotel, einem kurzen ersten Eindruck der Stadt mitnehmen und dann erst mal ausschlafen.

Fehlende Aufmerksamkeit

Am nächsten, frühen morgen bin ich dann schon mal losgelaufen, weil es noch einiges zu erledigen gab, unter anderem Bargeld besorgen. Der Morgen war angenehm für südeuropäische Verhältnisse, vielleicht knapp 22 Grad und eine leichte Brise fegte durch die engen Straßen Cagliaris. Ich war voll auf beschäftigt mit „laufendem Genießen“ und den Kopf immer oben, auf der Suche nach einem Geldautomaten. KEINE GUTE IDEE. Ich habe einen Fehler gemacht und war unaufmerksam, als ich so vor mich hinlief (da hatte ich wohl doch nichts gelernt aus der Aktion, eine Woche zuvor). Mein rechter Fuß trat auf einen im Weg liegenden großen Stein und knickte rechts weg. In dem Moment als es passierte, war mir klar – das ist jetzt keine Kleinigkeit. Ich kannte ja das Gefühl schon, dass ich vor ca. zehn Jahren schon mal erlebte. Es ist, wie wenn dir jemand von rechts hinten ein Messer in das Sprunggelenk rammt. Genau das hatte ich schon mal, als ich als Eishockeytrainer mal sehr blöd von der Auswechselbank aus ca. einem Meter Höhe ohne zu schauen abstieg und genau so umknickte, weil ich auf ein Schlägerende trat. Damals schon – nach gehaltener Röntgenaufnahme – Bänderriss. Ich wusste genau in diesem Moment, was da passiert war – und nein – ich wollte nicht wieder eine „gehaltene Röntgenaufnahme“ um sicher zu gehen. Ich wusste – das Band ist sicher durch. Ich kam noch gut bis ins Hotel zurück, und dann war klar, was passieren würde – mächtige Schwellung (siehe Abbildung 1), Bewegungseinschränkung und anhaltender Schmerz. War es das jetzt mit meinem Vorhaben: „Ein Jahr Streak-Running“? Nein – ich war noch nicht bereit, dieses Projekt aufzugeben. In meinem Kopf ging immer wieder der Gedanke herum: „Eine Meile geht immer irgendwie“. Andererseits begann ich mir auch richtig Sorgen zu machen, nicht unbedingt wegen des drohenden Ende des Streaks, sondern weil damit der so geliebte Jahresurlaub „auf der Kippe stand“.

Diejenigen unter Euch Leserinnen und Lesern, die mit Frauke und mir auf Facebook befreundet sind, kennen ja nur die tollen Superfotos aus unserem Urlaub. Und ja, genau so war es auch – aber die Sache mit dem Sprunggelenk habe ich erst einmal für mich behalten.

Abb.1: Das rechte Sprunggelenk drei Tage nach dem Außenbandriss; Abb.2: Das rechte Sprunggelenk vier Tage nach dem Außenbandriss, stabilisiert

Was kann passieren?

Es folgten lange Gespräche mit Frauke und einiges an Internet-Recherche. Was also könnte denn passieren, wenn ich trotzdem (in gewissen Grenzen) weiterlaufen würde? Nach meinen Gesprächen und der Internet-Recherche kam ich zu dem Schluss, dass eigentlich nichts weiter passieren kann. Das Band ist kaputt – eine Operation kommt nicht in Frage – ich muss sehen, wie ich die nächsten nächsten Wochen damit klar komme und darf nur nicht noch einmal umknicken. Die nächste Apotheke verkaufte mir jedenfalls erst einmal eine Großpackung Mobilat und Ibuprofen 400er Tabletten. Ich hatte kurz an einen Air-Cast gedacht, den aber dann nicht gekauft, weil ich jetzt bewusst laufen wollte, um nicht noch einmal umzuknicken. Und so lief ich weiter. Am Tag nach dem Vorfall, vier Kilometer, am Tag darauf neun Kilometer und dann noch mal einen Tag später fünf Kilometer – sehr kontrolliert – auf flacher Strecke – Asphalt und unter „Drogen“ – sprich Ibuprofen. Schmerzen – ja – trotz Ibu, aber erträglich. Mir schwante aber eben auch nichts Gutes, weil ich wusste, dass es am nächsten Tag nach Fonni gehen sollte, also dem Ausgangsprunkt für unser Trail-Run Highlight hier in Sardinien. Rauf und wieder runter auf die Punta la Marmola – dem Dach Sardiniens auf fast 2000 Meter und das eben vor allen Dingen auf den letzten 300 Höhenmetern, sehr unwegsames Gebiet. Laufen mit Außenbandriss auf Asphalt flach ist eine Sache – Trailrunning damit im Hochgebirge ist eine andere Angelegenheit. Wir entschieden uns für einen „Walk-Run“. Laufen immer dann, wenn es auch für mich möglich erscheint und Wandern immer dann, wenn es „technisch wird“. Am Vorabend teilten wir die Unterkunft mit zwei Medizinstudenten, kurz vor ihrem Abschluss, eine angehende Allgemeinmedizinerin, und ein angehender Radiologe aus Frankreich. Die beiden wollten auch auf die Punta und sie haben sich meinen Knöchel dann mal angeschaut. Felicitas, die Allgemeinmedizinerin, schaute zu ihrem Freund und meinte: „Was denkst Du – sechs Wochen Sportverbot“! Dann wandte sie sich mir und Frauke zu und sagte mit ernster Stimme: „Ich weiß, das machst du sowieso nicht – wahrscheinlich nicht mal die zwei Wochen, die Du jetzt eigentlich mindestens brauchst, aber ich bitte Dich – hole dir einen Air-Cast , bevor ihr auf die Punta hoch geht!“ Wir hatten mit den beiden noch einen langen Abend. Sehr interessante Gespräche und natürlich kam auch wieder das Thema „Sportsucht“ auf das Tableau – aber dazu komme ich später beim meinem Fazit noch einmal.

Liebe Leserinnen und Leser, was jetzt kommt: „Bitte nicht nachmachen“! Ich weiß, dass das unvernünftig war und ich weiß auch, dass ich damit kein Vorbild für andere Menschen bin. Dass wir dann am nächsten Tag tatsächlich los marschiert/gerannt sind, hat mit einem tiefen Urvertrauen in unsere (Frauke und meine) Fähigkeiten zu tun und wahrscheinlich auch damit, dass ich dann tatsächlich, bevor wir los sind, in einer Apotheke hier – zwar keinen echten Air-Cast – aber einen brauchbaren Knöchel-Stabilisator bekommen habe. Und dann sind wir beide – also Frauke und ich los in Richtung Punta la Marmola – und ich möchte keine Minute davon missen. Dieses gemeinsame Abenteuer da hinauf, das „Sein im Hier und Jetzt“ in dieser wilden, rauen Natur, ganz alleine mit uns und dem Berg. Das war trotz des Knöchels, ein unvergessliches Erlebnis. Wir haben kurz vor dem Gipfel dann sogar noch unsere beiden angehenden Ärzte getroffen und ein schönes Wiedersehen gefeiert. Der Abstieg war dann sehr fordernd für mich, vor allen Dingen, was Konzentration und Aufmerksamkeit betraf. Wir haben fast sechs Stunden für die 30 Kilometer und 1500 positive Höhemeter gebraucht, aber das Erlebnis und der Ausblick bei diesem Traumwetter von dort oben, was es absolut wert.

Abb. 3: Oliver – mit seinen Freunden, den Bergziegen

Wieder Schmerzmittel 

Es gibt auch noch eine Geschichte in dieser Geschichte, die aber mit dem Laufen im engeren Sinne erst Mal nichts zu tun hat und die ich Euch an dieser Stelle auch vorenthalte. Die bekommen dann diejenigen von Euch erzählt, mit denen wir uns mal persönlich treffen.

Dieser Tag war jedenfalls atemberauend schön und trotz Schmerzen und dem einen oder anderen ganz kleinen „Umknicker“ unvergesslich. Ja, der Knöchel war wieder dicker am nächsten Tag, und es ging erst mal wieder nicht mehr ohne Schmerzmittel, aber am heutigen Tag, sechs Tage nach dem Bänderriss bin ich das erste Mal wieder ohne Schmerzmittel gelaufen und die Schwellung nimmt weiter ab (die Laufeinheiten sind aber auch nicht länger als 30 Minuten gerade).

Beta-Endorphine und das „Runner`s High“

Auf dem Dach Sardiniens, der Punta la Marmora (Frauke jubelt im Vordergrund)

Ich hatte mich dann doch mal an meine Magister-Arbeit 1990 erinnert. Damals untersuchte ich die Funktion der Beta-Endorphine, die ja bekanntlich immer für das „Runner`s High“ verantwortlich gemacht werden. Das ist nachweislich aber „Blödsinn“. Endorphine wirken natürlich, aber eben ganz anders. Sie sind Teil unseres körpereigenen Opiodsystems, dass Schmerzen lindert. Konkret heißt das (im Selbstversuch getestet): Ich laufe los und schätze die Schmerzintensität auf eine Skala von 0 bis 10 bei etwa 7 ein. Im Laufe der zeit nimmt diese Wahrnehmung ab. Nach ca. 30 Minuten liegt sie bei etwas 2. Na ja und länger als eine halbe Stunde muss ich zur Zeit ja auch nicht unbedingt laufen.

Am heutigen Tage stehen 206 Kilometer in diesem Monat – zwei Tage haben wir noch: Ja, das ist für einen 31-Tage-Monat wenig – aber dann auch schon wieder viel, wenn man bedenkt, was alles passiert ist.

Fazit  

Kann man mit einem Bänderriss im Sprunggelenk (auch weiter täglich) laufen? Ja, das kann man. Kann man damit einen anspruchsvollen Trail-Lauf hinlegen? Ja, das geht (notfalls) auch. Ist das vernünftig? Nein, dass ist es sicherlich nicht. Soviel habe ich daraus erst einmal gelernt.

Bin ich sportsüchtig? Ich würde nach wie vor behaupten: Nein. Nach der Diskussion mit den beiden Medizinstudenten musste ich schon zugeben, dass ich zwei der sieben Suchtkriterien erfülle, aber eben keine vier, die für diese Diagnose zutreffen müssten. Allerdings erfülle ich ein Kriterium, dass ein zentrales ist, nämlich dass der Inkaufnahme einer weiteren Verletzung/Schädigung bei weiterer, sportlicher Aktivität. Ich bin nicht darauf voll fokussiert, vernachlässige nicht meine sozialen Kontakte, erhöhe nicht die Dosis, habe kein Kontrollverlustgefühl, und ob ich unter Entzugssymptomen leide, wenn ich nicht laufen würde, müsste ich erst mal ausprobieren. Im Moment zumindest, ist das keine Option. Ein weiteres zentrales Kriterium erfülle ich ebenso nicht. Ich leide nicht, weil ich laufen muss! Ich tue es nach wie vor, weil ich es liebe.

 

Die komplette Serie:

Prof. Dr. Oliver Stoll: Krisenmonat Juni (Streakrunning-Serie, Teil 7)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Streakrunning ist „Mentales Training“ (Streakrunning-Serie, Teil 1)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Grenzenlose Gelassenheit (Streakrunning-Serie, Teil 2)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Die Sinne schärfen sich (Streakrunning-Serie, Teil 3)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Gefangen zwischen Leistungsorientierung und Bauchgefühl (Streakrunning-Serie, Teil 4)

Prof. Dr. Oliver Stoll: April – der Monat, in dem sich alles verändert… (Streakrunning-Serie, Teil 5)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Laufen im Mai – Von Hitze, viel Grübeln und mit allen Sinnen genießen (Streakrunning-Serie, Teil 6)

 

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