Die Physiotherapie ist im Sport tief verwurzelt. Es gibt kaum Verbände, Vereine oder Athletinnen und Athleten, welche auf die Dienste der Physiotherapie verzichten. Gemäss Definition des Schweizer Physiotherapie Verbandes physioswiss sind Physiotherapeutinnen und -therapeuten Expertinnen und Experten für körperliche Funktionsstörungen und Schmerzen mit dem Ziel die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu steigern. Doch was hat die Physiotherapie mit der Sportpsychologie am Hut?
Zum Thema: Welche Berührungspunkte bestehen zwischen der Sportpsychologie und der Physiotherapie?
Die Professionalisierung der Physiotherapie schreitet in grossen Schritten voran. Ein wichtiger Pfeiler für die Anerkennung der Disziplin ist deshalb der Bezug zur eigenen Wissenschaft (Kuhn, 2007). Dass die Physiotherapiewissenschaften schon lange nicht mehr in den Kinderschuhen stecken, zeigen die zahlreichen etablierten Bachelor- und Masterstudiengänge an Fachhochschulen. Um der Komplexität des Feldes gerecht zu werden, befassen sich die Physiotherapiewissenschaften tiefgehend mit ihren Facetten. Die Sportphysiotherapie bildet dabei lediglich einen kleinen Teil ab.
Das Verständnis für das biopsychosoziale Modell (Engel, 1977) hat sich längst im Gesundheitswesen durchgesetzt. Der Mensch wir als körperlich-seelisches Wesen in seinem öko-sozialen Umfeld betrachtet. Daraus resultiert, dass eine getrennte Betrachtung von Körper und Geist nicht zielführend ist. Wirft man zum Beispiel einen Blick auf das Betreuungsteam in der Rehabilitation, ist dies ein interdisziplinäres Gefüge aus Ärzten, Psychologen, Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Ernährungswissenschaftlern, Masseuren und viele mehr. Auch im Bereich des Sportes sind zahlreiche Expertinnen und Experten, die auf Augenhöhe agieren, involviert. Eine starke Verknüpfung von Psychologie und Physiotherapie ist deshalb gegeben. Aufgrund der Nähe vieler Professionen im Gesundheitswesen ist es nicht überraschend, dass die Physiotherapiewissenschaften für ihre Erklärungsmodelle und Interventionskonzepte auf potentielle Bezugswissenschaften zurückgreift. Zu diesen gehören nach Geuter und Bollert (2007) die Medizin, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Sportwissenschaften und die Philosophie.
Potential der Psychologie für die Physiotherapie am Beispiel der Zielsetzung
Die Psychologie bietet in unterschiedlichen Gebieten Grundlagen für die Interventionen in der Physiotherapie. So lassen sich zum Beispiel in Modellen zur Klärung von chronischen Schmerzen Ansätze der klassischen und operanten Konditionierung wiederfinden (Ehlert, 2003). Auch in der angewandten Tätigkeit sind zahlreiche psychologische Themenfelder, zum Beispiel Lern-, Motivations- und Zielsetzungstheorien, anzutreffen. Um die Qualität der Tätigkeit zu gewährleisten oder gar zu steigern, ist das Erkennen potentieller Situationen und das gezielte Nutzen der Theorien unvermeidlich. Aus diesem Grund benötigt es Plattformen zum Austausch von Wissen und Informationen.
Philippe Müller
Der Schweizer ist Dozent für Sportpsychologie im Master Physiotherapie mit Schwerpunkt Sport an der ZHAW in Zürich.
Kontakt: +41 (0)79 910 39 40
zur Profilseite: https://www.die-sportpsychologen.de/philippe-mueller/
Ziele sind unerlässlich für menschliches Handeln. Denn nach ihnen wird eine Handlung ausgerichtet und kann dadurch erst ausgeführt werden. Somit sind Ziele wichtig für den Therapieverlauf sowie dessen Erfolg. Nach der Goal Setting Theory von Locke und Latham (1990) haben Setzen von spezifischen und schwierigen Zielen einen positiven Einfluss auf die Anstrengung sowie die Ausdauer in der Zielverfolgung. Zudem wird die Selbstwirksamkeit – ein wichtiger Faktor für das kooperative Verhalten (Compliance) – gestärkt. Weitere Moderatoren im Zielsetzungsprozess sind die Zielbindung (Commitment), das Feedback als Standortbestimmung in Bezug auf das Erreichen eines bestimmten Zieles, sowie das Mitspracherecht der Betroffenen bei Entscheidungen, zum Beispiel über die Höhe des Zieles. Wie wichtig die Partizipation ist, also das Mitspracherecht bei der Zielsetzung, zeigen Studien aus der Rehabilitation (Thies et al., 2008). Diese dokumentieren eine starke Abweichung der Patientenerwartungen von Zielen der Ärzte und unterstreichen somit die Notwendigkeit der Erarbeitung eines im Konsens getroffenen individuellen Rehabilitationszieles.
Bedeutung der subjektiven Einschätzung
Wie wichtig die subjektive Einschätzung der betroffenen Person über die eigene Krankheit ist, spiegelt sich nicht nur in der Zielsetzung, sondern in der gesamten kognitiven Krankheitsrepräsentation wieder. In Laventhal’s Common Sense Model of Illness Representation (1980) werden fünf Kategorien unterschieden:
- Identität: enthält konkretes Wissen bezüglich der Krankheitssymptome und die namentliche Laiendiagnose
- zeitlicher Verlauf: Erwartungen zu Dauer und zeitlichem Verlauf (akut, zyklisch, chronisch) der Erkrankung
- Ursachen: beinhaltet die vermuteten Ursachen für die eigene Krankheit
- Konsequenzen: erwartete physische, soziale, emotionale und/oder ökonomische Auswirkungen der Erkrankung
- Behandelbarkeit/Kontrollierbarkeit: meint die Beeinflussbarkeit der Erkrankung durch eigenes Verhalten sowie durch Experteninterventionen (Balck und Preuss 2008)
Aufgrund der Vielzahl an subjektiven Krankheitsannahmen ist jede Therapie einzigartig. Eine individuelle Verlaufsplanung bestimmt in hohem Masse die getreue Umsetzung der Interventionen, dem Einsatzverhalten sowie die emotionalen Reaktionen der Patienten.
Die Chancen nutzen
Durch eine engere Zusammenarbeit ergeben sich neue Chancen für die Physiotherapie durch die Psychologie. Bollert et. al. (2009) halten fest: „Daher ist es unerlässlich, psychologische Theorien und Modelle systematisch im physiotherapeutischen Kontext zu beforschen und gegebenenfalls anzupassen oder sogar für diesen Bereich zu verwerfen und neu zu konzipieren“.
Umgekehrt stellt sich die Frage, ob eine sportpsychologische Intervention ohne Berücksichtigung der biologischen Komponenten sinnvoll ist? Es gehört deshalb zur Steigerung der fachlichen Kompetenz sowie zur Sicherung der Qualität, sich mit den Partnern im Feld auszutauschen und von ihnen zu lernen.
Literatur
Balck, F., & Preuss, M. (2008). Die unterschiedliche Wahrnehmung und kognitive Repräsentation von Erkrankungen. Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden, 57, 81-85.
Bollert, G., Dick, M., Geuter G., Klemme, B., Schmidt W., & Walkenhorst, U. (2009). Bezugswissenschaften der Physiotherapie: Pädagogik und Psychologie. Physioscience, 5(3), 124-132.
Ehlert, U. (Hrsg.) (2016). Verhaltensmedizin (2. Aufl.). Berlin Heidelberg: Springer-Verlag.
Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science, 8. 96(4286), 129-136.
Geuter, G., & Bollert, G. (2007). Das Rad nicht neu erfinden. Bezugswissenschaften unter der Lupe – was die Physiotherapie von anderen lernen kann. Zeitschrift für Physiotherapie, 59, 794-798.
Kuhn, T. S. (2007). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (2. rev. u. erg. Aufl.). Frankfurt: Suhrkamp.
Leventhal, H., Meyer, D., & Nerenz, D. (1980). The common sense model of illness danger. In Rachman, S. (Hrsg.): Medical psychology 2 (S. 7-39): New York: Pergamon.
Locke, E.A., & Latham, G.O. (1990). A theory of goal setting and task performance. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
physioswiss (2019). Abgerufen am 07. September 2019, von https://www.physioswiss.ch/de/ profession/profession2.
Thies, S., Leibbrand, B., Barth, J., et al . (2008). Individuelle Rehabilitationsziele und Rehabilitationsmotivation in der onkologischen Rehabilitation. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 18, 318-323.
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