Dr. Hanspeter Gubelmann: Wie sich sportpsychologisch Siegchancen ausrechnen lassen

In meiner Zeit als Betreuer der Schweizer Skisprung-Nationalmannschaft wurde ich häufig nach Prognosen, Siegchancen und Interpretationen von Wettkampfleistungen befragt. Im Umgang mit Medien enthalte ich mich dieser Diskussion konsequent, was auch allgemeingültigen berufsethischen Vorgaben entspricht. Dennoch, im professionellen Alltag des Spitzensports und in der Unterstützung der Trainer und Athleten präsentiert sich die Ausgangslage anders. Die spannende Frage hier: Welche Indikatoren nutze ich, um die Leistungsmöglichkeiten auch empirisch gestützt beurteilen zu können. In der „mentalen Aufarbeitung“ des individuellen Wettkampferlebnisses bin ich zuweilen sehr froh, Zugriff auf einen aussagekräftigen Orientierungsrahmen zu haben.

Zum Thema: Sportpsychologische Leistungsprognosen 

Wenn es um Olympia und den Kampf um Medaillen und Diplome geht, sind immer auch Zielsetzungen, Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche und Träume mit im Spiel. Zudem wissen wir, dass der Spitzensport in Momenten wie jenen auf der Normalschanze der Skispringer in Peking, immer mehr „Verlierer“ als „Sieger“ produziert. Das liegt u.a. auch in der besonderen Affiche olympischer Spiele begründet – es geht darum, den lang gehegten olympischen Traum bestmöglich zu verwirklichen. Andererseits bin ich davon überzeugt, dass sich jeder Athlet einen individuellen Weg vornimmt, wie er sein Abschneiden im entscheidenden Wettkampf optimal gestalten will. 

Es geht letztlich darum, in der Vorbereitungsphase sein Leistungspotential zu maximieren, um dieses im Wettkampf – ungeachtet aller Rahmenbedingungen – in eine maximal mögliche Leistung umzusetzen. Meine berufliche Prägung, die vor allem auch mit meiner Anbindung an die ETH Zürich zu erklären ist, eröffnet mir zusätzlich Betrachtungsweisen. Ein einfaches Hilfsmittel, welches ich bei einer derartigen Potential-Einschätzung einsetzen kann, möchte ich anschliessend näher beschreiben.

3 Hauptkriterien der Potentialeinschätzung

Wichtig: das vorgeschlagene Orientierungsraster ist nicht empirisch hergeleitet, sondern stützt sich primär auf Erkenntnisse und Erfahrungen aus meiner jahrelangen Tätigkeit im Skispringen. Wir sprechen hier von „Augenscheinvalidität“ und meinen dabei die Expertise, die aus der intensiven Zusammenarbeit mit den Spitzensportler*innen und Funktionären entstanden ist. Konkret schau(t)e ich im Vorfeld des Springens auf der Normalschanze auf Folgendes:

1.) Rangierung in den Top-10 des Gesamtweltcups. In dieser Rangliste bildet sich der Erfolg im bisherigen Saisonverlauf ab. Annahme: Athleten in den Top-10 haben ihre gute Form in bisherigen Wettkämpfen schon mehrfach unter Beweis gestellt – alle standen schon mindestens einmal auf dem Weltcup-Podest.

2.) Durchschnittsweite aller Trainingssprünge. Für sämtliche Springer war der Bakken neu, entsprechend wichtig sind gute, weite Sprünge in möglichst vielen Trainingsdurchgängen.  Annahme: Hier zu den Besten zu gehören, heisst für den Springer: Ich habe die Schanze im Griff.

3.) Qualifikation am Vortag. Die Spitzenspringer nutzen die Qualifikation, um das Wettkampf-Setup für den Wettkampftag zu testen. Annahme: Ein sehr guter Quali-Sprung bedeutet, dass der Springer sein „Zeug beieinander“ hat!

Aus diesen Vorgaben leite ich folgende Hypothese ab: Wer in allen drei Kategorien zu den zehn Besten gehört, zähle ich zur Gruppe der Medaillen-Anwärtern; Wer in zwei Dimensionen Top-10-Format erreicht, darf sich sehr gute Chancen auf ein Top-Ergebnis ausrechnen. Entsprechend kleiner sind meine Erwartungen bei nur einer Top-10-Klassierung in einer Kategorie. Wenn diese aber in die Kategorie „Trainingsweite“ fällt, mache ich ein Ausrufezeichen! Alle anderen Springer befinden sich in einer Aussenseiter-Position. 

Wieviel Potential hat die Potentialeinschätzung?

Zum besseren Verständnis sei hier noch ein allgemeiner Hinweis zur Unberechenbarkeit der Wettkampfsitutation im Skispringen angefügt: Wettkämpfe im Skispringen haben ihre eigenen Gesetze! Als Winter-Freiluftsportart nehmen insbesondere sich verändernde Wetterbedingungen massgeblichen Einfluss auf die Leistungen der Athleten. Skisprung-Experte Toni Innauer meinte etwa zum Verlauf des ersten Durchgangs: „Man muss schon sagen, es sind zwei verschiedene Wettkämpfe, die hier abgelaufen sind. Und man merkt auch, Rückwind wird einfach zu schlecht kompensiert. Du hast fast keine Chance. Wenn du nicht in astronomischer Form bist, wie Kobayashi, kannst du nicht mithalten mit denen die Aufwind haben.“

Meiner Einschätzung nach gab es zwei Top-Kandidaten, die alle drei oben beschriebenen Kriterien erfüllen. Klar an Nummer eins lag dabei Ryoyu Kobayashi. Der Japaner – das werden ihm alle Trainer attestieren – war der höchstwahrscheinliche Sieger. Ähnlich positive Vorzeichen hatte – vor allem dank seiner guten Trainingsleistungen und seinem Abschneiden in der Qualifikation – der Österreicher Stefan Kraft. Er dürfte einer von vielen sein, die mit sich und der erbrachten Leistung (Rang 10 in seinem Fall) unzufrieden waren. 

Mitfavoriten und Überraschungskandidaten

In der Gruppe derer, die zwei der drei Kriterien (Top-10-Rangierung) erreichen, ragt Manuel Fettner mit seinen formidablen Trainings-/Qualifikationssprung-Leistungen heraus. Ihn als Medaillenanwärter zu bezeichnen, war angesichts seiner aktuell ansteigenden Formkurve bestimmt nicht falsch! Nicht auf meinem Zettel figurierte indes der Routinier David Kubacki. Weder als 16. der Qualifikation, noch als 20. in der Bestenliste der Trainingsweiten präsentierte sich der im Gesamt-Weltcup 2022 an Position 37 rangierte Pole als Kandidat für eine Olympia-Medaille. Skisprungintimus Toni Innauer, angesprochen auf dessen Leistung meinte nur: „Wiederauferstehung!“ Dabei dürften die sehr guten Windbedingungen bei seinem ersten Sprung massgeblichen Einfluss gehabt haben.

Ein Fazit meiner „Potentialanalyse“ zeigt, dass ich 8 der 10 Besten des Schlussklassements „auf meinem Zettel“ hatte – Neben Kubacki war es noch der 9.- klassierte Timi Zajc, der sich deutlich besser schlug, als erwartet. Insgesamt umfasste meine Liste nur 16 Kandidaten. 

Hilfsmittel für den Gebrauch im Alltag der Angewandten Sportpsychologie

Wozu taugt dieses Hilfsmittel? Ich glaube in dreifacher Hinsicht:

a) Realistische Leistungseinschätzung: U.a. die deutschen Springer werden erkennen müssen, dass ihre Olympia-Schlappe angesichts der für ihre Ansprüche schwachen Trainingssprünge und wenig überzeugenden Leistungen in der Qualifikation nicht überraschend kam. Oder anders ausgedrückt: im olympischen Wettkampf ist ihnen keine Leistungssteigerung geglückt, die notwendig gewesen wäre! Im Hinblick auf die kommenden Wettkämpfe gilt es hier – auch im Bereich der mentalen Vorbereitung – gezielte Akzente in der Trainingsarbeit zu setzen! Einen selbstkritischen Vorgeschmack, wie diese Verarbeitung aussehen könnte, gab Markus Eisenbichler in seinem ZDF-Interview.

b) Ursachenzuschreibung: Eine ganz bittere Niederlage erlitten die Norweger, die mit ihren Topspringern – trotz überzeugender Leistungen in Training und Qualifikation – weit unter den Erwartungen blieben. Im Gegensatz zu den deutschen Spitzenspringern scheint es dort nicht am Potential, sondern insbesondere daran zu liegen, im entscheidenden Moment nicht die Bestleistung abgerufen zu haben.

c) Stärkung des Winning Mindsets. Viel Spass dagegen dürfte das Coaching der drei Medaillengewinner im Hinblick auf die bevorstehenden Wettkämpfe machen. Die allerbesten Aussichten auf weiteres Edelmetall dürfte dabei Olympiasieger Ryoyu Kobayashi haben. 

Ausblick – Entwicklung geeigneter Tools

Aus meiner langjährigen Arbeit in über 60 Sportarten und Disziplinen habe ich eine für mich basale Erkenntnis gezogen: Jede Sportart kennzeichnet ein breit gefächertes psychologisches Anforderungsprofil, welches – in individualisierter Form – in Training und Wettkampf ausgestaltet werden muss. In Analogie zum oben beschriebenen Beispiel sind wir Sportpsycholog*innen fähig, interessierten Athlet*innen und Trainer*innen bei einer praxisnahen Umsetzung zu helfen. Die Kernkompetenzen der Kolleg*innen (zur Übersicht) finden sich in den entsprechenden CVs der Profilinhaber (hier zum Profil von Dr. Hanspeter Gubelmann).

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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