Prof. Dr. Oliver Stoll: Die „Tagebuchmethode“ als Werkzeug für Leistungssportler

Ein Tagebuch zu führen, ist eine große Leidenschaft vieler Menschen. Sie nutzen es, um etwas „los zu werden“ und um sich vielleicht später zurückerinnern zu können. Viele Teeanager führen Tagebücher, um das „Chaos in ihrem Kopf“ zu strukturierten. Aufschreiben, wieder durchlesen, das Geschriebene wieder aufgreifen, nachdenken und wieder aufschreiben. Somit entsteht für die jungen „Tagebuchschreiber“ ein Logbuch ihrer Gefühls- und Gedankenwelt. Tagebuch schreiben kann also helfen – gerade in diesem Altersbereich. Aber auch im Sport kann es ein sehr, sehr nützliches Hilfsmittel sein. Wie ich dieses unter Nutzung moderner Technik anwende und was dies auslösen kann, beschreibe ich im Beitrag. 

Zum Thema: Die „Tagebuchmethode“ als sinnvolle Ergänzung zum digital gestützten Coaching

Die historischen Wurzeln dieser „psychologischen Methode“ greifen durchaus tief. Zu den Begründern der entwicklungspsychologischen Tagebuchmethode gehört das Psychologenehepaar William Stern und Clara Stern, das zwischen 1900 und 1918 systematisch und unverfälscht die Entwicklung ihrer drei Kinder Hilde, Günther und Eva aufzeichneten. Hier wurde diese Methode also zunächst als wissenschaftliche Methode in der entwicklungspsychologischen Forschung nutzbar gemacht. Verhaltensbeobachtungen gehören auch noch heute zu den bekannten und genutzten Methoden in der psychologischen und pädagogischen Forschung (Wilz & Brähler, 1997). 

Aber auch in der Psychologischen Anwendung fand das Tagebuchschreiben Einzug in den „Methodenkanon“ der Angewandten Emotions- und Kognitionspsychologie.  Anleitung und Stimulation des Schreibens von Tagebüchern wurden in der Klinischen Psychologie und in der Pädagogischen Psychologie als Selbstkontroll- und Selbstreflektionsmethode eingeführt. Sie sind nicht nur Methoden der Datengewinnung und Prozessforschung, sondern können therapeutisch und pädagogisch die Selbstreflexion erhöhen und für Erlebens- und Verhaltenssteuerung gezielt eingesetzt werden (Stangl, 2021).

Aber was können wir mit dieser Methode in der Sportpsychologie anfangen? 

Gerade, wenn Athletinnen und Athleten viel unterwegs sind, also in Trainingslagern oder auf Wettkampfreisen, dann können diese Aufzeichnungen helfen, Gedanken und Gefühle schnell und unkompliziert festhalten, um dann im Anschluss, wenn man wieder mehr Zeit und Ruhe hat, sich selbst mit diesen Gedanken und Gefühle auseinanderzusetzen. Aus dieser „Reflektionsphase“ können dann diese Sportlerinnen und Sportler stärker herauskommen. Vorausgesetzt, dass diese Gedanken und Gefühle hinsichtlich ihrer Funktionalität entweder für das Erbringen besserer Leistungen oder aber als Psychohygiene-Maßnahme umgesetzt wurden. Manchmal aber kommen diese Athleten und Athletinnen auch nicht gleich damit klar. Dann können diese Aufzeichnungen helfen, diese Analyse zusammen mit einem Sportpsychologen gemeinsam aufzuarbeiten. Diese Aufzeichnungen müssen übrigens nicht nur schriftlich erfolgen. Wir können heutzutage sehr viel schneller einfach eine Sprach-Memo mit dem Smartphone aufzeichnen und abspeichern. Mit einigen meiner Athlet*innen funktioniert das sehr gut. 

In der gemeinsamen Analyse dieser Aufzeichnungen über die Zeit (wenn man dann länger zusammenarbeitet), lässt sich auch sehr gut ein Entwicklungsprozess verdeutlichen. Ich hatte erst neulich ein Gespräch mit einem Athleten, dessen ältere Audios wir dafür einsetzten, um an seiner aktuellen Vorstart-Routine zu arbeiten. Damals sprach er über seine Bewegungsbeschreibung für die anstehende Aufgabe. Und er sagte dann, als er sich selbst hörte: „Ich sehe das heute ganz anders. Auch meine Bewegungssteuerung würde ich heute ganz anders formulieren“. In der weiteren Analyse dieser Tatsache kamen wir zu dem Schluss, dass er offensichtlich hier eine deutliche Weiterentwicklung durchlaufen hat.     

Anwendung in der Praxis

Und auch in unserem aktuellen Angebot „#Abliefern“ (Link) kann die Tagebuch-Methode eine sinnvolle Ergänzung zu unserer Eingangsdiagnostik (mit dem TOPS-Sport-Fragebogen) sowie zum Aufarbeiten unseres multi-medial produzierten Materials eingesetzt werden. Denn diese Inhalte können, wenn sie geschaut und verstanden wurden, zunächst auch selbst ausprobiert werden und die Erfahrungen daraus in einem Tagebuch dokumentiert werden. Dieses Tagebuch kann dann als Grundlage zur Selbstreflexion oder aber als Hilfsmittel in der ggf. anschließenden „Face-to-Face“-Coachingphase mit einem Sportpsychologen oder einer Sportpsychologin aus unserem Netzwerk dienen. Gerade diese ersten, sehr frischen und spontanen Gefühle und Gedanken im Zusammenhang mit dem von uns erarbeiteten Material geben dem Athleten und auch uns wichtige und darüber hinaus auch valide  Einblicke in die handlungsleitenden und handlungsbegleitenden Kognitionen. Ganz egal ob es sich dabei um „Selbstgespräche“, “emotionale Zustände“ oder auch Wahrnehmungen zu Entspannung oder Aktivierung handelt.  

Im Fazit betrachtet, bietet sich das Tagebuchverfahren als sinnvolle ergänzende Methode einerseits zur Datendokumentation, aber eben andererseits auch als Methode zur Selbstreflektion und zur Selbstkontrolle an. Besonders spannend wird diese Methode aktuell, wenn wir aus Gründen der nicht möglichen Präsenz-Betreuung, vorhandenes Wissen und Können vertiefen möchten.  

Mehr zum Thema:

Literatur:

Wilz, G. & Brähler, E. (Hrsg.) (1997). Tagebücher in Therapie und Forschung. Göttingen: Hogrefe. (Stangl, 2021).

Stangl, W. (2021). Stichwort: ‘Tagebuchmethode – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik’. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. www.https://lexikon.stangl.eu/20217/tagebuchmethode (2021-03-26)

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Prof. Dr. Oliver Stoll
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