Dr. René Paasch: Tatsachenentscheidungen von Schiedsrichtern im Fussball

Spieler, Trainer – und Schiedsrichter. Die Referees sind ebenso Athleten wie die beteiligten Kicker und zeigen nicht weniger beeindruckende Leistungen. Sie rennen auf dem Platz im Schnitt genauso viel wie die Spieler und sie sollen zudem blitzschnell und vor allem immer richtig entscheiden. Allerdings werden Schiedsrichter so gut wie nie gelobt, sondern im Gegenteil oft heftig attackiert und beschimpft (aktuelle Berichterstattung der letzten Monate). Viel zu häufig gehört es leider zur Profession eines Schiedsrichters, dass es nach einem ganz normalen „Foul“ im Mittelfeld zu ungeahnten Reaktionen auf und neben dem Platz kommt. Ein Beispiel: Für den Schiedsrichter ist es nicht eindeutig erkennbar, ob der gefoulte Spieler auf Höhe des Mittelkreises wirklich Kontakt mit dem Gegenspieler hatte oder sich nur hat fallen lassen. Kniffelig. Dennoch geht der Coach der einen Mannschaft hoch wie eine Rakete. Jeder Außenstehende fragt sich in solchen Situationen: “Müsste da nicht von der Trainerbank ein beruhigendes Wort kommen, denn schließlich geht es nur um einen Freistoß an der Mittellinie?“ Eine mehr oder weniger eindeutige Antwort zu dieser Problematik möchte ich in dem nun folgenden Beitrag zur Tatsachenentscheidung von Schiedsrichtern näher erläutern.  

Zum Thema: Wahrnehmungs- und Entscheidungsverhalten von Schiedsrichtern im Fussball  

Fast alle wettkampforientierten Sportarten leben von Entscheidungen der Schiedsrichter, wobei die erbrachten Leistungen in manchen Sportarten alleinig durch menschliche Urteile bestimmt werden. Diese mitprägende Rolle der Spielleitenden wurde in den vergangenen Jahren auch in der Forschung anerkannt, weshalb sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Schiedsrichterentscheidungen zu einem wachsenden Feld in der Sportwissenschaft entwickelt hat (siehe bspw. MacMahon et al., 2014). Im Fußball treffen Schiedsrichter durchschnittlich 200 Entscheidungen pro Spiel. Obgleich sie in der Mehrheit richtige Entscheidungen treffen, sind bis zu 20% der pro Spiel getroffenen Entscheidungen wissenschaftlichen Studien zufolge falsch (Helsen et al., 2006). Schiedsrichter sind gleichzeitig sehr daran interessiert, die Qualität ihrer Entscheidungen zu verbessern, wenn man die oftmals spielentscheidenden Konsequenzen von Schiedsrichterentscheidungen bedenkt. Sehen wir uns die Situation der Schiedsrichter im Fussball näher an: 

Stehen bei Spielen in unteren Klassen keine neutralen Gespanne zur Verfügung, so sind die Assistenten von den beteiligten Vereinen zu stellen. Die Aufgaben dieser Assistenten sind stark eingeschränkt. Normalerweise zeigen sie dem Schiedsrichter nur an, ob der Ball die Seitenlinie überschritten hat. Hieraus folgt, dass der Schiedsrichter bezüglich der Frage „Aus“ oder „Nicht-Aus“ die Entscheidungen dieser Assistenten übernehmen soll. Es bleibt jedoch grundsätzlich seine Entscheidung, „welche Mannschaft das Spiel fortsetzt“ bzw. ob das Spiel mit Abstoß oder Eckstoß fortgesetzt wird. Das bedeutet für den Unparteiischen, dass gute, sinnvolle Laufwege und die passenden Positionen zum Spielgeschehen für sichere, korrekte Entscheidungen in solchen Situationen unerlässlich sind. Oft genug muss sich der Schiedsrichter von den Spielern, Funktionären oder Zuschauern Kritik anhören, dass er nicht einmal die Spielfortsetzung nach einem Ausball richtig erkennen kann. Besser hat es da der Schiedsrichter, der im sogenannten „Gespann“ unterwegs ist. Er kann sich in den höheren Spielklassen auf sein „Team/Technik“ verlassen. Gemäß einem einflussreichen Forschungsansatz von Kahnemann & Tversky, treffen Menschen sehr häufig Entscheidungen unter erschwerten Bedingungen. Ihnen stehen entweder nicht alle relevanten Informationen zur Verfügung oder es fehlt die Zeit, sie gebührend zu berücksichtigen. Allerdings lassen sich selbst unter suboptimalen Bedingungen oft noch recht gute Entscheidungen treffen, indem man schnelle und vereinfachende Strategien anwendet, so genannte Heuristiken. Sie bergen andererseits die Gefahr systematischer Urteilsverzerrungen, die als Bias (englisch für “Vorurteil, Schräglage”) bezeichnet werden. Die meisten Verzerrungen entstehen, wenn Menschen bei ihren Entscheidungen Informationen heranziehen, die eigentlich irrelevant sind. Oft sind sie sich dabei gar nicht bewusst, dass solche Nebensächlichkeiten ihr Verhalten beeinflussen. Auch viele Fehler von Schiedsrichtern fallen in diese Kategorie. Wovon hängt es ab, ob der Unparteiische nach einem Foul die gelbe Karte zückt oder nur auf Freistoß entscheidet? In erster Linie wohl davon, was das Regelwerk vorschreibt, also etwa von der Schwere des Fouls: je gravierender eine Attacke, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer gelben Karte. Bei einem klaren Regelverstoß liegt das auf der Hand. Was aber, wenn das Vergehen nicht so eindeutig ist? In solchen Situationen spielt eine Reihe weiterer Faktoren hinein. Studien zufolge wird eine gelbe Karte zum Beispiel umso eher gezeigt, je lauter das Publikum sie fordert. Der so genannte Crowd-Noise-Effekt (2014) bezeichnet das Phänomen, dass Schiedsrichter ein- und denselben Vorfall unterschiedlich bewerten, je nachdem, welcher Lärmpegel im Stadion herrscht. 

Tatsachenentscheidung 

Vielleicht ist es mir möglich, etwas Aufklärungsarbeit darüber zu leisten, was letztendlich der Begriff der “Tatsachenentscheidung” bedeutet. Laut Regelwerk gibt es bei einem Fußballspiel nur richtige Entscheidungen oder Regelverstöße durch den Schiedsrichter. Dabei liegt der Gedankenfehler oftmals in einem weitestgehend unbekannten Detail. Die Entscheidungsfindung eines Fußballschiedsrichters ist ein Prozess, bei dem der letztendlichen Entscheidung einige Dinge vorgelagert sind. Wie die “Fehlentscheidung”. Dazu sollten Sie wissen, dass eine Entscheidung eines Schiedsrichters immer nach folgendem Schema abläuft:

  • Wahrnehmung einer Situation
  • Beurteilung einer Situation und Feststellung einer Tatsache
  • Entscheidung und Regelanwendung
  • Regelumsetzung

1. Wahrnehmung einer Situation

Grundvoraussetzung für jede Schiedsrichterentscheidung ist, dass er eine Situation überhaupt wahrnimmt. Das ist nachvollziehbar, wird aber gern von Zuschauern und Beteiligten vergessen. Die Komplexität des Fußballspiels und das eingeschränkte Blickfeld des Schiedsrichters schließen es aus, dass dieser jede Situation auf dem Spielfeld wahrnehmen kann. Zusätzlich darf der Schiedsrichter auch keine Vermutungen über einen Vorgang anstellen, auch wenn diese noch so offensichtlich erscheinen. Damit liegt aber in diesem Fall keine Fehlentscheidung vor, sondern ein vom Regelwerk vorgegebenes Kriterium zur Entscheidungsfindung. 

2. Beurteilung einer Situation und Bewertung

Nachdem der Schiedsrichter eine Situation wahrgenommen hat, muss er sie beurteilen. Dabei darf er aber auch nur das beurteilen, was er selbst oder seine Assistenten wahrgenommen haben. Herausforderung dabei ist, dass eine Situation aus unterschiedlichen Perspektiven völlig anders aussehen kann. Die Wahrnehmung eines Menschen ist immer subjektiv. Damit kann aber auch niemals eine Entscheidung falsch sein, die auf der Grundlage dieser Wahrnehmung getroffen wird. Mit der Beurteilung der Wahrnehmung wird diese nach Regeldefinition zu einer Tatsache.  

3. Entscheidung und Regelanwendung

Auf der Basis dieser Tatsache trifft der Schiedsrichter nun eine Entscheidung. Umgangssprachlich wird an dieser Stelle oft von der Tatsachenentscheidung gesprochen, ohne sich dabei der wirklichen Hintergründe bewusst zu sein. Wenn nun die Ableitung aus den festgestellten Tatsachen korrekt ist und die Fussballregeln richtig angewendet werden, kommt der Schiedsrichter immer zu einer korrekten Entscheidung. Dem Regelgeber sind die Unzulänglichkeiten einer auf subjektiver Wahrnehmung beruhenden Tatsache durchaus bewusst, jedoch ist dies die einzig sinnvolle Konsequenz. 

4. Regelumsetzung

Nachdem die Tatsache festgestellt ist und eine Entscheidung getroffen wurde, sprechen wir von einer Tatsachenentscheidung. Dies bedeutet entweder Weiterspielen oder Spielunterbrechung inklusive der Festlegung einer Spielfortsetzung (z.B. Freistoß), eines Ortes für die Spielfortsetzung und ggf. einer persönlichen Disziplinarstrafe für einen oder mehrere Spieler. Doch was ist dann ein Regelverstoß? 

Der Regelverstoß durch den Schiedsrichter

Regelverstöße durch einen Schiedsrichter sind extrem selten und werden – gerade im Amateurfußball – oftmals auch nur von anderen Schiedsrichtern bemerkt. Ein Regelverstoß durch den Schiedsrichter liegt immer dann vor, wenn auf die festgestellte Tatsache eine falsche Regelableitung und/oder eine falsche Regelanwendung folgen. Damit wird bereits die Schwierigkeit des Nachweises eines Regelverstoßes deutlich. Beispiel: Foulspiel im Strafraum nicht gesehen: Kein Regelverstoß, weil dies nicht wahrgenommen wurde. Beispiele bei denen der Schiedsrichter einen Regelverstoß begeht:

  • Er lässt einen des Feldes verwiesenen Spieler wissentlich weiter am Spiel teilnehmen.
  • Obwohl der Ball an der Mittellinie ins Seitenaus geht, entscheidet er ohne einen anderen Grund auf Strafstoß anstatt auf Einwurf.

Beispiele für Regelverstöße, die der Schiedsrichter nicht zu verantworten hat:

  • Er lässt einen Spieler wissentlich am Spiel teilnehmen, obwohl dieser nicht spielberechtigt ist: Der Schiedsrichter darf keinen vom Spiel ausschließen. Für den Einsatz der Spieler sind ausschließlich die Mannschaften verantwortlich. Der Schiedsrichter vermerkt den Regelverstoß lediglich im Spielbericht.
  • Es wird ohne Tornetze gespielt: Ein Kuriosum. Das Regelwerk des IFAB hat tatsächlich noch nie Tornetze vorgeschrieben. Lediglich in den Durchführungsbestimmungen der Fußballverbände wird vorgeschrieben, für welche Spiele Tornetze zwingend erforderlich sind. 

Die Entscheidung eines Schiedsrichters ist erst dann endgültig, wenn das Spiel nach dieser Entscheidung fortgesetzt wurde. 

Dr. René Paasch

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Fazit

Zunächst einmal muss man anerkennen, dass Schiedsrichter Großartiges leisten. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, was ihnen die Leitung eines Fußballspiels körperlich und geistig abverlangt! Auch fallen die belegten Urteilsverzerrungen oft schwach aus.  Phänomene wie der Crowd-Noise-Effekt tragen zum Heimvorteil bei, sind aber vermutlich nicht allein dafür verantwortlich. Um ein Foulspiel zu pfeifen, bedarf es einer Vielzahl von Informationen, die noch dazu sehr schnell abgewogen werden müssen. Genau das sind zwei wichtige Charakteristika intuitiver Entscheidungen. Typisch für sie ist, dass man plötzlich zu einem Schluss kommt, ohne diesen näher begründen zu können. Derartige Eingebungen lassen sich durch Feedback über zuvor getroffene Entscheidungen, zum Beispiel dank des Videoassistenten oder einen direkten Kommunikationsweg zu den Assistenten an den Seitenlinien (wer dazu Fragen hat, kann mich gern kontaktieren), verbessern.

Mehr zum Thema:

Literatur

1. Helsen, W., Gillis, B. & Weston, M. (2006): Errors in judging “offside” in football: Test of the optical error versus the perceptual flash-lag hypothesis. Journal of sports sciences, 24, 512-528.

2. Lex, H., Kurtes, M., Pizzeria, A., Schack, T (2014): Zum Einfluss eines Spielerschreis auf Schiedsrichterentscheidungen im Fußball

3. MacMahon, C., Helsen, W. F., Starkes, J. L. &Weston, M. (2007). Decision-making skills and deliberate practice in elite association football referees. Journal of Sports Sciences, 25, 65-78. doi: 10.1080/02640410600718640

4. Spitz et al. (2018): The impact of video speed on the decision-making process of sports officials Cognitive Research: Principles and Implications.
DOI: 10.1186/s41235-018-0105-8

Tversky, A. & Kahneman, D. (1973): Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5, 207-232.

Tversky, A. & Kahneman, D. (1974): Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science, 185, 1124-1131.

Schnyder, U. & Hossner, E.-J. (2016): Psychological issues in football officiating: An interview study with top-level referees. Current Issues in Sport Science, 1:004. doi: 10.15203/CISS_2016.004

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Prof. Dr. René Paasch
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