Cristina Baldasarre: Frühförderung im Kinderleistungssport – Wieviel ist genug?

Die 6-jährige Lisa (Name geändert) ist Eiskunstläuferin und besucht die 1. Klasse einer Sportschule. Ihr Umfeld kam mit dem Anliegen auf mich zu, Lisa optimal zu unterstützen. Vor allem die Eltern stellen sich verschiedenste Fragen rund um ihr Training. Sie wandten sich an mich, um meine Meinung als Eiskunstlaufexpertin zu erfahren. Ihre Fragen drehen sich rund um folgende Themen: Soll Lisa zu Hause zusätzlich Krafttraining betreiben? Wenn ja, wie kann sichergestellt werden, dass die Bewegungsausführungen a) korrekt sind und b) die intrinsische Motivation gefördert wird? Und zu guter Letzt stellten sie Fragen zur Leistungsmotivation und wie diese aktiv gefördert werden kann?

Zum Thema: Was Sportlereltern über ihre Kinder wissen sollten

Nachfolgend können Sie meine Replik lesen. Ich habe mich auf die entwicklungspsychologischen Phasen gestützt, die von allen Kindern – ganz egal ob diese Leistungssport betreiben oder nicht – durchlaufen werden.

Als 6-jährige ist eine Athletin im Leistungssport ja erst einmal in der Phase des „Beginners” und der Entwicklung der sportlichen Grundlagen. Die psychologischen Anforderungen müssen gemeistert werden und es gilt die Devise: Entwickelt sich das Kind gut, dann kann sich daraus ein guter Leistungssportler ergeben – und umgekehrt. Fakt ist aber auch, dass in kompositorischen Sportarten wie dem Eiskunstlaufen (auch z.B. dem Kunstturnen) die Regel gilt: Je jünger, desto besser für den Sport. Dieses Credo beisst sich leider etwas mit den vorgegebenen Stufen der kindlichen Entwicklung und hier liegt schon die grosse Herausforderung für Kind, Trainer, Eltern und Schule: Wieviel Förderung darf sein? Ab wann wird diese kontraproduktiv? Die gute Balance zu finden, ist eine ständige Gratwanderung und muss mindestens ein- bis zweimal jährlich überdacht und an die Entwicklungsschritte und das –tempo des Kindes anlehnend angepasst werden.

Entwicklungsreife steht im Fokus

Erschwerend kommt dazu, dass die nächst höhere psychologische Entwicklungsstufe in den meisten Entwicklungsmodellen genau mit sechs Jahren beginnt. Daher spielt es eine zentrale Rolle, das Kind nach der beobachteten Entwicklungsreife und nicht nach dem biologischen Alter einzustufen. Und zum einen die kognitive Entwicklung, zum anderen die emotionale Reife separat einzustufen. Wenn ich von der Aufgabe ausgehe, die ein 6-jähriges Kind für seine gesunde Entwicklung zu meistern hat, dann ergeben sich einige Erkenntnisse. Zuallererst und über allem steht immer die Freude an der Bewegung an sich – ganz egal wie viele Stunden das Kind bereits trainiert. Kinder in diesem Alter haben Spass an allen Arten von Bewegungen und sammeln so neue Erfahrungen. Dieses Alter zeichnet sich aus durch einen hochgradigen Bewegungsdrang, grosser Neugier und Begeisterungsfähigkeit für Neues, aber auch durch eine zeitlich kurze Phase der Konzentrationsfähigkeit aus. In diesem Alter lernen Kinder sehr stark über die visuelle Wahrnehmung, also über das Abschauen der Bewegung bei anderen Menschen. Die Motivation ist die wahrgenommene Freude an der neuen Bewegungserfahrung an sich: Im Training lassen sich hierzu Rollenspiele aller Art sowie das sogenannte Funktionsspiel anwenden, sodass das Kind durch innere Impulse die Freude an der Bewegung ausleben kann. Darum besteht eine sinnvolle Herangehensweise im Sport darin, spielerisch und umfassend zu fördern, um eine möglichst breite Fertigkeitsbasis zu schaffen. Sehr gut geeignet sind alle Arten von Koordinationsspielen oder auch Balancespiele. Ab ca. fünf Jahren beginnt die Muskulatur automatisch zuzunehmen und es gelingen nach und nach auch Geschicklichkeitsspiele, die Kraft erfordern, wie zum Beispiel Purzelbäume, Spagat, Kopfstand etc. Die räumliche Orientierung ist noch nicht ausgereift und so gestalten sich räumliche Aufgaben, wie eine Kür zu fahren oder auch Drehungen zum Teil noch als schwierig. In dieser Phase braucht das Kind vor allem viel Lob und Anerkennung, die nicht an eine Leistung oder an einen Erfolg gekoppelt sind, sondern einfach so. Des Spasses wegen eben…..einfach weil es sich traut, weil es lustig aussieht, weil es eine tolle Idee ist, weil es dranbleibt und es immer wieder versucht: Es gibt viele gute Gründe die mit etwas Fantasie gefunden werden können. So erfährt das Kind eine Selbstwertsteigerung und somit auch automatisch intrinsische Motivation. In diesem Alter brauchen Kinder noch keine Wettbewerbssituationen weil die Gefahr besteht, dass „Verlieren“ mit einer Minderung des Selbstwerts einhergeht, oft auch begleitet durch Affektausbrüche. Daraus ergeben sich auch klare Regeln, die für Trainer und Eltern einfach zu beachten sind: 

  • Spielen und Bewegen ist frei von Fremdbestimmung: Geben Sie das Ziel (das Spiel) bekannt und intervenieren Sie danach nicht mehr
  • Spielen und Bewegen ist eine zweckfreie Tätigkeit: Der Leistungsgedanke ist hier nicht im Zentrum
  • Spielen und Bewegen ist eine freudvolle Tätigkeit: Wecken Sie die Neugierde und die Funktionslust des Kindes. Es lernt durch Übung (Versuch und Irrtum) Neues zu beherrschen

Ein 6-jähriges Kind wie Lisa, die schon intensiv Sport betreibt, ist meist auf kognitiver Ebene schon um ein paar Jahre reifer. Hingegen hinkt aber oft die emotionale Entwicklung über die Karriere hinweg nach, ähnlich der physischen.

Glaubhafte Antworten auf immer mehr Fragen

Die nächsten Entwicklungsschritte, die ca. ab dem 7. Lebensjahr einsetzen, widmen sich dem logischen und strukturierten Denken. Die Kinder sind nun immer mehr in der Lage, geistige Purzelbäume zu schlagen und verlassen sich zusehends auf ihr eigenes Wissen. Die Logik und das schlussfolgernde Denken setzen ein und werden zum Lösen konkreter Probleme eingesetzt. Es kann daher gut sein, dass Kinder in diesem Alter von den Trainern und Eltern wissen möchten, wie gewisse Abläufe im Sport funktionieren und warum genau diese die richtigen sind etc. Fragen über Fragen häufen sich….und es müssen glaubhafte Antworten her!

Der grosse Bewegungsdrang bleibt auch hier bestehen und führt dazu, dass in dem Alter sehr viele Kinder einem Sportverein beitreten. Das Sportinteresse ist sehr gross und auch die körperlichen Voraussetzungen (noch) gut: Sie sind in der Regel klein und leicht. Die Konzentrationsspanne verlängert sich massgeblich, was eine präzisere Informationsaufnahme ermöglicht. Die Fähigkeit, eine neu erlernte Bewegung zu Fixieren, also zu Können, nimmt aber in dieser Phase ab. Hier bedarf es darum immer wieder sehr vieler Wiederholungen. Dann können Bewegungskoordination und Reaktionsgeschwindigkeit gesteigert werden, aber auch weil die Orientierung im Raum nun deutlich zunimmt. Zudem beginnt das Leistungsbewusstsein zu reifen, zusammen mit einem Reinwachsen in Peergruppen mit Rangordnungen. Die Kinder möchten sich miteinander messen und auch gewinnen. Das Trainieren in Gruppen schult die soziale Kompetenz, sie lernen auch mal zu verlieren, wobei die Gerechtigkeit als wichtigstes Prinzip immer zuoberst steht. Je positiver und motivierender das gesamte Umfeld, desto mehr Erfolgserlebnisse werden ermöglicht. Diese fördern eine zielgerichtete und positive Grundeinstellung zum Sport, die für ein späteres, lebenslanges Sporttreiben wichtig sein wird.

take home messages

Zusammenfassend lassen sich als take home messages und vor allem als Antworten für das Umfeld von Lisa folgende Punkte nennen:

Sie sollten…

… die Entwicklungsschritte des Kindes und seiner Altersgruppe im Sport kennen: Wie alt ist Lisa kognitiv und wie alt emotional? Welche Anforderungen muss eine 6-jährige meistern können?

… adäquate Spielformen und Sportübungen davon ableiten können: Viel polysportiv bewegen, spielerisch und ohne Leistungsaspekt (wenigstens neben dem eigentlichen Training),

… Sicherheit vermitteln, verstehen und zuhören lernen: Fragen Sie Lisa wie es ihr mit ihrem wöchentlichen Stundenplan geht und was sie denn gerne tun würde, wenn sie sich etwas wünschen könnte? Seien Sie immer Ansprechpartner ohne zu werten, geben Sie immer Rückhalt,

… Erfolgserlebnisse anstreben, um das Selbstvertrauen zu stärken: Streichen Sie gute Momente heraus, die nicht an Leistung und Erfolg gekoppelt sind. Zum Beispiel können Sie jeden Abend fragen, was an dem Tag denn alles gut war und ihr Freude bereitet hat,

… den Kindern kreativen Freiraum geben: Freizeit mit Freundinnen und Zeit zum Nichts-Tun finden: Erstellen Sie einen detaillierten Wochenstundenplan in dem solche Freiräume fix eingeplant sind,

… wissen, dass Kinder kompetenter sind als wir meinen: Fragen Sie einfach Lisa wenn Sie nicht sicher sind was zu tun ist, sie weiss es ganz bestimmt,

… wissen, dass sich nicht alle Kinder (Sportler) gleich schnell entwickeln: Seien Sie nachsichtig wenn es mal nicht läuft und die Fortschritte nicht so schnell kommen wollen. Eines ist ganz sicher: Früher oder später wird es gelingen!

Cristina Baldasarre: Motivation im Nachwuchsleistungssport

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Cristina Baldasarre
Cristina Baldasarrehttp://www.die-sportpsychologen.de/cristina-baldasarre/

Sportarten: Kunstturnen, Eiskunstlaufen, Synchronschwimmen, Tanz, Unihockey, Fussball, Eishockey, Judo, Tennis, Bogenschiessen, Springreiten, Schiedsrichter und Trainer, Sporteltern

Zürich, Schweiz

+41 79 4340957

E-Mail-Anfrage an c.baldasarre@die-sportpsychologen.ch

3 Kommentare

  1. Danke Cristina, für diesen wichtigen Beitrag. Im KInder- und Jugendleistungssport arbeiten so wenige Kolleginnen und Kollegen (oder wir wissen nichts von ihnen, weil sie sich nicht “outen”), so dass diese Informationen so wichtig für alle sind, die nach Hinweisen suchen, wie man in diesem schwierigen Feld vorgehen soll. Solche Beiträge helfen uns alle weiter!

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