Der Weg zum erhofften Finale der Fußball-Europameisterschaft in Paris beginnt für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der Schweiz. Bei der ersten Trainingseinheit im schönen Urlaubsort Ascona fuhren fünf Kleinbusse vor, aus denen die deutschen Nationalspieler stiegen. Schauen wir mal genauer hin: Gab es einen Bayern-Bus? Nein. Fuhren die erfahrenen und alt gedienten Weltmeister in einem separaten Wagen vor? Mitnichten. Das Team präsentierte wunderbar durcheinander. Bundestrainer Joachim Löw spricht unabhängig von den Kleinbusformationen aber von einer “besonderen Vorbereitung” auf die Europameisterschaft in Frankreich. Denn gerade in der ersten Phase der Hinführung zum Turnier müsse er eine Mannschaft aus “sehr unterschiedlichen Gruppen” zusammenführen. Eine Situation, die jeder Trainer kennt, unabhängig ob er ein Team auf ein großes internationales Turnier oder auf eine Freizeitsportsaison vorbereitet. Denn am Ende geht es hier wie da um Gruppenbildung und Teamkohäsion. Schauen wir doch einmal, was ein “normaler” Coach wissen sollte und was ein jeder vom Bundestrainer und seinem Funktionsstab lernen kann.
Für die-sportpsychologen.de berichtet Dr. René Paasch
Bundestrainer Joachim Löw spricht von einer besonderen Vorbereitung auf die Europameisterschaft, weil er fünf Gruppen möglichst schnell zusammenführen müsse. In der ersten Gruppe finden sich die Spieler, die Mitte Mai in ihren Ligen das letzte Spiel der Saison bestritten und vorbehaltlos einsatzbereit sind. Zu ihr gehören etwa Jonas Hector vom 1. FC Köln, André Schürrle vom VfL Wolfsburg und der Schalker Leroy Sané. In einer zweiten Gruppe finden sich die Profis des FC Bayern und von Borussia Dortmund. Das sind sieben der insgesamt 23 für das Turnier nominierten Spieler. Die dritte Gruppe ist klein. Sie besteht aus Lukas Podolski, der zuletzt mit seinem Verein Galatasaray noch das Finale um den türkischen Pokal bestreiten durfte, und Toni Kroos, der am letzten Maiwochenende mit Real Madrid das Endspiel der Champions League gegen den Stadtrivalen Atlético gewann. In der vierten Gruppe sind Spieler vertreten, die zuletzt zwar wieder im Einsatz waren, die aber zuvor lange pausieren mussten und daher noch körperliche Defizite aufweisen (Jérôme Boateng, Julian Draxler und Benedikt Höwedes). Der Kapitän der Nationalmannschaft Bastian Schweinsteiger findet sich in der fünften Gruppe wieder. Sie besteht aus den Spielern, die aktuell verletzt sind, oder eben noch nicht wieder so weit sind, dass sie am Mannschaftstraining teilnehmen können.
Im Folgenden wird aus psychologischer Sicht begründet, warum es im Interesse langfristiger Leistungsfähigkeit des Sportlers unerlässlich ist, die Eigengesetzlichkeiten des Sportlers zu berücksichtigen. Wie der Fußballalltag lehrt, ist sportliches Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Lernen u.v.m. durch eine konstante „Eigenzeit“ bestimmt (Mehrfachbelastungen: Fußball-Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal, Nationalmannschaft). Fußballprofis brauchen wesentlich längere Erholungs- und Anpassungszeiten. So erklärt sich, dass individuelle Ausgangssituationen der Spieler wie bspw. Verletzungen, fehlende Fitness, Vereinsbelastungen nicht pauschal verändert werden können, sondern individuell bearbeitet werden müssen (Kleingruppenbildung des DFB-Teams in der Vorbereitung). Auch wenn viele Bücher voll sind mit romantischen Stories über erfolgreiche Mannschaften/Gruppen im Sport: Wer die sportliche Praxis kennt, weiß, dass in vielen Mannschaften und Gruppen mehr schlecht als recht zusammengespielt wird. Mitverantwortlich hierfür sind der unbedingte Erfolg und die Ignoranz vieler Entscheidungsträger im Hinblick auf psychologische Gesetzmäßigkeiten des Gruppengeschehens im Sport. Deshalb werden im Folgenden Beitrag bedeutsame psychologische Gesetzmäßigkeiten von Mannschaften und Gruppen aufgezeigt.
Merkmale von Mannschaften und Gruppen
Zusammenarbeit in Gruppen/Mannschaften findet statt, wenn zwei oder mehr Sportler ein gemeinsames Ziel anstreben. Die geschichtlich älteste kooperative Gruppe ist die Dyade (2 Personen) sowie die Familie (2-12 Personen). Nach wie vor sind wir als Kleingruppen evolutionsbedingt mit einer Kleingruppen-Ethik ausgestattet. Denn Vertrauensbeziehungen sind mit physischer, psychischer und sozialer Nähe verbunden – trotz des globalen Denken und Handelns (Schoeck, 1987).
Eine funktionierende Gruppe ist mehr als eine Ansammlung von Individuen: Sie ist ein relativ geschlossener und dynamischer Organismus mit Eigengesetzlichkeiten. Sie kennzeichnet sich durch folgende Grundmerkmale: Zwei oder mehr Personen, Aufgaben- und Arbeitsteilung, gemeinsame Ziele, intensive Wechselbeziehungen, Positionen und Rollen, gemeinsame Normen und Werte, ein Wir-Gefühl. Somit erfüllen Gruppen und Mannschaften unterschiedliche Funktionen wie bspw. das Zugehörigkeitsgefühl, die Vermittlung von Normen und Werten, bessere Problemlösung/Zielerreichung, Persönlichkeitsentwicklung, Konformität etc. Deshalb ist das Thema Kleingruppenbildung für jeden Trainer aller Spielklassen ein zentrales Mittel, um leistungsfördernde Maßnahmen zu entwickeln. Diesbezüglich sprach sich Joachim Löw, Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft in einem Interview wie folgt aus: “Ein respektvolles, vertrauensvolles Miteinander in unserem Team ist mir sehr wichtig, Verlässlichkeit und Vertrauen sind in diesem Zusammenhang wesentliche Faktoren. Offene Kommunikation auf Augenhöhe, Kritikfähigkeit, Transparenz und Toleranz, das haben wir vorgelebt, aber es dauert eine Weile, bis so etwas von allen, den Spielern und auch den Betreuern, verinnerlicht wird. Bis alle einander vertrauen“ (vgl. Zeit vom 31.05.2012). Genau in dieser Kernaussage von Joachim Löw liegen die umfangreichen Prozesse der kontinuierlichen und zeitlichen Gruppenentwicklung. Die Nationalelf und allen voran ihr Trainer liefert diesbezüglich vielen Verein einen thematischen Denkanstoss.
Gruppenkohäsion/Teamkohäsion
Ist die Gruppenbildung abgeschlossen, welche weiteren Schritte sind für die Teamkohäsion zu absolvieren? Kohäsion wird aus dem lateinischen Verb „cohaerere“ abgeleitet, was so viel wie miteinander verbunden sein bedeutet. Begriffe wie Zusammenhalt, Teamgeist oder Gruppenmoral werden oft synonym verwendet. In der Sportpsychologie wird in der Regel das theoretische Modell der Gruppenkohäsion von Albert Carron und Kollegen (Brawley und Widmeyer, 1998) verwendet. Laut Modell lässt sich Gruppenkohäsion in vier verschiedene Faktoren aufteilen. Zum einen kann man zwischen aufgabenbezogener und sozialer Kohäsion unterscheiden. Zum anderen wird die Gruppe als Ganzes betrachtet sowie der Einzelne im Kontext der Gruppe. Daraus lässt sich hypothetisch schlussfolgern: Teams, die ihre Aufgabenkohäsion höher einschätzen als andere Teams, sind tendenziell auch erfolgreicher. Erfolge und Misserfolge im Saisonverlauf führen nicht zwangsläufig zu veränderten Kohäsionswahrnehmungen im Team. Es gelingt eher, einen höheren, positiven Einfluss vom vorherigen sportlichen Erfolg auf die Kohäsion nachzuweisen als umgekehrt (Lau, Stoll, 2002, 2003, 2004, 2007).
Welche Maßnahmen könnten Sie als Trainer unterstützen, um aus Kleingruppen ein Team zu entwickeln? In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen das Teamentwicklungstraining (TET) von Lau (2005b) aufzeigen, welches sich ideal für Teams einsetzen lässt, die in einem Saisonspielbetrieb aktiv sind.
Teamentwicklungstraining
Dieses integrative Training vereint die praktische Wechselwirkung zwischen sportlichem Training, Wettspiel und sozialer Entwicklung der Mannschaft. Des Weiteren nutzt das TET personen- und gruppenzentrierte Maßnahmen, die auch Veränderungen organisatorischer Strukturen einschließen. Das TET basiert auf folgenden vier Grundannahmen:
1) Das Team ist entwicklungs- und lernfähig;
2) Das Team kommuniziert mit seiner Umwelt;
3) Die Leistungsoptimierung der Mannschaft besitzt eine zentrale Funktion
und
4) Veränderungen innerhalb der Mannschaft haben höhere Akzeptanz unter den Spielern, wenn ihre Bedürfnisse und Wünsche einbezogen werden.
Als Zielsetzungen für das TET gelten daher:
– Aufstellen von Teamzielen
– Entwickeln eines Rollenverständnisses eines jeden Teammitgliedes
– Förderung der Kommunikation
– Initiierung eines Konfliktmanagements für Sach- und Beziehungsproblemen
– Balance zwischen Kooperation und Konkurrenz innerhalb der Gruppe
– Förderung des Bewusstseins des Aufeinander-Angewiesen-Seins innerhalb des Teams.
Im Sinne der interdisziplinären und systemtheoretischen Orientierung bei der Erklärung kollektiver Leistungen im Sport baut das Teamentwicklungstraining (TET) von Lau auf folgenden Prinzipien auf:
– Orientiert sich an einer Trainingsplanung, die dem Prinzip der Zyklisierung und Periodisierung folgt.
– Orientiert sich an der Optimierung kollektiver Leistungsvoraussetzungen.
– Die Mannschaft ist ein soziales System, das sich von seiner Umwelt abgrenzt, aber mit ihr kommuniziert und interagiert.
– Korrespondiert mit Maßnahmen der Trainings- und Wettspielsteuerung.
– Primär für das gesamte Team konzipiert, gruppen- und personenbezogene ergänzen das verfügbare Methodeninventar.
– Vereint geplante und situationsabhängige Interventionsmaßnahmen.
– Unterstützt positive Teamentwicklungstrends und (zer-)stört gezielt Fehlentwicklungen.
– Basiert auf einer systematischen Teamdiagnose und bedarf einer kompetenten Interventionsleitung.
Es wird deutlich, dass sich das TET nicht an einer festen Phasenabfolge der Teamentwicklung orientiert, sondern sich mit begleitenden Maßnahmen in die Struktur und Funktionen des sportlichen Trainings- und Wettkampfgeschehens einbindet – wie die EM in Frankreich. Neben wiederkehrenden und standardisierten Phasen im Saisonverlauf einer Fußballmannschaft sind es vor allem gruppenspezifische, nicht vorhersehbare Situationen, die zum Anlass für gezielte Interventionsmaßnahmen genommen werden. Der Erfolg des TET hängt somit stark vom Führungsverhalten des Trainers ab sowie im Falle von Bundestrainer Löw der Gruppenbildung vor der EM. Also konkret der Umsetzung, ob es gelingt, über individuelle und kollektive Maßnahmen diesen Prozess zu fördern.
Zusammenfassung
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Kleingruppenbildung vor großen Turnieren oder im Mannschaftssportalltag und der Übergang zur ganzheitlichen Teamentwicklung bedarfsgerecht stattfinden und einer sensiblen Führung bedürfen. Die Individualität der Spieler und die fürsorgliche und geplante Teamentwicklung sind wichtige Größen, um den Einzelnen und die Mannschaft auf große Ereignisse vorzubereiten. Ein jeder Trainer kann sich diesbezüglich von Joachim Löw beeindrucken lassen. Denn offenkundig gelang es ihm bei den zurückliegenden Turnieren über Kleingruppen zu einer hervoragenden Mannschaftsstruktur zu finden.
Literatur:
Schoeck, H. (1987): Der Neid und die Gesellschaft, Frankfurt/M./Berlin.
Schütz, K. (1989): Gruppenforschung und Gruppenarbeit, Mainz.
Lau, A. & Stoll, O. (2002). Validität und Reliabilität des Fragebogens zur Mannschaftskohäsion von Sportspielmannschaften (MAKO-02). In S. Schulz (Hrsg.), Bericht über den 43. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Berlin (S. 374). Lengerich: Papst Science Publishers.
Lau, A., Stoll, O. & Hoffmann, A. (2003). Diagnostik und Stabilität der Mannschaftskohäsion in den Sportspielen. Leipziger sportwissenschaftliche Beiträge, 44 (2), 1-24.
Lau, A., Stoll, O. & Schneider, L. (2004). Development of a Questionnaire to Measure Cohesion in Team Sports. Conference Proceedings – Association for the Advancement of Applied Sport Psychology in Minneapolis/Minnesota (p. 66).
Lau, A. (2005a): Die kollektive Leistung in den Sportspielen – eine interdisziplinäre Analyse. Habilitationsschrift. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Lau, A. (2005b): Das Teamentwicklungstraining – ein systemisches Konzept für die Mannschaftssportspiele. Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge, 46(1), 64-82
Lau, A. & Stoll, O. (2007). Gruppenkohäsion im Sport. Psychologie in Österreich, 27 (2), 155-163.
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