Prof. Dr. Oliver Stoll: Ein mentales Lehrstück

Unwillkürlich stand ich auf und zog sprichwörtlich meinen Hut vor dieser Leistung. Zugegeben, es mag etwas komisch ausgesehen haben, wie ich nach mehr als zwei Stunden meinem Wohnzimmersessel entstieg und nun mit meinem Fernseher interagierte. Aber diese Geste in Richtung eines Sportlers musste schlichtweg heraus, der gerade etwas besonderes vollbracht hatte. Mit 2 Stunden, 8 Minuten und 33 Sekunden stellte Arne Gabius am Sonntag, den 25. Oktober 2015, in Frankfurt eine neue deutsche Rekordzeit über die Marathondistanz auf. Als Fan feierte ich seine Leistung, als Sportpsychologe frohlockte ich über das mentale Lehrstück, was Gabius beim Frankfurt-Marathon ablieferte.

Zum Thema: Was Ausdauersportler vom deutschen Marathonrekordhalter Arne Gabius lernen können

Wir Sportpsychologen sind ja eigentlich auch immer sehr kritische Zeitgenossen. Irgendetwas gibt es immer, dass es noch zu optimieren gilt. Und oftmals sind es ja mentale Aspekte, die über Sieg und Niederlage entscheiden können. An jenem, denkwürdigen Sonntagnachmittag gab es aus meiner Sicht aber nichts, was Arne Gabius hätte besser machen können. Denn er hat alles umgesetzt, was aus meiner Sicht ein mental starker Athlet umsetzen sollte. Aber was ist das im Detail?

Was muss ein mental starker Athlet umsetzen?

1.) Arne Gabius hatte ein klares Ziel, eine Vision: Er wollte einen neuen deutschen Marathonrekordwert aufstellen. Dementsprechend plante er die Saison 2015 und unterzog sich einem sehr umfangreichen und harten Trainingsprogramm. Die Planung und Umsetzung einer solchen Trainingsleistung ist ein „Tanz auf der Rasierklinge“, denn ein Training in dieses Belastungsbereichen kann schneller zu Verletzungen führen oder in einem „Übertrainingszustand“ enden, als man es sich als Nicht-Marathonläufer vorstellen kann.

2.) Er ging mit diesem Ziel an die Öffentlichkeit und erklärte im Vorfeld „vollmundig“: „Ich breche am Sonntag die deutsche Marathonbestzeit – es wird langsam Zeit, dass diese Marke fällt“. Hintergrund: Jörg Peter stellte 1988 in Tokio die „alte“ deutsche Bestleistung mit 2:08:49 Stunden auf, dies ist also die sportliche Ewigkeit von 27 Jahren her. Eine solche Ankündigung ist für einen noch jungen Marathonläufer, wie es Arne Gabius ist, durchaus riskant. Verfehlt er sein Ziel, blamiert er sich in der Öffentlichkeit, auch wenn es außer ihm zurzeit in Deutschland keinen anderen Marathonläufer gibt, der auch nur annähernd in diesem Leistungsbereich vorstoßen könnte. Und dennoch setzt er sich mit dieser Ansage bewusst öffentlich „unter Druck“. Aber genau darin ist ein zentraler Punkt seiner Mentalen Stärke zu sehen. Arne Gabius wusste genau, was, wie und warum er trainiert hatte. In Trainingswettkämpfen, bzw. langen und schnellen Trainingseinheiten ist er dieses Tempo gegangen und er wusste, dass es geht, dass er es kann – auch wenn das sehr schmerzhaft werden würde (wie dies ja auch dann im Rennen ab Kilometer 27 gut zu sehen war). Er war sich also seiner Fähigkeiten bewusst und bewertete somit dieses Rennen als Herausforderung und eben nicht als „Druck“. Im folgenden Videoclip „Arne Gabius zu seinen Gedanken ab Kilometer 30“ kann man erkennen, wie sehr es sich auf diesen Abschnitt freut:

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3.) Nicht zuletzt nutzte er die gesamte Bandbreite sportpsychologischer „Werkzeuge“. Er arbeitete mit einem detaillierten Drehbuch für sein Rennen – regulierte somit seine Aufmerksamkeit auf wichtige Renndetails außerhalb und innerhalb seines Körpers. Er nutzte (positive) Vorstellungsbilder, um seine Einstellung zum Rennen hoch zu halten. Er kontrollierte seine Gedanken und arbeitete mit hilfreichen Selbstinstruktionen, vor allen Dingen in den Phasen des Rennens, in denen es besonders schwer wurde. Er ließ nicht nach, auch wenn Schmerzen auftraten, versuchte er diese „Schmerzen“ auszublenden, so gut es ging, weil das Erreichen seines Ziels, auch wenn es hinten raus etwas langsamer wurde, immer noch erreichbar war. Er motivierte sich selbst, in dem er das „Einsammeln“ der noch wenig verbliebenen Gegnern, die ihm bei Kilometer 25 „weg gelaufen“ waren als positiven Verstärker begriff. Und er war in der Lage, Ruhe zu bewahren, sich nicht vom unglaublich schnellen Zwischenspurt des späteren Siegers Sisay Lemma aus Äthiopien anstecken zu lassen und einfach mit zu gehen. Er entwickelte also auch im Rennen keine „Allmachts-Fantasien“ und blieb in etwa bei dem Rennplan, den er sich ausgedacht und wahrscheinlich auch mit seinem Coach Renato Canova „verhandelt“ hat. Hierzu gehört eine ausgeprägte Selbstdisziplin und ein hohes Selbstvertrauen auf die eigenen Fähigkeiten. Ein Deutscher Marathon-Rekord mit Ansage!

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Es kommt nicht auf die Art des Rekords an

Ähnliches zeigte uns auch der diesjährige Hawaii-Ironman-Finisher Jan Frodeno, den ich mental genauso stark einschätze wie Arne Gabius. An dieser Stelle sei Lisa Hahner ebenfalls erwähnt, die ihre persönliche Bestzeit auf der Marathondistanz ebenfalls um zwei Minuten verbesserte, jedoch um neun Sekunden die DLV-Olympianorm verpasste. Diesen „Makel“ würde ich jedoch nicht fehlender Mentaler Stärke zuschreiben, sondern dem Umstand, dass diese Zeit eben nicht das prognostizierte Ziel für Lisa darstellte. Die Möglichkeit, dieses Ziel dennoch zu erreichen, ergab sich erst im Laufe des Rennens, und dann sind, wenn sich der jeweilige Sportler bereits am Limit befindet, selbst neun Sekunden – auch bei einer kilometerlangen Reststrecke – ein schwer zu überbrückendes Hindernis.  

Arne Gabius und Lisa Hahner haben in Frankfurt ein respektabales Stück „Marathonlauf-Geschichte“ abgeliefert. Wenn wir Jan Frodenos Leistung auch noch im Hinterkopf haben, könnte man fast annehmen, dass es wohl an dem Anforderungsprofil von Ausdauersportarten liegen muss, dass man „Mentale Stärke“ gleich neben dem körperlichen Trainingsprogramm mit entwickelt. Wer weiß – vielleicht ist es in der Tat so! Im Übrigen gibt es sportartspezifisch interessante Ratgeber-Bücher, die hier unten im Beitrag als Quellenangabe zu finden sind. Wenn Sie diese nutzen oder auch direkt mit einem Sportpsychologen arbeiten, dann verwandeln Sie sicherlich nicht gleich in einen Arne Gabius, aber Sie machen dann sicherlich auch viel „richtig“, so wie Arne Gabius am vergangenen Sonntag. Für sie kommt das aber nicht in Frage, weil sie keinen deutschen Rekord laufen wollen? Dann schauen sie mal, was Arne Gabius dazu sagt:

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Literatur

Stoll, O., Ziemainz, H. & Schmidt, U. (2000). Psychologie in Ausdauersportarten. Butzbach: Afra.

Stoll, O. & Ziemainz, H. (2009). Mentaltraining im Langsterckenlauf. [4. Neugefasste Auflage]: Hamburg:  Czwalina.

Ziemainz, H. & Rentschler, W. (2014). Mentaltraining im Triathlon: Ein Handbuch für Praktiker (Reihe: Mentaltraining im Sport). Hamburg: Czwalina.

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Prof. Dr. Oliver Stoll
Prof. Dr. Oliver Stollhttp://www.die-sportpsychologen.de/oliver-stoll/

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