Philippe Müller: Schlechte Vorbilder

Ein Bolzplatz am Tag nach dem zweiten Halbfinale der Fußball-WM in Brasilien. Argentinien und die Niederlande hatten sich wenige Stunden zuvor einen zermürbenden Kampf um den Finaleinzug geliefert. In einem Stadtpark, rund 10.000 Kilometer von Sao Paulo entfernt, standen sich nun jeweils eine Hand voll zehn- bis zwölfjährige Kinder gegenüber. Betonung auf standen, denn anstelle zu spielen, haderten, reklamierten und diskutierten die Kids als wären sie am Vorabend aus dem Flachbildschirm gefallen. Für jede Berührung wurde ein Freistoß gefordert, zu Einwurfentscheidungen diskutierte die ganze Meute und immer wieder Flugeinlagen. Zehn Minuten dauerte diese Beobachtung – hochgerechnet in zwei davon rollte der Ball.  

Zum Thema: Welche Effekte haben Sportvorbilder auf die Heranwachsenden?

Eine zentrale Aufgabe im Kindesalter ist die Entwicklung der eigenen Identität. Zur Sozialisation und Identitätsbildung der Mädchen und Jungen tragen zum einen geplante – die Erziehung – als auch ungeplante Lernprozesse bei. Vor allem das Beobachten der Verhaltensweisen der Eltern und Erwachsenen ist von großer Relevanz. Im Sport kommen die Vorbilder hinzu. Idole lösen bei  jungen Fußballern Begeisterung und Bewunderung aus und veranlassen sie, ihre Helden nachzuahmen und ihnen nachzueifern. Sie motivieren die Jugendlichen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ein Ziel zu verfolgen. Nicht selten kommt es vor, dass Verhaltensweisen wie Gestik und Mimik sowie Äußerlichkeiten wie Haarschnitt und Kleidung übernommen werden.

Vorbilder vermitteln jedoch auch Werte und Moralvorstellungen. Dazu zählt der respektvolle Umgang mit dem Gegner und Schiedsrichter sowie den gegnerischen Fans. Obwohl die FIFA eifrig Fair Play propagiert und die Spieler das Emblem auf dem Ärmel tragen, musste während der vergangenen WM in Brasilien oft danach gesucht werden.  Kaum eine Entscheidung des Unparteiischen wurde nicht minutenlang diskutiert. Auch bei offensichtlichen Regelverstößen war keine Einsicht zu sehen. Auffallend in Brasilien war, dass bei nahezu jeder Aktion im Strafraum ein Elfmeter gefordert wurde. Handspiele wurden reklamiert, wo keine waren. Und bei jeder kleinsten Berührung ließen sich auffällig viele Spieler theatralisch fallen. Wir erinnern uns an Freds Fall im WM-Auftaktspiel der Brasilianer gegen Kroatien oder Robbens Flugkünste im Achtelfinale gegen Mexiko.

Moralisches Vorbild Miroslav Klose

Wo sind die moralischen Vorbilder im Fußball geblieben? Gibt es sie überhaupt noch? Sie sind schwer zu finden. Einer, der Fair Play noch lebt, ist der deutsche Nationalspieler Miroslav Klose. Bereits zwei Auszeichnungen hat er für sein faires Verhalten verliehen bekommen. Einmal ließ er ein mit der Hand erzieltes Tor annullieren. Sport1 zitierte ihn 2012 zum Thema folgendermaßen: „Das war für mich selbstverständlich. Ich weiß, wie viele junge Zuschauer wir haben. Das ist eine Vorbildfunktion, die etwas verloren gegangen ist. Wir müssen wieder Vorbilder werden, Fairness im Sport bewahren.“

Es ist zu hoffen, dass solche Spieler weiterhin und in Zukunft wieder vermehrt anzutreffen sind. Denn nur so werden sich die Bilder auf dem Bolzplatz ändern und eine zukünftige Fußballgeneration heranwachsen, bei der Fair Play und gegenseitiger Respekt wieder gelebt wird. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei auch den vielen Nachwuchstrainern zu, die das vorgelebte Verhalten der Profi-Fußball zu relativieren haben – beziehungsweise die Suppe im Alltag auslöffeln müssen.

 

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Philippe Müller
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