Prof. Dr. Oliver Stoll: „Aufgeben“ – ein Zeichen von Schwäche oder Stärke?

Auf die Idee zu diesem Beitrag kam ich nach einem etwas längeren Interview mit der Chef-Herausgeberin der Zeitschrift “Psychologie heute”, die das Thema „Aufgeben“ zum Thema machen wollen. Ihr sei aufgefallen, dass Top-Athleten (zumindest von außen betrachtet) nie aufgeben und immer ihr Bestes geben (müssen) und natürlich die Frage, wie es Ihnen gelingt, ihre Motivation aufrechtzuerhalten, wenn sie nicht gewinnen, bzw. man die Athleten in einem solchen Fall sportpsychologisch betreut? Das Gespräch wurde immer länger und länger und mir wurde zunehmend klar, dass es zunächst einmal Aufklärungsarbeit bedarf, um zu verstehen, was so ein Top-Athlet im Laufe seiner Karriere erlebt. Denn erst dann wird klar, wie so etwas überhaupt funktionieren kann.    

Zum Thema: Zielführender Umgang mit Erwartungen und Zielen  

Wir haben es ja gerade in den öffentlichen Medien viel mit Wintersport zu tun. Da gibt es jede Menge Ski-Alpin, Tour de Ski, Biathlon und die Vierschanzen-Tournee. Je nachdem, welche Sportart wir da gerade sehen, treten bei diesen Wettkämpfen zwischen 50 und 70 Sportlerinnen und Sportler gegeneinander an. Und die wollen alle gewinnen? Ja, im Prinzip wollen die alle gewinnen! Aber allen ist natürlich klar, dass das nicht möglich ist und darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit bei dem einen oder anderen höher oder niedriger, auf dem Treppchen zu landen. Schauen wir uns zum Beispiel die Vierschanzen-Tournee an. Nach drei Springen ist mehr oder weniger klar, wer das Ding gewinnen wird (wenn nicht Ungewöhnliches passiert), nämlich Ryoyu Kobayashi. Spannend wird da nur noch der Kampf um Platz zwei und drei. Schaut man aber mal auf die Liste der 70 Springer, die jedes Mal zur Qualifikation antreten, dann finden wir solch klangvolle Namen wie Noriaki Kasai oder Simon Ammann, also in der Vergangenheit „hoch dekorierte“ und schon sehr erfahrene Athleten. Und die wollen gewinnen?

Ich habe es schon einmal geschrieben: Im Prinzip ja! Aber natürlich wissen die beiden mittlerweile längst, dass das nicht mehr möglich ist (zumindest nicht die Gesamtwertung). Warum nehmen diese beiden wohl weiter an den Wettkämpfen teil und geben nicht auf? Eigentlich wäre es doch viel sinnvoller auszusteigen und „Körner zu sparen“. Selbst ein Severin Freund, der genau zur selben Einsicht gekommen sein muss, spart die Körner nicht und startet in der „2. Liga des Skispringens“ beim Intercontinental-Cup. Man könnte meinen, dies sei „ein Abstieg, eine persönliche Niederlage“. Aber nein – genau das ist es nicht! Das Gegenteil ist der Fall. Es ist ein Zeichen der Stärke, ein Ausdruck besonderer Persönlichkeitseigenschaften sowie spezifischer mentaler Fähigkeiten und nicht der „mentalen Schwäche“.

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„Aufgeben“ ist nicht gleich „Aufgeben“

„Aufgeben“ ist nicht gleich „Aufgeben“! Eine Teilnahme an einem Wettkampf im Top-Bereich erfordert harte Trainingsarbeit im Vorfeld und eine klare, gut überprüfbare und realistische Zielsetzung. Diese Teilnahme ist auch von dem System (Staff) abhängig, welches den Athlet unterstützt. In erster Linie geht es natürlich darum, dass der Athlet, körperlich in einer Topform ist und – aus meiner Sicht – nachgeordnet braucht es dann eben auch bestimmte psychologische Fähigkeiten. Eine der wichtigsten Eigenschaften bei einem Wettkampf der Vierschanzen-Tournee ist es, eine realistische Selbsteinschätzung zu haben. Orientiert an dieser Einschätzung geht es darum, seine Ziele für sich selbst – und natürlich in der Konsequenz die weitere Trainingsarbeit (sofern das bei diesem Event überhaupt noch möglich ist) festzulegen. Für Markus Eisenbichler geht es jetzt nicht mehr um den Sieg. Er wird sicherlich versuchen, den zweiten Platz zu verteidigen. Gibt er deswegen auf? Ich habe solche Forderungen schon gehört! Er möge doch in Bischofshofen mutiger springen und nicht gleich den Gesamtsieg aufgeben.

Wir alle, die wir nicht in den Athleten drin stecken, können ohnehin nicht wirklich realistisch einschätzen, was noch geht und was nicht. Nur der Athlet selbst kann diese Entscheidung treffen, was er nun machen wird. Und sollte er zu dem Ergebnis kommen, den zweiten Platz abzusichern, dann ist genau diese Entscheidung für diesen Athleten richtig. Und was geht wohl in den Köpfen von Simon Ammann und Noriaki Kasai vor, deren Chancen auf den Gesamtsieg sehr, sehr niedrig ausfallen? Beide werden auch in Bischofshofen am Start sein und beide werden versuchen, das Beste, zu was sie gerade in der Lage sind, abzurufen, auch wenn es für sie nicht mehr um den Gesamtsieg gehen wird. Beide werden ihr ursprüngliches Ziel (Gesamtsieg) vermutlich in Richtung eines realistischen Ziels modifiziert haben und ihre Leistung an diesem neu ausgerichteten Ziel bewerten. Alles andere wäre psychologisch betrachtet auch Unsinn, denn wenn diese Athleten an unrealistischen Zielen festhalten werden, würden sie über kurz oder lang ausbrennen, denn sie werden ihre Ziele niemals erreichen.

Die Nähe zwischen Aufgeben und Perfektion

Wettkämpfe sind für Athleten häufig „nur“ Durchgangs-Stationen auf ihrem individuellen Entwicklungsweg. Auch wenn eine Vierschanzen-Tournee für einen Skispringer doch eigentlich der Saisonhöhepunkt sein sollte (und es für viele auch ist), so verändert sich dies in der Wahrnehmung der Athleten über diese vier Wettkämpfe und das ist auch gut so. Top-Athleten sind „Meister im Anpassen ihrer Ziele“. Sie trainieren ja fast jeden Tag. Dafür bekommen sie keine Medaillen jeden Abend. Sie lernen Belohnungen aufzuschieben und die erleben im Training sehr viel häufiger Misserfolge als Erfolge, die aber auch nötig sind, um etwas „zu verändern“. Sie trainieren, um sich weiter zu entwickeln, um dann gegebenenfalls mal diesen einen Tag (oder diese eine Woche) erleben zu dürfen, an dem alles passt, die physische Form, die persönliche Einstellung, die Umstände (also das System) und die äußeren Gegebenheiten. Sie arbeiten genau auf diesen Tag hin. Manche erleben ihn nie. Andere fangen z.B. nach einem Kreuzbandriss wieder ganz von vorn an. Und warum? Weil es das ist, was sie können und was sie wollen. Weil sie es lieben! Es ist ihre ganz große Leidenschaft. Anders könnte das auch gar nicht funktionieren.  

Bei der Vierschanzen-Tournee kann man diese Ziele von Tag zu Tag neu anpassen. In einem einzigen Wettkampf wie z.B. bei einem Marathonlauf oder einem Triathlon geht es häufig auch um solche „wegweisenden Entscheidungen“: Greife ich pro-aktiv an oder steige ich aus, um Körner zu sparen? (siehe hierzu Stoll, 1996). Orientiere ich mich am Sieg oder laufe ich mein persönliches Rennen? (siehe hierzu Schlicht und Kollegen, 1990). Selbst ein Aussteigen in einem Marathonlauf muss auf lange Sicht nichts mit „Aufgeben“ zu tun haben, sondern es kann ein Ausdruck von emotionaler Intelligenz sein, wenn man merkt, dass ein Ziel an einem Tag X realistischerweise nicht mehr zu erreichen ist. In der Öffentlichkeit werden die Athleten dann häufig kritisiert – oder zumindest wird dies nicht gerade wertgeschätzt. Aus Sicht eines Athleten hat dies dann aber nichts mit „Aufgeben“ zu tun, sondern ist es dann eben nur eine weitere Erfahrung, ein weiterer Schritt in der Entwicklung zur persönlichen Perfektion.

Quellen:

Schlicht, W., Meyer, N. & Janssen, J.P. (1990a). „Ich will mein Rennen laufen – Bewältigung belastender Ereignisse im Triathlon – Eine Pilotstudie. Sportpsychologie ,4 (2), (Teil 2), S. 5-9.

Stoll, O. (1996). “Beiß Dich fest und kämpfe!” Selbstmotivation und Durchhalteparolen – immer der beste Weg zur Bewältigung kritischer Situationen im Sport ? Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge, 37 (2), 120-134.

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