Prof. Dr. Daniel Memmert: Kreatives taktisches Entscheiden im Fußball

Messi schenkt mit seinem Spiel dem Publikum die Illusion, das Spontane, das Wilde auf der Straße existiere noch; Wie kann man ihn stoppen? „Indem du die Augen schließt und betest.“

Fabio Cannavero, italienischer Nationalspieler (1997-2010)

Messi spielt auf einem total anderen Niveau.“

Neymar, brasilianischer Nationalspieler (2010 – heute)

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Für die-sportpsychologen.de berichtet Prof. Dr. Daniel Memmert, Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Kognitions- und Sportspielforschung:

Die Begriffe Einzigartigkeit, Originalität, Intuition oder Kreativität nehmen in unserer Gesellschaft seit je her eine bedeutsame, ja sogar besondere Stellung ein. Kreative Leistungen deuten oftmals auf bizarre Produkte oder ungewöhnliche Verhaltensweisen von Menschen hin, die sich scheinbar der analytischen und rationalen Durchdringung verschließen. Sie werden demnach mit mystischen, nicht realen oder verborgenen Prozessen in Verbindung gebracht, die sich eines wissenschaftlichen Zugangs zu entziehen scheinen.

Beispiele für kreative Produkte finden sich in allen zeitlichen Epochen: Die frühkindlichen Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart. Die Erfindung der chemischen Struktur des Benzolrings. Die Entdeckung des Fosbery-Flops beim Hochsprung in der Leichtathletik. Auch in Sportspielen führen einstudierte Handlungsabfolgen (z. B. Spielzüge) zum Erfolg, kreative Ideen spielen aber in vielen Fällen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Beispielsweise in der Auswahl, welcher Spielzug zu initiieren ist, für die Auswahl der geeigneten „Ausstiegsoptionen“ (z. B. Folgehandlungen), sowie jenseits einstudierter Spielzüge. Somit sind taktisch optimale und kreative Lösungen in allen Sportspielen von Bedeutung. Im Fußball haben insbesondere die Mittelfeldspieler die Aufgabe, durch kluges, einstudiertes taktisches Entscheidungsverhalten das Aufbauspiel einer Mannschaft zu steuern. Oder Spielmacher im Handball oder Basketball können mit kreativen Lösungen Abschlussmöglichkeiten ihrer Mitspieler vorbereiten.

Taktische Kreativität versus taktische Spielintelligenz

Während intelligent immer in Verbindung mit den einzigen richtigen Lösungen gebracht wird, steht Kreativität für schöpferisch, originell, produktiv, gestaltend, künstlerisch, kunstvoll, erfinderisch, innovativ, ideenreich, einfallsreich, phantasievoll, bahnbrechend, oder richtungsweisend um nur einige Begrifflichkeiten zu nennen. Allgemein gesprochen bedeutet kreatives Verhalten, dass man zu einem vorgegebenen, meist schlecht oder nur vage definierten Problem, bei dem es keine vorgefertigten klaren Lösungswege gibt, dennoch Ideen produzieren kann, die zu adäquaten Lösungen führen. Diese Lösungen werden dann von der Umwelt oftmals als überraschend, originell und flexibel wahrgenommen.

Im Sportspiel und somit auch im Fußball muss taktische Kreativität von taktischer Spielintelligenz unterschieden werden (Roth, 2005). Taktische Kreativität im Fußball kann als die Generierung zahlreicher Lösungen zu Problemen in fußballspezifischen individual-, gruppen- oder mannschaftstaktischen Spielsituationen definiert werden, die als überraschend, selten und/oder originell bezeichnet werden können (Memmert, 2014). Demgegenüber versteht man unter taktischer Spielintelligenz im Fußball die Produktion einer Bestlösung von Problemen in fußballspezifischen individual-, gruppen- oder mannschaftstaktischen Spielsituationen. Zur Operationalisierung und damit Bewertung taktischer Kreativität wird fast immer auf die bereits 1967 von der Forschungsgruppe um Guilford (1967) faktorenanalytisch identifizierten Eigenschaften Originalität, Flexibilität und Flüssigkeit zurückgegriffen. Die gebräuchlichsten Formen ihrer Bewertung anhand dieser drei Faktoren finden sich auch in Fußball-Videotests (Memmert, Hüttermann, & Orliczek, 2013) und fußballspezifischen Spieltestsituationen (vgl. Memmert, 2004, 2006, 2010).

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Die sieben D`s

Nationale und internationale empirisch geprägte Forschungsprogramme haben in den letzten Jahren dazu geführt (für einen Überblick: Memmert, 2012, 2015), dass zahlreiche methodische Möglichkeiten zur fußballspezifischen Schulung von taktischer Kreativität entwickelt werden konnten. Auf einer methodischen Ebene scheinen die sieben Prinzipien Deliberate-Play, 1-Dimension-Games, Diversifikation, Deliberate Memory, Deliberate-Coaching, Deliberate-Practice und Deliberate-Motivation – quasi die sieben D´s der Kreativitätsschulung im Fußball – von besonderer Bedeutung (vgl. Abb. 1).

Abb. 1. Die 7 D´s der Schulung taktischer Kreativität (vgl. Tactical Creativity Approach von Memmert (Mem-mert, D. (2015). Teaching Tactical Creativity in Team and Racket Sports: Research and Practice. Abingdon: Routledge.)

Ihre Anordnung ist nicht zufällig, sondern entspricht einer chronologischen Reihung. Während die sechs ersten Prinzipien eher für das Kinder- und Jugendtraining geeignet erscheinen, können alle sieben Prinzipien auch im Erwachsentraining eingesetzt werden. Diese D´s können Berücksichtigung finden, wenn fußballspezifische taktische Inhalte geschult werden (z. B. fußballspezifische Basisbausteine: Memmert & Breihofer, 2010; Memmert, Thumfart, & Uhing, 2014), aber auch bei sportartübergreifenden Basistaktiken (allgemeine Ballschule: Roth & Kröger, 2011; Ballschule Rückschlagspiele: Roth, Kröger & Memmert, 2002; Ballschule Wurfspiele: Roth, Memmert & Schubert, 2006). Nachfolgend werden die sieben methodischen Prinzipien (kurz) erklärend tabellarisch zusammengefasst (vgl. Tab. 1, vgl. ausführlicher Memmert, 2014, 2015).

Prinzip Erklärung
Deliberate-Play In den Basis-Bausteinspielen kann unangeleitetes Agieren zum Ausprobieren unterschiedlichster Lösungsvariationen führen.
1-Dimension-Games Basis-Bausteinspiele können durch eine hohe Zahl von immer wieder-kehrenden ähnlichen Situationskonstellationen einzelne sportspiel-übergreifende Basistaktiken schulen.
Diversifikation Der Einsatz von verschiedenen motorischen Fertigkeiten in Basis-Bausteinspielen kann die Ausbildung von originellen Lösungsvariationen unterstützen.
Deliberate-Coaching In den Basis-Bausteinspielen sind keine Instruktionen einzusetzen, die den Aufmerksamkeitsfokus der Agierenden verringern.
Deliberate-Memory Beachte bei taktischen Instruktionen die Quantität und Qualität der Informationen, um das Arbeitsgedächtnis mit nützlichen Informationen „zu füllen“.
Deliberate-Motivation Für die Basis-Bausteinspiele sind Hoffnungs-basierte Instruktionen einzusetzen, die die Generierung von ungewöhnlichen Lösungen erhöhen.
Deliberate-Practice In späteren Phasen des Lernprozesses können die Basis-Bausteinspiele sportartspezifisch ausgerichtet werden, sodass ein zielgerichtetes Überlernen von sportartspezifischen Lösungsvariationen erfolgen kann.

Tab. 1.            Die 7 D´s der Schulung taktischer Kreativität im Fußball (Memmert, D. (2015). Teaching Tactical Creativity in Team and Racket Sports: Research and Practice. Abingdon: Routledge.)

Kreativität als Baustein der Talentförderung

Taktische Kreativität gilt für individual-, gruppen- und mannschaftstaktische Situationen. Somit muss seine Entwicklung als ein zentraler Baustein einer taktisch geprägten Talentförderung im Fußball verstanden werden. Auch erste empirische Evidenzen zur Bedeutung von taktischer Kreativität im Spitzen-Fußball (WM 2010, 2014) weisen immer stärker darauf hin (Memmert, 2015; Memmert, Vogelbein, Nopp, & Knievel, 2015), dass

a) je näher die Aktionen am Tor sind, desto kreativer werden sie eingeschätzt;

b) mehr als 80% aller Tore mindestens eine der letzten acht Aktionen vor dem Tor im hochkreativen Bereich beinhalten;

c) ca. 40% aller Tore mindestens eine der letzten acht Aktionen vor dem Tor im höchstkreativen Bereich beinhalten;

d) die Teams, die in die K.o.-Runde eingezogen sind im Schnitt mehr Kreativitätsmerkmale beim vorletzten Pass aufweisen, als die in der Vorrunde gescheiterten Teams.

 

Literatur

Beim Autor

 

Prof. Dr. Daniel Memmert ist Institutsleiter und Professur am Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Von 1999 bis 2009 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Akademischer Rat am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg. Im Jahr 2003 promovierte er (Auszeichnung: dvs-Nachwuchspreis, Bronze) und habilitierte sich 2008 an der Elite-Universität Heidelberg (Auszeichnung: DOSB-Wissenschaftspreis, Bronze). 2014 war er Gast-Professor an der Universität Wien. Seine wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte liegen in der Bewegungswissenschaft (Kognition und Motorik), in der Sportpsychologie (Aufmerksamkeit und Motivation), in der Sportinformatik (Mustererkennung und Simulation), in der Kinder- und Jugendforschung, im Bereich der Sportspiel- und Evaluationsforschung sowie in den Forschungsmethoden.

Er hat etliche Forschungsaufenthalte (u. a., USA, Kanada) absolviert, verschiedene Preise gewonnen (u.a. DOSB-Wissenschaftspreis Bronze, Research Writing Award AAHPERD), zahlreiche Drittmittelprojekte eingeworben (u. a., DFG, BISp), arbeitet in internationalen Editorial Boards (u. a. PSE) und publiziert in internationalen Fachzeitschriften. Von 2009 bis 2013 war er Geschäftsführer der asp (Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie), seit 2012 ist er Herausgeber der Zeitschrift für Sportwissenschaft (verhaltenswissenschaftlicher Bereich) und seit 2009 ist er stellv. Sprecher der dvs-Kommission “Sportspiele”. Er besitzt Trainerlizenzen in den Sportarten Fußball, Tennis, Snowboard sowie Ski-Alpin und ist Herausgeber und Autor von Lehrbüchern zum modernen Fußballtraining. Sein Institut kooperiert mit verschiedenen Fußball-Bundesligisten, der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft sowie DAX-Unternehmen und organisiert den ersten internationalen Weiterbildungs-Masterstudiengang „Spielanalyse“.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de

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