Im Spitzensport gehört es zur täglichen Herausforderung, auf höchstem Niveau zu funktionieren – unter Druck, unter Beobachtung, unter Strukturen. Viele Trainer:innen erleben dabei Momente, in denen sie spüren: Etwas läuft hier grundsätzlich falsch.
Zum Thema: Zwischen innerem Konflikt und äußerem Schweigen. Warum gute Führung oft nicht am Mut, sondern an der Umgebung scheitert
Vielleicht sind es Transferentscheidungen, die ohne sportliche Rücksprache getroffen werden. Vielleicht wird die Kommunikation mit der Vereinsführung immer unklarer. Vielleicht spüren sie im eigenen Team eine Dynamik, die längst toxisch geworden ist – doch niemand spricht es an.
Und dann beginnt das Ringen:
Spricht man es offen an – mit allen Risiken?
Oder bleibt man loyal – und damit still?
Aus sportpsychologischer Perspektive ist das keine Schwäche, sondern ein klassisches Beispiel für ein tieferliegendes psychologisches Spannungsfeld. Zwischen innerem Wissen und äußerem Verhalten entsteht eine kognitive Dissonanz (Festinger, 1957). Ob diese innere Spannung benannt wird oder nicht, hängt oft nicht von Mut ab – sondern von einem Faktor, der selten sichtbar, aber entscheidend ist: psychologische Sicherheit (Edmondson, 1999).
Im Spitzensport wie in Unternehmen
Was im Spitzensport passiert, ist dabei kein Einzelfall. Dieselben Mechanismen wirken auch in Unternehmen, Teams, Behörden – überall dort, wo Verantwortung und Systemlogik aufeinandertreffen.
Konkret: Wer führt, steht immer wieder im Spannungsfeld zwischen persönlicher Überzeugung und systemischer Einbettung. Wer Missstände erkennt, trägt Verantwortung. Doch wer sie anspricht, riskiert auch etwas – Rückhalt, Einfluss oder sogar den eigenen Posten. Dieses Dilemma lässt sich sportpsychologisch auf zwei Ebenen analysieren:
Kognitive Dissonanz – Wenn das Bauchgefühl gegen das System spricht
Das psychologische Modell der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) beschreibt das innere Spannungsgefühl, das entsteht, wenn zwei widersprüchliche Kognitionen aufeinandertreffen. Im Fall einer Führungskraft könnten das folgende Gedanken sein:
- „Ich will loyal gegenüber meiner Organisation bleiben.“
- „Ich sehe aber, dass hier etwas gravierend schief läuft.“
Diese kognitive Dissonanz erzeugt Unbehagen – und Menschen neigen dazu, sie zu reduzieren. In der Praxis passiert das oft über Verdrängung, Rationalisierung oder Verschiebung der Verantwortung:
„Ich bin ja nicht der oder die Hauptverantwortliche.“
„Vielleicht irre ich mich auch.“
„Ich will nicht illoyal wirken – das bringt nichts.“
Die Konsequenz: Führungskräfte schweigen, arrangieren sich oder verbiegen sich – auf Kosten der eigenen Überzeugung. Je länger dieser Zustand andauert, desto höher ist die psychische Belastung. Im Sport wie in der Wirtschaft zeigt sich das in Form von Rückzug, Zynismus oder stiller innerer Kündigung.
Psychologische Sicherheit – Der entscheidende Unterschied im System
Ob jemand in einer solchen Situation offen handelt oder schweigt, hängt entscheidend davon ab, wie sicher das soziale Umfeld ist (siehe Link unten: Thorsten Loch: Wie es dir als Coach gelingt, dass dir das Team vertraut | Die Sportpsychologen). Amy Edmondson (1999) prägte hierfür den Begriff psychologische Sicherheit – das Gefühl, dass man in einem Team oder einer Organisation unbequeme Wahrheiten ansprechen darf, ohne negative persönliche Konsequenzen befürchten zu müssen.
Ein Klima psychologischer Sicherheit entsteht nicht zufällig. Es ist das Resultat von Führungskultur, Kommunikationsstil und systemischen Rahmenbedingungen. Und es zeigt sich nicht in Hochglanz-Strategiepapiere, sondern in Alltagssituationen:
- Wird in Meetings widersprochen – auch der Führungsebene gegenüber?
- Dürfen auch kritische Stimmen Gehör finden – oder bleiben sie außen vor?
- Werden Fehler als Lernchancen gesehen – oder als Schwächen sanktioniert?
Je unsicherer sich eine Führungskraft fühlt, desto weniger wird sie Dissonanzen nach außen tragen. In der Folge bleibt das System stabil – aber nicht gesund.
Der Transfer: Von der Kabine ins Konferenzzimmer
Das Dilemma ist kein Sonderfall des Spitzensports. Es zeigt sich in unzähligen Organisationen – von der Klinikleitung bis zum Start-up-Board, vom Familienbetrieb bis zur NGO.
Denn immer dann, wenn Menschen Verantwortung übernehmen und gleichzeitig Teil eines fehlerhaften Systems sind, entsteht diese psychologisch erklärbare Zwickmühle. Und solange Führung ausschließlich als Durchsetzen von Entscheidungen verstanden wird – statt als Gestalten von Kultur – bleibt diese Falle bestehen.
Doch: Diese Dynamik lässt sich verändern. Führung kann trainiert werden.
Psychologische Sicherheit kann geschaffen werden.
Dissonanz kann konstruktiv genutzt werden – als Motor für Entwicklung statt als lähmender Zustand.
Fazit: Mut ist wichtig – aber kein Zufallsprodukt
Führung zeigt sich nicht nur in Titeln oder Entscheidungen, sondern oft in den Momenten, in denen etwas nicht gesagt wird. Wer Missstände erkennt, aber aus Loyalität oder Unsicherheit schweigt, steckt in einem Dilemma, das psychologisch erklärbar – und veränderbar – ist.
Wer lernt, kognitive Dissonanz zu reflektieren und psychologische Sicherheit aktiv mitzugestalten, kann auch in komplexen Systemen klar, wertschätzend und verantwortungsbewusst handeln. Ob in der Kabine oder im Vorstandsbüro: Führung beginnt mit innerer Klarheit – und wird durch strukturelle Sicherheit erst wirklich wirksam.
Sie arbeiten in einem Umfeld, in dem kritische Themen schwer anzusprechen sind – obwohl sie offensichtlich sind?
Als Coach begleite ich Führungskräfte dabei, diese Spannungsfelder professionell zu navigieren – mit psychologischem Know-how und einem klaren Blick auf das, was möglich ist.
Literaturverzeichnis
Edmondson, A. (1999). Psychological safety and learning behavior in work teams. Administrative Science Quarterly, 44(2), 350–383. https://doi.org/10.2307/2666999
Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.
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