Die junge Turnerin rutscht mitten in ihrer Übung aus und fällt vom Balken. Zum Glück ist der Schmerz geringer als der Schreck. Sofort ist die Trainerin da und kümmert sich, obwohl das Punktabzug gibt. Die sofortige soziale Unterstützung ist wichtig, um das Erlebnis möglichst gut zu verarbeiten und Ängsten und Blockaden vorzubeugen. Das Mädchen turnt ihre Übung zu Ende und wiederholt gleich anschließend mit Absicherung der Trainerin den Teil, bei dem sie gestürzt ist. Auch das ist wichtig, um Sicherheit wiederzuerlangen und die Selbstwirksamkeit zu stärken.
Zum Thema: Ängste, Blockaden, Traumata
Im Turnen sowie im Reitsport sind Ängste und Blockaden keine Seltenheit. Für Elemente, die immer sicher geturnt werden konnten, fehlt plötzlich die Bewegungsvorstellung. Oder die Orientierung im Raum bei Rotationselementen ist nicht mehr möglich. Oder beziehen wir den Reitsport mit ein: Beim Springreiten fehlt plötzlich die sichere Einschätzung der Entfernung, der notwendigen Geschwindigkeit oder des optimalen Absprungpunktes.
Nicht immer ist ein Sturz Auslöser für solche Unsicherheiten. Empfindet eine Sportlerin beispielsweise zu viel Druck und möchte daher alles noch besser machen als sonst, konzentriert sie sich möglicherweise ganz besonders auf die technischen Details der Übung. Dadurch ist aber der analytische Teil des Gehirns zu sehr aktiviert und „überschattet“ den Teil des Gehirns, in dem die ganzheitliche Ausführung des Elements gespeichert ist. Und wie aus heiterem Himmel traut sich die Sportlerin nicht, einen für sie einfachen Rückwärtssalto zu turnen. Wird die Unsicherheit nicht verarbeitet, kann sie langfristige Auswirkungen haben und zu einer Blockade und auch zum Sturz führen.
Stürze als Auslöser für Ängste und Blockaden
Oftmals sind aber Stürze Auslöser für Ängste und Blockaden. Beispielsweise wenn eine Sportlerin mit ihrem Pferd ins Hindernis stürzt und das Pferd beinahe auf sie fällt. Auch wenn Sportlerin und Pferd unverletzt bleiben und sie anschließend normal weiter trainieren und auf Turnieren starten, kommt es häufig zu Ängsten, die sich zum Teil erst einige Zeit später zeigen. Sie haben nicht selten unsicheres Reiten zur Folge, was das Pferd verunsichert und immer wieder zu Verweigerungen führt.
Nach einem Sturz weiterzumachen, um Sicherheit wiederzuerlangen, ist also meist hilfreich, es reicht oft aber nicht. Und in manchen Fällen bedeutet es auch eine Überforderung für den Sportler.
Trauma im Kopf und Körper
Ein überwältigend bedrohliches Erlebnis wird als Trauma im Gehirn und im Körper gespeichert. Kommen wir später in ähnliche Situationen, wird eine Schutzfunktion ausgelöst, um uns vor (erneutem) Schaden zu bewahren: Der Körper zieht die Notbremse und blockiert. Allein der Gedanke an eine ähnliche Situation kann unangenehme Körperempfindungen wie Druck auf der Brust, Kopfschmerzen o.Ä. auslösen.
Die Ängste machen sich zudem in typischen „Was ist, wenn…?“-Gedanken bemerkbar. „Was ist, wenn mein Pferd auf dem feuchten Gras den Halt verliert und ins Rutschen kommt?“ „Was ist, wenn ich den Salto auf dem Balken nicht hinbekomme und auf meinen Kopf falle?“ Dazu kommen Bilder im Kopf und sie sehen sich selbst, wie sie stürzen.
Was hilft?
Immer wieder darüber sprechen zu können ist enorm wichtig und wertvoll. Häufig besteht Unsicherheit bei Trainer*innen und Eltern, ob es vielleicht besser wäre, gar nicht über das Erlebnis zu sprechen – in der Hoffnung, dass es vergessen wird oder durch das Nicht-daran-rühren an Wichtigkeit verliert. Erinnern und verarbeiten ist aber das, was zur Heilung führt. Familie, Trainer und Teamkamerad*innen können Unterstützung bieten, indem sie zuhören, sich hineinversetzen, versuchen zu verstehen und die vorhandenen Gefühle anerkennen.
Nicht jeder Sportler oder jede Sportlerin fühlt sich aber in der Lage, über das Erlebnis zu sprechen. Das sollte akzeptiert werden. Denn wenn die Sportlerin die Emotionen, die mit der Erinnerung hochkommen, nicht ertragen kann, ist es möglich, dass es zu einer erneuten Traumatisierung kommen kann. In dem Fall, dass die betroffene Person nicht über das Erlebte sprechen mag, ist es unbedingt ratsam, fachkundige Unterstützung zu suchen.
Von Bauchatmung bis zur Visualisierung
Die Sportler*innen verstehen sich oft selbst nicht – jahrelang haben sie das Element geturnt bzw. sind noch höhere Hindernisse mit ihrem Pferd gesprungen und plötzlich trauen sie sich nicht mehr. Der Verstand sagt ihnen, dass sie es können, aber die Emotionen, Empfindungen und Angstgedanken lassen sich davon nicht so leicht beruhigen. Neben dem Sprechen über das Geschehene ist es also mindestens ebenso wichtig, sich dem Körper zuzuwenden. Die unangenehmen Körperempfindungen will man am liebsten nicht spüren und versucht, sie zu übergehen oder wegzudrücken. Das Hineinspüren in den Körper und das Wahrnehmen der Bauchgefühle ist aber sehr hilfreich in der Auflösung der Ängste und Blockaden. Häufig ist dabei eine Kombination verschiedener körperorientierter Verfahren wie tiefer Bauchatmung, Achtsamkeit, Entspannung, Visualisierung und anderer Techniken sinnvoll.
Fazit: Sicherheit wiederzuerlangen braucht Zeit. Und betrifft eben nicht nur die Fähigkeit, die sportliche Anforderung sicher ausführen zu können, sondern auch die psychische Sicherheit. Der mentalen Verarbeitung eines Sturzes wird aber viel zu häufig zu wenig Beachtung geschenkt.
Unterstützung suchen bevor die Negativspirale einsetzt
Wie ein Sturz sich mental auswirkt, wird oft schon in den ersten Minuten nach dem Geschehen mit beeinflusst. Wie ist die soziale Unterstützung? Wie wird kommuniziert? Generell gilt, dass eine zeitnahe mentale Unterstützung die Wahrscheinlichkeit einer konstruktiven Verarbeitung erhöht und die Wahrscheinlichkeit von negativen Folgen wie langfristigen Blockaden mit damit verbundenen Leistungseinbußen und Selbstzweifeln minimiert. Meine Kollegen von Die Sportpsychologen und ich sind gerne für Sie da, falls Sie Beratung wünschen:
Literatur
van der Kolk, B. A. (2023). Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. Ullstein.
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