Prof. Dr. Oliver Stoll: Dem Schmerz davonlaufen

Seit 1959 trifft sich ein erlesener Kreis von Ausdauersportlern im schweizerischen Biel zum traditionellen 100km-Rennen. Am Freitag, den 13. Juni, gehörte auch Prof. Dr. Oliver Stoll zu diesem Starterfeld, welches um 22 Uhr Ortszeit einen Wettkampf der besonderen Art aufnahm. Exklusiv für die-sportpsychologen.de berichtet er von dieser Lebenserfahrung, mit der er sich einen lange gehegten Traum verwirklichte. 

Zum Thema: Sportpsychologisches Handwerk im 13,5-Stunden Dauertest

Die 100km von Biel sind also auch für mich „Geschichte“. Mein Plan ging voll und ganz auf. Insgesamt bin ich 13 Stunden und 34 Minuten gelaufen, um diese Distanz zurück zu legen, abgeschlossen mit einem sehr emotionalen und atemberaubenden Finish. Dies ist für mich umso schöner, da ich nahezu – speziell diesen Lauf – 30 Jahre lang vor mir her geschoben habe. Im Jahr 1984 hatte ich das erste Mal davon gehört und habe dann gleich das Buch von Werner Sonntag „Irgendwann musst Du mal nach Biel“ gelesen. Von diesem Zeitpunkt an stand für mich fest, dass ich dort einmal hin muss.

Wie schon im zurückliegenden Blog-Beitrag (100 km Laufen ist (r)eine „Kopfsache“) angedeutet: Für die 100km kann man nur sehr eingeschränkt trainieren. Am ehesten kann man noch im psychologischen Bereich – spezifisch – trainieren. Wie sah nun mein sportpsychologisches Training aus? Die 100 km sind zunächst einmal nur eine Zahl. Aber diese Zahl darf man am Start nicht vor Augen haben – das ist viel zu abstrakt. Erste einmal bis Kirchberg. Das ist überschaubare 57 Kilometer mit der Möglichkeit zu duschen und eine Massage zu bekommen. Bevor es los geht, ist es wichtig, die Stellen abzukleben oder mit Vaseline einzucremen, die sich leicht wund reiben können. Diese sehr einfache und kleine Handlung hilft, einiges an Schmerzerfahrungen, die schon früh auftreten können, vorzubeugen. Dann habe ich mich also auch schon im Vorfeld sehr intensiv mit der Strecke beschäftigt und mir – sehr perfektionistisch – ein „Drehbuch“ gebastelt. Ich kannte die Strecke, also die Orte, die durchlaufen würden, die Anstiege, die Wald-, Feld-, und Trailpassagen, bevor ich diese gesehen hatte. Dieses Wissen half mir, meine Aufmerksamkeitsregulation zu optimieren. Gerade zu Beginn der Strecke heißt es „hellwach“ zu sein, und möglichst viel von der positiven Ausgangsstimmung mit in die Nacht hinein zu nehmen. In anderen Passagen war es wichtig, in sich hinein zu hören, um möglichst viele Informationen über seinen physischen Zustand zu erfahren. Zwischen Kilometer 60 und 70 wird ein anspruchsvolleres Trailstück absolviert, bei der die Aufmerksamkeit ganz auf die Wegbeschaffenheit gerichtet sein muss. Man darf dort nicht „wegdämmern“, so wie es einem Läufer vor mir passiert ist, der dann stürzte und sich einige Blessuren zuzog.

Mit Lieblingsmusik aus der Nacht

Man kann sich aber auch nicht 13 Stunden lang voll konzentrieren. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, Teilstücke zu finden, auf denen man einfach mal die Gedanken schweifen lassen kann, oder eben auch Musik hört, die subjektiv positive Emotionen induzieren kann. Dies habe ich z.B. zwischen KM 48 und 56 getan und konnte dann, während ich meiner Lieblingsmusik lauschte, beobachten, wie die Nacht dem Tag weicht.

Die „Krise“ kommt und sie kam auch. Kilometerpunkt 70 und mein Körper fühlte sich wie ein einziger Krampf an. Dies konnte ich mit vorher einstudierten „Selbstgesprächen“ zumindest etwas kontrollieren. Dennoch waren die Schmerzempfindungen sehr intensiv, so dass ich kaum wusste, wie ich damit umgehen sollte. Hier haben kurze Gehpausen Abhilfe geschaffen sowie etwas ausgedehntere Aufenthalte an den Verpflegungsständen. Ab Kilometer 76 – und dies überraschte  mich selbst – waren die Schmerzen dann fast nahezu verschwunden. Es fühlte sich an, als wären mir Flügel gewachsen – Euphorie pur. Ab KM 92 verschwand dann langsam wirklich die Kraft. Das Laufen gleicht dann eher einem „Dahinschleppen“. Von außen betrachtet könnte man meinen, dass der Läufer dann leidet – dem ist jedoch nicht so, denn das Wissen und die Überzeugung, dass man garantiert das Ziel erreichen wird, überdeckt alles, was vorher möglicherweise an Zweifel oder Unsicherheit vorhanden war. Der Rest – also der letzte Kilometer – ist ein reiner Genuss. Hier saugt man den Applaus und die näher kommenden Lautsprechergeräusche des Zielbereichs einfach nur auf und genießt. Der Zieleinlauf ist dann phänomenal – genial. Für viele Läufer, wie auch für mich, ist dieser Lauf ein Lebenstraum. Was diesen Lauf ausmacht, sind die vielen sehr intensiven Emotionen, die man unterwegs erlebt und man genießt auch die stille Kameradschaft mit den anderen Läuferinnen und Läufern, die dann – so wie auch ich – im Ziel wissen, dass man etwas ganz besonderes geleistet hat.

 

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Prof. Dr. Oliver Stoll
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