Prof. Dr. Oliver Stoll: Ich kann es nicht mehr, oder?

42,195 Kilometer laufen und zwar am Stück. Zu den Details meines persönlichen “Berlin-Marathon-2022-Erlebnisses” komme ich gleich, aber ich muss noch voranstellen, dass ich diese Distanz schon seit drei Jahren nicht mehr gelaufen bin. Viele, die hier lesen, wissen ja, dass ich zum Täglich-Läufer  mutiert bin. Streakrunning bedeutet zwar täglich laufen, dass dies etwas komplett anderes ist, als Marathonlaufen, das hat nicht nur etwas mit Training zu tun, sondern eben auch mit Psychologie – davon soll dieser Beitrag handeln.

Zum Thema: Leistungsmotivation im Ausdauersport

Da ist also ein Ausdauersportler, der eigentlich fast alles in seinem sportlichen Ausdauer-Leben erreicht hat, was man so erreichen kann – natürlich nur mit diesen, meinen eigenen, individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten und weit entfernt von dem historischen Rekord eines Eliud Kipchoge, der den Berlin-Marathon 2022 in 2 Stunden, 1 Minute und 9 Sekunden lief und damit im selben Rennen war, dem ich am vergangenen Sonntag beiwohnen durfte. In meinen jungen Jahren lief ich den Marathon unter 3 Stunden, die 10 Kilometer in 36 Minuten, den Halbmarathon in 1 Stunden und 17 Minuten und dann durfte ich sogar beim Ironman auf Hawaii starten (und ins Ziel kommen). Ich war immer „on fire“… Habe ich eine Startnummer getragen, dann galt immer und grundsätzlich „all in“. Die Jagd nach Bestzeiten trieb mich an. Der Anreiz für meine Leistungsmotivation war der Sieg – wenn nicht insgesamt, dann gegen mich selbst. Ob das immer gut war, sei mal dahingestellt, aber es hat mich geprägt und eine „Grundhaltung“ in mir entwickelt, die mein sportliches Handeln bis heute beeinflusst, obwohl ich heute unter anderen Vorzeichen unterwegs bin. Ich bin mittlerweile alt – 59 Jahre alt und im Februar dann schon 60. Der sportliche Leistungsabfall traf mich so richtig heftig vor etwa fünf Jahren. Trotz regelmäßigen Trainings wurde ich im Wettkampf immer langsamer. Ich erinnere mich noch intensiv an meinen ersten 10-Kilometer-Lauf, den ich nicht mehr unter 50 Minuten finishen konnte und in mir „zerbrach etwas“. In diesem Tempo habe ich im Alter von 25 Jahren eine lockere Laufeinheit hingelegt, ohne dass mich das irgendwie gefordert hätte. Möglicherweise war das dann auch der entscheidende Punkt hin zum Täglichlaufen, ohne Zeit-Limits oder Optimierungsgedanken. Einfach laufen gehen – so oft ich will, wann ich will, so schnell oder langsam ich will – just do it. 

Täglichlaufen und Laufen mit einer Startnummer (also „so schnell wie möglich“, um ein bestmögliches Ergebnis abzuliefern) schließt sich aus. Für eine schnelle Zeit in einem Wettkampf braucht es Erholungs- und Ruhetage und eine geplante und systematische Vorbereitung. So etwas gibt es beim täglichen Laufen nicht wirklich. Und dann kam die Pandemie und es gab ohnehin keine Wettkämpfe mehr und alles war gut. Ja, ich war bei einigen Trail-Läufen dabei, die mehr oder weniger gut liefen, aber hier gibt es ja ohnehin keine wirkliche inter-individuelle Vergleichsnorm. Das ist eben nicht vergleichbar mit einem Marathonlauf in der Stadt.

Was eine Startnummer ausmacht

Für dieses Jahr war es für mich wieder möglich, mich zum Berlin-Marathon anzumelden. Ich bin im Jubilee-Club, d.h. ich kann schon 10 oder mehr Teilnahmen an diesem Event nachweisen und das bedeutet, dass ich nicht mehr durch die Lotterie muss. Einfach anmelden, 150 Euro zahlen und du bist dabei – du bekommst eine Startnummer. Eine STRARTNUMMER! Und was hat das mit mir und meiner Psyche gemacht? Meine sonstige Gelassenheit verschwand und meine täglichen Läufe wurden schneller. Mein Lauf-Umfang stieg auf ca. 70 bis 80 Kilometer pro Woche und da waren dann auch mal wieder ein paar schnellere Läufe dabei. Meine Form verbesserte sich – meine Stimmung sank. 

Und dann kam der 25. September und ich stand in meinem Startblock mit dem Blick auf den Videobildschirm und der Siegessäule in etwa einem Kilometer Entfernung und meiner Hand an der Startnummer und als unser Block dann dran war mit dem Start ging es los und ich rannte los, als ging es um mein Leben. Der Blick auf die Uhr bei Kilometer 1 – deutlich unter 6 Minuten. Das war natürlich viel zu schnell – und der Schalter war komplett umgelegt – vor meinem inneren Auge lief der „junge Oliver“, der den Marathon so zwischen 3 und 4 Stunden lief – Unter 4 Stunden eigentlich grundsätzlich – mit der ohne zielgerichteten Training – alles andere wäre eine persönliche Schande für mich gewesen. 10 Kilometer in 56 Minuten, selbst beim Halbmarathon war ich noch auf unter 4-Stunden unterwegs. 

Mentales Rüstzeug

Und dann passierte natürlich das, was passieren musste – das „Alter“ schlug zu. Meine Herzfrequenz lag mit 164 am Maximum dessen, was ich aktuell noch erreichen kann (Mit 25 Jahren konnte ich 180er Puls locker über 2 Stunden halten) und das zog mir dann bei Km 25 komplett den Stecker. Ich brach auf einen Kilometer-Schnitt von 7:30 bis 8:30 ein und „schleppte mich so dahin“. In Läuferkreisen kennt man die alte Weisheit: „Hinten kackt die Ente“. Und für uns Alten gilt das glaube ich noch mehr, als für die Jungen. Hätte ich nicht eine Lauferfahrung von 36 Jahren und mehr als hundert Marathonläufe und würde ich nicht über das nötige mentale Rüstzeug verfügen, wäre ich bei Km 25 sicher ausgestiegen. Aber ich lief weiter, legte auch mal kurze Wandereinheiten ein und lief dann wieder. Die erwartbaren körperlichen Schmerzen waren natürlich schon da, meine Herzfrequenz hielt ich sicher im Auge zwischen 140 und 147. Das war dann machbar. 

Prof. Dr. Oliver Stoll beim Berlin Marathon 2022 (Foto: privat)

Die psychischen Schmerzen waren aber um so größer, denn es ging ja jetzt nur noch ums Ankommen, was sich jedoch für mich wie eine schwere Niederlage anfühlte. Und Niederlagen sind Gift für die Leistungsmotivation. Man kann Niederlagen leistungsmotivational nur dann abpuffern, wenn es  gelingt eine Ursache für die Niederlage zu finden, die variabel ist – und eben nicht stabil.  Aber was waren ab Kilometer 25 meine Gedanken? „Du kannst es nicht (mehr)“? So etwas nennt man eine stabile Ursachenzuschreibung – nein – nicht gut! Und der innere Dialog bewegte sich in eine immer destruktivere Richtung. Die gedanklichen Ursachenzuschreibungen für die Niederlage wurden immer stabiler und ich spürte wie ich immer mehr mentale Energie verlor. Es dauerte sicher mehr als eine Stunde (und 8 Kilometer) bis es mir gelang an meiner eingangs erwähnten „Grundhaltung“ zu kratzen, die mich so lange und so intensiv geprägt hat. Das Bild des „jungen und schnellen“ Oliver begann vor meinem inneren Auge zu verblassen. Intensiver wurde die Bilder des entspannten Laufens in der Natur mit meiner Frau oder mit meinen Studenten im Harz. Und mit jedem Kilometer, der mich dem Ziel näher brachte, kam auch die Laufmotivation wieder zurück – nur jetzt „unter anderen Vorzeichen“. Für mich ging es plötzlich nicht mehr darum, eine Leistung erbringen zu müssen, sondern nur noch um das Genießen des sich Bewegens inmitten einer Horde von „Party-Läuferinnen und Läufern“, die sich und das Leben auf den Straßen Berlins feierten. Das war purer Spaß am Laufen. Längst lag ich in der Laufgruppe, die so zwischen 4:40 und 4:50 im Ziel ankommen könnte, aber das interessierte hier wirklich niemanden. Und so führte ich noch das eine oder andere nette Gespräch unterwegs – traf den einen oder anderen Bekannten am Rande der Straße und unterhielt mich mit ihnen und genoss schließlich das Durchlaufen des Brandenburger Tors mit den anschließenden verbleibenden 300 Metern. „Ich kann es nicht (mehr)“. Ja, vielleicht kann ich es nicht mehr schnell, aber ich kann es noch. Und ich kann es noch immer genießen. Vielleicht sollte das in Zukunft mein Motto für mein verbleibendes Läufer-Leben sein.   

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