Dr. René Paasch: Torschusstraining im Fußball

Angeblich fragte Neven Subotic von Borussia Dortmund im Sommer 2015 seinen damals neuen Trainer Thomas Tuchel, ob das wirklich zum Fußball gehöre? Gemeint waren Trainingsmethoden, die auf das Differenzielle Lernen zurückgehen und im Ergebnis vieles über Bord werfen, woran sich hochrangige Profi-Fußballer gewöhnt haben. Tuchels Expertise, der im angeführten Zeit-Online-Artikel zum “Gehirntrainer” ernannt wurde, geht auf die Zusammenarbeit mit einem Mainzer Wissenschaftler zurück, der die Trainingsarbeit verändert hat und verändern wird.

Zum Thema: Differenzielles Lernen für eine verbesserte Schussqualität

Das differenzielle Lernen wurde in Deutschland von Wolfgang Schöllhorn (1999) geprägt. Anfangs stark kritisiert und teilweise noch heute als Hirngespinst abgetan (Künzel, Hosner, 2012) gab es im Laufe der Jahre in zahlreichen Sportarten positive Nachweise über die Wirksamkeit dieses Ansatzes.

„Übe nie das Richtige, um das Richtige zu tun.“

Wolfgang Schöllhorn

Japanische Wissenschaftler konnten in einer interessanten Studie, die Strukturierung der Gehirne von Top-Athleten (u.a. von Neymar) untersuchen, wobei ein Zusammenhang zwischen motorischen Fertigkeiten und dem Lernen durch Differenzen hergestellt wurde (Naito, Hirose 2014). Die Geschwindigkeit der Aneignung von Wissen wird mittels dieser Methode wesentlich schneller erreicht als mit klassischen Ansätzen. Zur Verbesserung der Technik gibt es zwei Lehrmethoden. Auf der einen Seite steht das Modell des motorischen Wiederholens – das „Einschleifen“. Dabei geht es darum, ein bestimmtes technisches Bewegungsideal ohne Fehler zu trainieren. Durch stetige Wiederholungen wird in der Idealvorstellung dieser Lehrmethode die bestmögliche Ausführung eingeschliffen. Auf der anderen Seite steht das Lernen mittels Variationen und Differenzen. Beim differenziellen Lernansatz kommt es zu einer Neubewertung jener Bewegungsfehler (Schwankungen), die beim Einschleifen vermieden werden sollen. Diese werden sogar bewusst in den Trainingsprozess integriert (Schöllhorn 1999).

Die Grundideen des differenziellen Lernansatzes

Der differenzielle Lernansatz folgt dabei zwei Grundideen: Bewegungen unterliegen ständigen Schwankungen und können nicht (exakt) wiederholt werden. Darüber hinaus sind Bewegungen personenspezifisch, was bedeutet, dass sich niemand auf die gleiche Weise bewegt wie ein anderer Mensch (Schöllhorn 1999, S. 9). Bei traditionellen Lehrmethoden wird hingegen eine schrittweise Annäherung an ein vorgegebenes Ziel durch entsprechend hohe Wiederholungszahlen mit ständigem Soll-Ist-Vergleich angestrebt. Dabei soll die Abweichung vom Ideal nach und nach verringert werden, bis die Zieltechnik erreicht ist.

Diese angestrebte Zieltechnik muss jedoch im Fußball in Bezug auf die ständig wechselnden Anforderungen von Raum-, Gegner- und Zeitdruck, sowie äußerer Umstände (Bsp.: Wetter, Platzverhältnisse) angepasst werden und lässt ferner die individuelle Motorik außer Acht, sodass die Anwendung der reinen Zieltechnik nur selten oder gar nie stattfindet. Insofern kann das Einschleifen den komplexen Anforderungen des Fußballspiels mit all seinen ganzheitlichen und synergetischen Effekten unmöglich gerecht werden.

Praktische Anwendung

Um sich die differenzielle Lehrmethode im Trainingsalltag für eine verbesserte Schussqualität anzueignen, können Schwankungen in spezielle Situationen integriert oder in freien Spielformen gezielt provoziert werden. Aber auch äußere Umstände (Platz- und Ballqualität) können ursächlich für Schwankungen sein. In Passübungen ohne Gegnerdruck können sichtbehindernde Hilfsmittel (Augenklappe) genutzt werden. Die gemäß einer Leittechnik optimale Körperhaltung bei Torschüssen erfolgt so, dass das Standbein etwa 2-3 Fußbreiten seitlich vom Ball entfernt steht, während der Oberkörper leicht über den Ball geneigt wird. Der dem Schussbein gegenüberliegende Arm wird seitlich vom Körper weg gestreckt und beim Schuss nach innen durchgeschwungen; der andere Arm wird leicht nach hinten geschwungen. Da die differenzielle Lehrmethode ein solches Leitbild mit Allgemeingültigkeit ablehnt, können hier Schwankungen integriert werden, um technische Fortschritte zu erlangen. Für mögliche Übungsformen zum Torschuss werden sechs Kategorien zur Erzeugung von Schwankungen erfasst (Hegen, Schöllhorn 2012).

1. Anlauf: Sidesteps, Anfersen, Kniehebelauf, Hopserlauf, Zick-Zack, Schlusssprung (mit Koordinations-/Konditionsformen verbinden).
2. Situation: Ball ruht, Ball rollt oder springt (von vorne entgegen, von der Seite herein), Ball wird gedribbelt; Gegnerdruck (Gegner läuft von der Seite ein, greift frontal an).
3. Standbein: Vor oder hinter dem Ball, Fußspitze zeigt nach innen oder außen, auf Ballen oder Ferse stehen.
4. Oberkörper: Armhaltung (nach oben, unten, vorne, hinten, zur Seite gestreckt; kreisend; Kombination), Kopfhaltung (zur Seite geneigt), Oberkörperlage (bei hohen Schüssen Oberkörper nach vorne beugen & umgekehrt).
5. Schussbein: Ausholbewegung nach hinten außen, gestrecktes Kniegelenk, nach Schuss sofort abstoppen, nur zur Hälfte ausholen.
6. Zusatz: Ein Auge schließen, Blinzeln, Trefferzone am Tor vorgeben.

Abb. 1.: Sechs Kategorien zur Erzeugung von Schwankungen nach Hegen und Schöllhorn (2012).

Die Vorgaben sollen nicht wiederholt werden. Auch die Qualität des Spielfeldbelages (Halle, Natur- oder Kunstrasen) und/oder die Größe und Qualität der Bälle können verändert werden. Unterschiedliche Qualitäten von Bällen und Spielfeldern wirken sich auf die Differenzierungsfähigkeit und damit direkt auf das allgemeine Ballgefühl aus. Schwankungen können zudem vor allem in Spielformen erzeugt werden. In solchen herrscht stets Gegnerdruck, der dafür sorgt, dass die theoretische Idealtechnik praktisch nicht umgesetzt werden kann. Es werden also spielnahe Schwankungen erzeugt, die zu einer entsprechend spielnahen Technik führen. Die Begrenzung der Spielfeldgröße kann verändert werden und beeinflusst auf diese Weise die Spielintensität. So kann etwa der Ball in kleinen bzw. engen Feldern schneller unter Druck gesetzt werden. Das hat Auswirkungen auf die Beweglichkeit und Koordination für Zweikampfaktionen zur Folge. Zu diesen beeinflussenden Faktoren gesellt sich eine automatische, bewusste und unbewusste Auseinandersetzung mit den taktischen Gegebenheiten des Spiels. Dadurch findet eine Förderung von Technik und Taktik statt. Taktische Erfahrungswerte werden auf diese Weise mittrainiert.

Fazit

Festzuhalten ist, dass jede Situation im Laufe eines Fußballspiels komplexe Anforderungen an Spieler/innen stellt, die im Training zu berücksichtigen sind. Es ist sehr wichtig, immer wieder neue Differenzen zu erzeugen und Schwankungen zu provozieren. Solange dies gelingt, sind Verbesserungen möglich.

Literatur

  1. Beck, Frieder (2008): Sportmotorik und Gehirn – Differenzielles Lernen aus der Perspektive interner Informationsverarbeitungsvorgänge; Sportwissenschaft, 38, 4; S. 423-450
  2. Hegen, P. , Schöllhorn, W. (2012): Lernen an Unterschieden und nicht durch Wiederholung – Über ‚Umwege’ schneller zur besseren Technik: Differenzielles Lernen im Fußball; Fussballtraining, (2012) 03; S. 30-37
  3. Naito, E. , Hirose, S. (2014): Efficient foot motor control by Neymar’s brain; Frontiers in Human Neuroscience, 8
  4. Schöllhorn, W. (1999): Individualität – ein vernachlässigter Parameter?; Leistungssport, 29, 2; S. 5-12.
  5. Schöllhorn, W., Sechelmann, M., Trockel, M., Westers, R. (2004): Nie das Richtige trainieren, um richtig zu spielen; Leistungssport, 34, 5; S. 13-17
  6. Schöllhorn, W. (2005): Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung – Durch veränderte Annahmen zu neuen Konsequenzen; Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft; Band 144; S. 125-135
  7. Wewetzer, K. J. (2008): Motorisches Lernen in der Sportart Golf – Eine empirische Studie mit Anfängern; Kiel; 2008

Internet

http://www.zeit.de/sport/2015-07/thomas-tuchel-borussia-dortmund-trainer-methode

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Prof. Dr. René Paasch
Prof. Dr. René Paaschhttp://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Sportarten: Fußball, Segeln, Schwimmen, Handball, Volleyball, Hockey, Eishockey, Tennis

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1 Kommentar

  1. […] Aus Sicht der Psychologie werden Fehler als „eine Abweichung von einem als richtig angesehenen Verhalten oder von einem gewünschten Handlungsziel, das der Handelnde eigentlich hätte ausführen bzw. erreichen können“ betrachtet. Jetzt kommt die interessante Aussage! Ab sofort dürfen Sie beim Sport Fehler machen. Nein, Sie dürfen nicht nur, Sie müssen es sogar, denn: Ständig variierende und vom Idealbild abweichende Bewegungen sind der Schlüssel zu schnellen Fortschritten auf dem Weg zu einem effektiven Training (Hegen, Schöllhorn, 2012). Näheres dazu gerne über den Link: http://www.die-sportpsychologen.de/2017/05/23/dr-rene-paasch-torschusstraining-im-fussball/. […]

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