Dr. René Paasch: Sportpsychologie für Amateure?

Seit vielen Jahren ist die angewandte Sportpsychologie ein wichtiger Bestandteil vieler Sportarten wie bspw. in der Fußballtrainer-Ausbildung in Deutschland. Aber erst seit dem Projekt „DFB-Talentförderung“ im Jahre 2002 findet die regelmäßige Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Andere Sportarten nutzen diese nachhaltige Möglichkeit schon deutlich länger, in manchen Disziplinen ist eine sportpsychologische Betreuung immer noch Neuland. Dabei kann die Sportpsychologie über Sportartengrenzen hinweg und auf ganz unterschiedlichen Leistungsstufen effektiv ein gesetzt werden.

Zum Thema: Sportpsychologische Praxis – Mit welchen Fragestellungen kommen unsere Interessenten auf uns zu?

Ich möchte Ihnen einerseits etwas über die die Grundlagen einer psychologischen Betreuung im Leistungs-, Breiten-, Nachwuchssport näher bringen. Andererseits aber auch die Besonderheiten meiner betreuten Athleten und deren disziplinspezifischer Maßnahmen. Dazu möchte ich zur Diskussion stellen, ob sich die Fragestellungen eines Fußballprofis grundlegend von denen eines Kreisligaspielers unterscheiden?

Bleiben wir doch gleich bei dieser Frage: Zugegeben, es ist ein anderes Umfeld jedoch bei allen Unterschieden, sind die psychischen Mechanismen für alle Ligen in gleicher Weise wichtig und veränderbar. Die bittere Niederlage der DFB-Elf gegen Frankreich bei der Europameisterschaft und der damit verspielte Einzug ins Finale, sind vermutlich noch den meisten deutschen Fans im Gedächtnis oder auch die olympischen Spiele 2016, mit allen Höhen und Tiefen. Aber dass sich am Wochenende in der Bezirksliga 9 Westfalen Spielort Gelsenkirchen oder LVN Meisterschaften in der Leichtathletik vergleichbare Dramen abspielten, wer weiß das schon? Grundlegend versuche ich immer, egal auf welchem sportlichen Niveau, dass sportpsychologische Training in eine Struktur zu pressen und dabei die Individualität zu berücksichtigen. Im Modell der systematischen Intervention, werden drei grundlegende Ebenen nach Beckmann und Elbe (2011) unterschieden:

  • Grundlagentraining: Atemübungen, progressive Muskelentspannung, autogenes Training Teambildende Maßnahmen
  • Fertigkeitstraining: Zielsetzung, Selbstgesprächsregulation, Entwicklung des Bewegungsgefühls, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Aufmerksamkeits- und Vorstellungsregulation
  • Krisenintervention: Rehabilitation nach Verletzungen, Misserfolgsverarbeitung, Psychotherapie, Karriereende und Konflikte in der Mannschaft

Siehe dazu auch:

Dr. René Paasch: Mentaltrainer oder Sportpsychologe?

 

http://die-sportpsychologen.ch/2016/07/18/dr-hanspeter-gubelmann-wer-soll-es-sein-mentaltrainer-oder-sportpsychologe/

Amateursport öffnet sich der Sportpsychologie

In den vergangenen Jahren sind erfreulicherweise vielfältige sportpsychologische Betreuungs- und Beratungsmaßnahmen verstärkt auch für den Amateursport zu erkennen. Diese Ausweitung ist aus meiner Sicht sehr wichtig, denn der Amateursport bereichert stetig den Leistungssport mit hervorragenden Talenten.

Versuchen wir es mit einem Beispiel: Paul (15) ist Boxer. Seit einiger Zeit hat er, wie er selbst sagt, einen „Tick“. Dieser besteht darin, dass er Probleme bei Schlägen auf die Stirn (Präfontaler Cortex) bekommt, seine Deckung vernachlässigt  und somit die Konzentration verliert. Dies kann sehr gefährlich werden, da die Gefahr einer Kopfverletzung erheblich zunimmt aber auch die Anzahl der verlorenen Kämpfe. Der Trainer beschreibt dieses Verhalten als „destruktive Gedanken“. Was ist nun aus sportpsychologischer Situation zu tun?

Sportpsychologische Praxis mit Paul, dem „Boxer“:

Mit Paul wird zunächst eine Eingangsdiagnostik durchgeführt. Diese besteht aus Gesprächen, Beobachtungen und sportartspezifischen Fragebögen (Stärken-Schwächen-Profil):

  •         HOSP (Handlungs- und vs. Lageorientierung im Sport von Beckmann und Wenhold, 2008)
  •         VKS (Volitional Komponente im Sport von Wenhold, Elbe und Beckmann, 2009)
  •         AMS-Sport (Achievement Motive Scale von Elbe, Wenhold und Müller, 2005)
  •         EBF (Erholungs-Belastungsfragebogen von Kellmann und Kallus, 2000)
  •         Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (SWE)

Die Ergebnisse des HOSP zeigen, dass Paul lageorientiert ist, d.h. er beschäftigt sich eher mit Zuschauern und der Presse oder mit seinen kreisenden und grübelnden Gedanken. Dass er nur sehr schwer Entscheidungen treffen kann und sich ablenken lässt. Die Auswertung der VKS zeigt, dass Erwartungen anderer für ihn sehr wichtig sind. Des Weiteren ist die Skala „Hoffnung auf Erfolg“ des AMS-Sport bei ihm nur sehr schwach ausgeprägt. Der EBF weist eine ausgewogene Erholung-Belastung auf. Jedoch ergab die Auswertung der allgemeinen Selbstwirksamkeit nähere Zusammenhänge zum dispositionalen Optimismus und Ängstlichkeit. Im Erstgespräch stellte sich heraus, dass er schlechte innere Gespräche führt und dass er Angst vor Schlägen auf die Stirn hat.

Strategien für Paul, dem Boxer?

Paul bekommt Methoden an die Hand, um die kreisenden Gedanken zu unterbrechen. Die Schulung auf sich selbst und das Erlernen funktionaler Selbstgespräche. Es wird am Aufbau der Erfolgszuversicht gearbeitet sowie an seinem Selbstvertrauen „Kompetenzerwartung“. Zusätzlich werden Entspannungsverfahren zur Angst- und Stressreduktion eingesetzt.

Wichtige Grundsätze in meiner Arbeit:

  • Der Sportler wird als Experte für seine Situation angesehen. Er trägt die Lösung in sich, jedoch kann er im Moment nicht darauf zurückgreifen
  • Das Vorgehen ist so individuell wie der Athlet und Trainer selber und ist stets offen in der Ergebnis- und Prozessarbeit
  • Erleben und Verhalten des Athleten und Trainer werden herausgearbeitet, eine Zielbestimmung angestrebt und die Kommunikationsprozesse verbessert. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem „Wie“ (Fachberatung) & „Was“ (systemische Herangehensweise) der sportpsychologischen Beratung.

Ein Betreuungsmodell für den Nachwuchsbreiten- und Leistungssport Fußball

Sanchez ist 11 Jahre alt, geht in die 5. Klasse, hat 6 Geschwister und betreibt Fußball als Breitensport und soll demnächst in den Leistungssport wechseln. In seiner Altersklasse gilt er als ein großes Talent. Doch er spielt neben Fußball noch Tischtennis und geht sehr gern zum Leichtathletik. Hat zum Vereinstraining noch Athletiktraining und fast jedes Wochenende Punktspiele. Wie sieht in einem solchen Fall eine nachhaltige Betreuung aus und wie könnten seine Teamkameraden davon profitieren?

In der Sportpsychologie werden bereits verstärkt altersgerechte sportpsychologische Konzepte entwickelt, die neben den Maßnahmen für den Nachwuchs für Trainer und Eltern beinhalten (Kuchenbecker, 2000). Die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen oder wie im Fall von Sanchez (11) stehen im Mittelpunkt. Diese sollten systematisch, entwicklungs- und altersgerecht gestaltet sein. Somit ist ein systemisches Betreuungsmodell vorzubereiten:

Schule: Lehrer/Pädagoge oder weitere Bezugspersonen im Kontext

Sport: Trainer, Funktionsteam und Sportpsychologe, vielleicht ehemalige Trainer miteinbeziehen

Dabei sollte auch auf die Betreuung der Eltern und die Integration der Familie einbezogen werden, so dass die Betreuung der Kinder und Jugendlichen ganzheitlich und entwicklungsgerecht stattfinden kann.   

Die sportpsychologische Praxis

Die Säule „Kinder und Jugendliche“ beinhaltet sowohl das Grundlagen- und Fertigkeitstraining, Krisenintervention und die dauerhafte Dokumentation. Des Weiteren wäre eine kontinuierliche Laufbahnberatung zu empfehlen, um weitere Ressourcen für eine stabile Entwicklung zu öffnen. Der Baustein „Unterstützungshilfen für die Eltern“ beinhaltet Fertigkeitstraining sowie der Umgang mit Konflikten. Zusätzlich sollten regelmäßig Fachvorträge für die Eltern angeboten werden. Der gesamte sportpsychologische Entwicklungsprozess sollte durch ein regelmäßiges Monitoring der Erholung und Belastung (bspw. EBF, Kellmann und Kallus, 2000) der Heranwachsenden begleitet werden. Schlussendlich sollte die sportpsychologische Unterstützung im Breiten- und Nachwuchsleistungssport dazu dienen, die Athleten in allen Entwicklungsphasen altersgerecht zu unterstützen und zu fördern.

Sie sehen also, psychische Faktoren sind überall wichtig. Was für Profis gilt, gilt auch für Amateure. Mannschaften funktionieren immer auf ähnliche Weise. Trainer führen ihre Mannschaften oft mit den gleichen Methoden und machen somit altbekannte Fehler. Die Trainer und Spieler, welche ich bisher erleben durfte, besaßen alle individuelle Schwächen und Stärken. Es geht also nicht darum, Dinge von heute an zu verändern. Vielmehr brauchen wir alle Zeit. Demzufolge umfassen angelegte sportpsychologische Betreuungsmaßnahmen einen Präventions-, einen Trainings- und einen Interventionsaspekt, der in jeder Sportart ob als Profi oder Amateur und in jedem Alter von Nutzen sein können.

 

Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts “Rio 2016 und was nun?” – alle weiteren Texte finden Sie hier:

Rio 2016 und was nun?

 

 

Literatur

Beckmann, J. und Elbe, A.-M. (2011): Praxis der Sportpsychologie im Wettkampf- und Leistungssport. Balingen: Spitta Verlag

Kuchenbecker, S. Y. (2000): Raising winners: a parent´s guide to helping kids succeed on and off the playing field.

Linz, L (2014): Erfolgreiches Teamcoaching: Ein Team I Ziele definieren I Konflikte lösen. Aachen: Meyer & Meyer Verlag

 

 

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Prof. Dr. René Paasch
Prof. Dr. René Paaschhttp://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Sportarten: Fußball, Segeln, Schwimmen, Handball, Volleyball, Hockey, Eishockey, Tennis

Gelsenkirchen, Deutschland

+49 (0)177 465 84 19

E-Mail-Anfrage an r.paasch@die-sportpsychologen.de

2 Kommentare

  1. […] Im Zentrum steht dabei der Sportler selbst. Bereits auf der individuellen Ebene gibt es eine Vielzahl von Themen (Selbstmanagement, innere Haltung, Motivation, Glaubenssätze), Anliegen (Umgang mit aktuellen Situationen und das Lösen von Stolpersteinen). Dazu kommt die Vermittlungen von hilfreichen Werkzeugen wie z.B. mentale Techniken, bei denen wir Sportpsychologen ansetzen und weiter bringen können. Dabei bedienen wir uns wissenschaftlich-fundierter Diagnostik und Methoden, die mit praktischer Berufserfahrung und individueller Anpassung der Herangehensweise auf den einzelnen Sportler abgerundet wird. Dabei wird das komplette System, in dem sich der Sportler befindet, mit einbezogen. In der Praxis fließen so, neben dem direkten sportlichen Bereich, auch das private und berufliche Umfeld mit ein (z.B. Balance zwischen Beruf und Karriere, Beziehung und Familie oder auch mal Heimweh). Konkrete Einblicke einzelne Fallbeispiele zeigt mein Kollege Dr. René Paasch in seinem Beitrag auf (Verlinkung). […]

  2. Hallo Herr Dr. René Paasch,

    gerade für den Amateurbereich ist dieses Thema sehr wichtig, wo nach meiner Meinung die Sportpsychologie / Mentaltraining noch nicht angekommen ist. z.Bs. im Tischtennissport, wo nicht mal ein Üungsleiter geschweige ein Trainer vorhanden ist.
    Gerade im Tischtennissport wäre die Sportpsychologie ein wichtiges Thema, weil der Kopf bis zu 80% über Sieg oder Niederlage entscheidet.
    Da spielen sich an den Wochenende große tragödien ab.

    Schade für die Amateursportler, die zigmal in der Woche trainieren, aber beim Wettkampf nicht die Leistung abrufen können.

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