Prof. Dr. Oliver Stoll: Bedarfsfremd oder falsch?

Dieser Blog-Beitrag entstammt mal wieder aus einer einstündigen Lauf-Trainingseinheit, auf der ich bei schönstem Wetter, herrlich reflektieren (und laufen) konnte. Und nun will ich aber mit euch diskutieren – aber dazu am Ende des Textes mehr.

Zum Thema: Wissenschaft – Lehrbücher – Ratgeberbücher – Sportpsychologische Beratung

Ich bin ja nun schon seit 30 Jahren „im Geschäft“ und ich habe schon viel erlebt! Ich habe wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften publiziert. Ich habe Lehrbücher für Studentinnen und Studenten geschrieben. Ich habe Ratgeberbücher veröffentlicht und ich berate und betreue Athletinnen und Athleten in ihrer sportlichen und persönlichen Entwicklung. Die Frage, die ich mir heute gestellt habe ist, was denn davon am meisten „Wirkung“ erzielt?

Mir ist natürlich klar, dass man diese Frage nicht pauschal beantworten kann. Es kommt eben immer darauf an, eine Passung zwischen der Anforderung (also der aktuell angefragten Situation) und den Möglichkeiten (also den individuellen Bedürfnissen der Personen) herzustellen. Auch hier könnte man „per se“ meinen, dass dies nur und ausschließlich über eine individuelle Beratung und Betreuung von Individuen gehen kann. Das würde ich so aber nicht unbedingt unterschreiben. Manche Athletinnen und Athleten scheuen den Kontakt zu einem Sportpsychologen, weil sie sich unsicher sind, was auf sie zukommt, wenn sie einem solchen Experten kontaktieren. Ich denke, wir müssen, nach wie vor, auch hier immer noch für viel Information und Transparenz sorgen.

Literatur als Impuls, aber nicht mehr?

Manchmal reicht ja auch hier einfach nur ein „neuer Impuls“, den sich ein Athlet leicht über ein gutes „Ratgeberbuch“ holen kann. Solche Ratgeberbücher sind jedoch oft sehr „allgemein“ gehalten. Manchmal „gaukeln“ sie eine mögliche Lösung vor, die aber in Wirklichkeit, dann doch keine ist. Individuelle Lösungen sind eben individuell – und dafür ist eben auch der „Preis“ ein höherer als für ein Ratgeberbuch.

Kommen wir zu der Frage der Bedeutung von Wissenschaft und Lehrbüchern. Wissenschaft versucht (neue) wissenschaftliche Fragen durch empirische Studien zu lösen (zumindest gilt dies für mich als ein empirisch-analytisch arbeitender Wissenschaftler). Lehrbücher versuchen dieses, in Einzelstudien ermittelte Wissen und den bislang vorliegenden theoretischen Grundlagen zu reflektieren und dann für Studierende so zusammenzufassen, dass daraus ein „Bildungs-Mehrwert“ entsteht. Ich denke, dass dies in unserem Feld der Sportpsychologie auch ganz gut funktioniert.

Falsche Fragen und Wissen vorbei am Bedarf?

Was aber bleibt – aus meiner Sicht – ist eine Lücke zwischen Wissenschaft/Lehrbüchern und Ratgeberbüchern/Sportpsychologische Beratung. Warum gelingt es den sportpsychologischen Akademikern nicht, den sportlichen Praktikern ihre Erkenntnisse zu vermitteln? Und warum gelingt es den Praktikern im Sport nicht, den sportpsychologischen Forscherinnen und Forschern die richtigen Fragen zu stellen? Natürlich habe ich darüber nachgedacht und einige Gedanken entwickelt. Mich interessieren aber Eure Gedanken zu dem hier angerissenen Problemfeld. Ich würde mich freuen, wenn wir eine anregende Diskussion hierzu entwickeln können.

Visits: 135

Print Friendly, PDF & Email
Prof. Dr. Oliver Stoll
Prof. Dr. Oliver Stollhttp://www.die-sportpsychologen.de/oliver-stoll/

Sportarten: Eishockey, Handball, Ultralang- und Langstreckenlauf, Triathlon, Biathlon, Wasserspringen, Boxen, Leichtathletik, Schwimmen, Floorball uvm.

Leipzig, Deutschland

+49 (0)173 4649267

E-Mail-Anfrage an o.stoll@die-sportpsychologen.de

6 Kommentare

  1. Disclaimer: Ich habe zwar studiert, allerdings ursprünglich Informatik und nicht Psychologie, habe mich dann weitergebildet und arbeite als Mentaltrainerin.

    > Warum gelingt es den sportpsychologischen Akademikern nicht, den sportlichen Praktikern ihre Erkenntnisse zu vermitteln?
    Es wirkt auf mich, als hätten “die Akademiker” oft wenig Gefühl dafür, was “die Praktiker” brauchen. Sie kommunizieren aus ihrer Perspektive und wundern sich dann, wenn sie nicht verstanden werden – statt sich in die Perspektive des Empfängers zu begeben und ihre Kommunikation entsprechend anzupassen. Am besten sieht man das an der Sprache, in der z.B. leider auch einige Beiträge auf die-sportpsychologen (v.a. die Schweizer Version) gehalten sind. Da wird zitiert, dass einem das Wissenschaftlerherz erblüht, aber jetzt mal unter uns: Sowas will kein normaler Mensch lesen, es stört einfach den Lesefluss. Akademiker sind es sich gewohnt, Texte für andere Akademiker zu schreiben und erhalten ihr Feedback von anderen Akademikern. Als Praktiker sieht man so einen Text und fühlt sich nicht angesprochen – und auch wenig verstanden.

    > Und warum gelingt es den Praktikern im Sport nicht, den sportpsychologischen Forscherinnen und Forschern die richtigen Fragen zu stellen?
    Müssen sie das denn? Welchen Anreiz haben sie denn, das zu tun? Und falls sie einen hätten – warum nehmen sie den nicht wahr? Oder wäre es doch die Aufgabe der Forscher, das Objekt ihrer Forschung selber verstehen zu wollen?

    • Hallo Frau Brettscher. Danke für Ihren Kommentar. Ihren Punkt mit der spezifischen “Sprache” unterschreibe ich sofort. Da haben Sie völlig Recht. Die Sprache ist das zentrale Kommunikations-Werkzeug. Wenn dies nicht funktioniert, haben wir einen “Bruch” im Verstehen und Austauschen. Ich würde das aber durchaus auch etwas differenzierter sehen. Es gibt durchaus akademisch arbeitende Kolleginnen und Kollegen, die auch selbst sportlich aktiv sind oder in ihrer Betreuungsarbeit ganz nah dran sind am Athleten. Für diese Kollegen sehe ich das nicht. Die Mehrheit der akademischen arbeitenden Kollegen, und da gebe ich Ihnen Recht sind Wissenschaftler.

      Tja, und müssen die Praktiker die richtigen Fragen stellen? Ich finde schon. Denn wenn Sie erfolgreich sein, wollen, und sich weiterentwickeln wollen, dann wäre das eine Möglichkeit. Der in der Praxis arbeitende Kollege ist eben verdammt nach dran am Athleten und kann eventuell sehr schnell selbst erkennen, wo wir noch Wissensdefizite haben und gleichzeitig haben sie aber selbst nicht die Zeit, Forschung zu betreiben. Ein Beispiel: Warum sollte ich ein Stress-Impfungstraining mit einem Athleten durchführen, wenn ich gar nicht weiß, ob dies überhaupt wirksam ist? Klingt zwar plausibel, aber von vielen Dingen, die wir als plausible Erklärungen betrachten, wissen wir heute, dass es gar nicht so ist,

      Ich finde auf alle Fälle, dass jeder Forscher Interesse daran haben sollte, das Objekt seiner Forschung verstehen zu wollen. Und als jemand, der die Sportpsychologie ales eine angewandte Wissenschaft versteht – sowieso. Ich kann aber auch keinen meiner Professoren-Kollegen dazu “zwingen” Anwendungsforschung zu betreiben, wenn er einfach mehr an Grundlagenforschung interessiert ist. Das ist ein Dilemma!

  2. Lieber Oliver

    Das ist eine gute und auch eine berechtigte Frage. Aus meiner Sicht, hat diese mehrere Facetten.

    Ich finde die Wissenschaft faszinierend. Manchmal wird es jedoch auf die Spitze getrieben und auch am Ziel vorbeigeschossen.
    Viele wissenschaftliche Ansätze und Arbeiten sind TOP für das Verständnis, warum sich Athleten sich so oder so verhalten. Die praktische Umsetzung ist dann eine andere Geschichte.

    Manchmal wird auch nicht auf die Praktiker gehört, wenn sie Ideen haben, weil es nicht ins Konzept passt oder der Titel fehlt. Ich bin ein Fan von unbwussten Sportmotiven und wollte diesbezüglich gerne eine Studie machen. Dafür bin ich bei Swiss Olympic vorstellig geworden. Die Antwort, wenn du Sportpsychologe wärst, könnte man darüber diskutieren …

    Ein forschender Sportpsychologe beschwerte sich bei einer grossen Schweizer Zeitung, weil ich zu unbewussten Motiven interviewt wurde “Der Artikel sei schlecht recherchiert sonst hätte man auf ihn kommen müssen.” Die Praktiker und Nichtakademiker, wollen nicht immer gehört werden. Nicht alles was interessant und gut ist, kann auch publiziert werden … wenn bestehende Ansätze und Konzepte in Frage gestellt werden. Das hat jedoch nichts mit dem Praktiker/Akademiker zu tun. Da spielen andere Mechanismen.

    Ein Hauptgrund für mich, ist die Differenzierung “Sportpsychologe – Mentaltrainer”. Zweifelsohne hat ein Sportpsychologe ein Studium hinter sich. Ist ein Mentaltrainer der sich regelmässig weiterbildet und Kurse besucht, deshalb der schlechtere Praktiker? Muss man Mitglied von einem Verband sein, damit man Sportler, Eltern und Trainer mental und in ihrer persönlichen Entwicklung weiterbringen kann?

    Ich glaube es braucht von den Praktikern und den Akademikern mehr Offenheit aufeinander zuzugehen – Ich schliesse mich da nicht aus-.

    Die Tonalität hat ganz bestimmt einen Einfluss. Viele Artikel von Wissenschaftern/Sportpsychologen sind so akademisch und theoretisch, dass sie sehr schwer lesbar und verständlich sind. Da stellt sich die Frage: “Wen möchte ich erreichen?” Andere Akademiker, Athleten, Trainer, Eltern? Da bin ich eins mit Frau Bretscher, wenn ich es auch nicht ganz so dramatisch sehe.

    Praktische Ansätze und Fragestellung zu liefern, zu diskutieren, daraus eine Forschungarbeit zu machen und schauen, was sich in der Praxis bewährt, erachte ich durchaus als Aufgabe. Ich hätte eine Idee, von der ich überzeugt bin, dass es eine coole Studie geben kann. Idee und Hypothese, sowie mögliche vorschläge für Interventionen und Studiendesign habe ich schon (nicht akademisch). Was noch fehlt, das Akademische, Geld zur Durchführung und ein Institut/Sportspychologe der das unterstützt. Wenn das steht, sind auch die Athleten an Board.

    Bist du dabei?

    Ich finde übrigens deine Haltung, die von René Paasch, Thorsten Loch, Wencke Schwarz und auch die von Hanspeter Gubelmann (mit einer Einschränkung, denke er weiss welche 😉 ) sehr offen. Also, lass uns etwas bewegen.

    Lieber Gruss

    Martin

    • Danke Martin, für dein Feedback. Sehr interessant und ich stimme Dir in großen Teilen deiner Ausführungen zu. Die Sportpsychologen – Mentaltrainer-Thematik wollte ich ja mit meinem Beitrag explizit gar nicht aufreißen, habe dies aber wohl implizit getan. Gleiches gilt für die Diskussion um Berufsverbände, etc. Das Thema wäre ein Abendfüllednes Programm ;-). Offenheit und Transparenz sind für mich zentrale Werte für meine Arbeit, sowohl in Forschung, aber auch ganz besonders in der Praxis der Sportpsychologie. Und wenn Du eine gute angewandte Foschungsidee hast (meinetwegen auch über implizite Motive, wobei das gar nicht so leicht zu erforschen ist), habe ich auch dafür immer ein offenes Ohr.

  3. Lieber Herr Prof. Dr. Oliver Stoll,

    meines Erachtens entsteht diese Lücke zwischen Elfenbeinturm und Praxis der Sportpsychologie ganz einfach dadurch, dass momentan der überwiegende Teil der Sportpraktiker das Gefühl hat, dass die Erkenntnisse und Modelle der Sportpsychologie noch nicht so weit sind, den Sportler in seiner Ganzheit zu erfassen und abzubilden.

    Herzliche Grüße

    Frieder Beck

    • Hallo Herr Beck. Das ist ein interessanter Gedanke. Ich bin mir da nicht so sicher, wie Sie. Ich persönlich kann schon einige Erkenntnisse der Forschung und auch aus Modellen umsetzen. Interessant finde ich da Ihre Anmerkung “in seiner Ganzheit”. Meinen Sie damit, dass die Forschung den Menschen nicht in seiner “Ganzheit” betrachtet (also z.B. als bio-psycho-soziale Einheit)?

Kommentarfunktion ist geschlossen.