Dr. Hanspeter Gubelmann: Legende Vierschanzentournee

Viele Trainer bezeichnen die Vierschanzentournee schlicht als einen Mythos – ein sportliches Monument im Skispringen, welches in seiner Einzigartigkeit vergleichbar ist mit einer Tour de France im Radsport oder Wimbledon im Tennis. Aus welchem „psychologischen“ Holz muss ein Skispringer geschnitzt sein, um sich nach dem 4. Springen in Bischofshofen in die Siegerliste der Skisprunglegenden eintragen zu lassen?

Zum Thema: Zur Psychologie der Springertournee

Die Vierschanzentournee geniesst insbesondere im Ansehen der Athleten eine Sonderstellung. Selbst wenn Olympische Spiele oder wie Mitte Januar mit den Skiflugweltmeisterschaften ein weiterer Top-Event in derselben Saison stattfindet, bleibt die Ausnahmestellung der „Springertournee“ unangetastet. Auf berkutschi.com, der offiziellen Homepage des internationalen Skisprungsports, finden sich interessante Statistiken und Hintergrundinformationen, die Licht in die Besonderheiten des Events bringen. Auf einen Nenner gebracht heisst das: Von den letzten zehn Austragungen wurden sieben von österreichischen Athleten gewonnen, beim Auftaktspringen in Oberstdorf klassierte sich der spätere Gesamtsieger mindestens im 4. Rang und nur in zwei Fällen – nämlich 2006/2007 mit Anders Jacobsen und 2013/2014 mit Thomas Diethart – standen absolute Rookies in der Endabrechnung ganz vorne. Ansonsten wird die Tournee von Springern dominiert, die zu den erfahrensten und erfolgreichsten ihres Fachs zählen.

Aufgrund der Aufgabenstellung, vier Einzelspringen mit entsprechendem Vorprogramm (Training und Qualifikation) auf vier verschiedenen Sprungschanzen erfolgreich zu absolvieren, wird sofort klar, dass nur ein „kompletter Mehrkämpfer mit ausgeprägter psychischer Robustheit“ diese Veranstaltung dominieren kann. Als Grundlage der dazu notwendigen mentalen „toughness“ sind die aus der nordamerikanischen Sportpsychologie bekannten „skills“ (Fähigkeiten) passend: Confidence (Selbstvertrauen), Concentration (Konzentration), Commitment („Leidenschaft“) und Composure (Gelassenheit). Nur wer an sich glaubt, mit grossen inneren Feuer an die Aufgabe herantritt, sich im entscheidenden Moment voll und ganz auf den Sprung konzentriert und bei all dem Trubel in sich gelassen bleiben kann, wird sich am Ende durchsetzen können!

Der Weg bis nach Bischofshofen ist lang und beschwerlich…

Eine besondere mentale Herausforderung stellt sich durch die Dauer der Veranstaltung und den steten Wechsel von maximaler Beanspruchung in der Wettkampfsituation und anschliessender Deaktivierung. Aktivierungsmessungen im Tagesverlauf bei Skispringern vor, während und nach einem Wettkampfeinsatz (vgl. Kusserow et al., 2011) machen sichtbar, welche Dimension die Gesamtbeanspruchung erreicht. Der Athlet verliert über die insgesamt zehn Tage dauernde (Tor-)Tour nicht nur massiv an körperlicher, sondern auch an psychischer Substanz. Nur wer in körperlicher Bestform, psychisch frisch und in Verbindung mit sehr guter psychophysicher Regenerationsfähigkeit zur Springertournee antritt, kann sich eine Topleistung zum Ziel setzen. Hieraus lässt sich ableiten, in welche Richtung eine erfolgreiche Tourneevorbereitung zielen muss. Ein potentieller Siegesanwärter ist unter jenen Kandidaten zu suchen, der in der aktuellen Gesamtwertung unter den ersten zehn rangiert, beim Weltcup in Engelberg vor Weihnachten mit einem Spitzenresultat zusätzliche Zuversicht getankt hat, sich über die oftmals belastende Weihnachtszeit erholen konnte und schliesslich gesund und mit „geladenen Batterien“ in Oberstdorf antritt.

Es ist aber nicht allein der Wettkampfstress an sich, der dem Athleten zusetzt – es ist vor allem auch die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit in Verbindung mit einer oftmals erfolgshungrigen Medienberichterstattung, die mit der Erfolgszuversicht des einzelnen Athleten konkurrenzieren. Sportpsychologisch betracht ergibt sich aus dem Zusammenspiel von grossem Leistungsvermögen und hohem Leistungsanspruch in Verbindung mit einem positivem Zuspruch des Publikums jener Heimvorteil, der sich in den sieben Gesamtsiegen österreichischer Skispringer seit 2007/08 verdeutlichen lässt. Es wird interessant sein zu beobachten, ob es unseren östlichen Nachbarn auch dieses Jahr gelingen wird, trotz deutlich schlechterer Resultate im bisherigen Saisonverlauf, diesen „Heimvorteil“ ein weiteres Mal zu nutzen. Zudem wird es für alle Athleten von herausragender Bedeutung sein, sich in den wenigen sich bietenden Rückzugsmöglichkeiten und abseits der Sprungschanzen zu regenerieren.

Und: nur wer sich mit genügend und ungestörtem Schlaf von den Strapazen des Wettkampfes erholt, wird seine Bestleistungen erbringen können!

Die fliegerische Leichtigkeit gewinnt…

Früher, vor Einführung des Bodymassindex’ und einem damit verbundenen „Mindestgewicht“, galt die Devise: (körperliche) Leichtigkeit fliegt und gewinnt. Geblieben ist die Überzeugung, dass ein von innerem und äusserem Druck befreites Springen zum Erfolg führt. Darin liegt die Chance eines unbeschwert auftretenden Rookies, wie es 2006/07 der Norweger Anders Jacobsen vormachte. In der Rückblende beschreibt er seinen damaligen Erfolg so: „Es war ein Märchen für mich. Ich bin erst in dieser Saison zum Team gestoßen, habe einen Monat vor der Tournee meinen ersten Weltcup absolviert und bin auf Anhieb Dritter geworden. In Engelberg habe ich mich mit Gregor Schlierenzauer duelliert, bin Erster und Zweiter geworden. Und dann kam die Tournee. Es war alles ganz leicht für mich. Ich war jung, habe mir keine Gedanken gemacht und bin einfach gesprungen. Es hat einfach Spaß gemacht. Es hat mein Leben verändert. Ich bin über Nacht von einem ganz normalen Jungen zum Prominenten in Norwegen geworden.“ (berkutschi.com)

Jacobson schildert eindrücklich diese fliegerische Leichtigkeit, quasi die Selbstverständlichkeit des Skispringens in Verbindung mit der Überzeugung des Athleten, seinen eingespielten und funktionierenden Automatismen „freien Lauf“ geben zu können. Dieses absolute Zutrauen, es auch unter höchster Belastung nicht „erzwingen“ zu müssen, ist ein wesentlicher mentaler Faktor sportlicher Höchstleistung.

Überraschungscoup ausgeschlossen?

Der Ausgang des ersten Springens in Oberstdorf zeigt aber auch, dass noch weitere, auch äussere Einflussfaktoren die sportlichen Leistungen massgeblich mitbestimmen. Durch die sehr wechselhaften Windbedingungen und die dadurch entstandene Zäsur in der Rangliste wird ein Überraschungscoup an der diesjährigen Tournee unwahrscheinlich. Vielmehr scheint ein routinierter Athlet – höchstwahrscheinlich einer der drei Erstplatzierten von Oberstdorf – in Bischofshofen ein weiteres Kapitel im Tourneebuch „lebender Legenden“ zu schreiben.

 

Quellen:

Kusserow, M., Amft, O., Gubelmann, H.-P. & Tröster, G. (2011). Arousal pattern analysis of an Olympic champion in ski jumping. Sports Technology, 3:3, S.192-203.

http://berkutschi.com/de/front/news/7568-mythos-vierschanzentournee

http://berkutschi.com/de/front/news/7572-jacobsen-prevc-gewinnt-die-tournee

 

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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