Dr. Hanspeter Gubelmann: Vom Ende eines Automatismus – wie Simon Ammann nach neuer Perfektion sucht

Skispringer Simon Ammann ist kürzlich in seine mittlerweile 19. Saison im Weltcup gestartet – ein Start mit besonderen Vorzeichen und einem grossen Fragezeichen. Wird es dem vierfachen Olympiasieger gelingen, mit Hilfe einer grundsätzlich veränderten Landetechnik wieder an die Weltspitze zurückzukehren? Aus Sicht der angewandten Sportpsychologie interessiert die Frage, ob und wie er einen über viele Jahre „gereiften“ Automatismus loswerden und diesen durch einen neuen ersetzen kann.

Für die-sportpsychologen.ch berichtet: Dr. Hanspeter Gubelmann

Kurze Rückblende. Am 6. Januar 2015 stürzte Ammann bei der Vierschanzentournee in Bischofshofen schwer und wurde nach kurzer Bewusstlosigkeit mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Es war der schmerzvolle Höhepunkt einer Serie von Unsicherheiten bei der Landung und mehreren Stürzen innerhalb weniger Tage. Erst nach langer Bedenkzeit und reiflicher Überlegung entschied sich der Athlet gegen einen Rücktritt. Ihm dürfte in dieser Zeit klar geworden sein, dass eine Weiterführung seiner Karriere nur dann möglich würde, wenn er dieses Muster löschen und den alten Lande-Automatismus gegen einen neuen, stabileren austauschen könnte. Was auf den ersten Blick nach einem simplen „Beinwechsel“ ausschaut – neu stellt er bei der geforderten Telemark-Landung den rechten Fuss vor den linken – ist in Tat und Wahrheit eine massive Veränderung im gesamten Flugsystem. Entsprechend hoch gewichtet der Athlet die an gestellte Herausforderung und spricht vom „Ritterschlag“, wenn ihm dies in seinem fortgeschrittenen Alter noch gelänge.

Was aber macht dieses Umlernen derart anspruchsvoll? Die Problemstellung lässt sich vereinfacht am folgenden Alltagsbeispiel prototypisch darstellen – nämlich an einem geübten Automobilisten, der nach rund 20 Jahren Fahrpraxis ein erstes Mal in England mit einem links geschalteten Auto unterwegs ist. Grundsätzlich ändert sich wenig an der Fahrpraxis und der Lenker wird sich erstaunlich schnell an den neuen Schaltvorgang gewöhnen können. Spätestens beim erstmaligen Befahren eines Kreisverkehrs in London dürfte ihm bewusst(er) werden, wie „seltsam“ sich diese neue Erfahrung anfühlt, entsprechend unsicher und zurückhaltend wird er sich im Verkehr bewegen.

Jens Weißflog – bislang wohl der erfolgreichste Umlerner der Skisprunggeschichte?

Aber auch in der Geschichte des Skispringens lässt sich ein vergleichbares, geradezu klassisches Beispiel für ein motorisches Umlernen anführen. Es war Ende der 80er-Jahre das Verdienst des schwedischen Skispringers Jan Boklöv, dass 1990 die bis dahin geltende parallele Skiführung im Flug durch den V-Stil abgelöst wurde. Viele scheiterten an dieser Aufgabe und es gab nur ganz wenige Athleten, die in beiden Sprungstilen erfolgreich waren. Der erfolgreichste unter ihnen: Jens Weißflog. Die Einzigartigkeit seines Erfolgs lag unter anderem darin begründet, dass er die Vierschanzentournee je im Parallel- (1984, 1985 und 1991) und V-Stil (1991 und 1996) gewann und selbiges Kunststück auch mit Medaillengewinnen an Olympischen Spielen (OS Sarajevo 1984, OS Lillehammer 1994) vollbrachte.

Ein Grund für diesen Erfolg dürfte auch darin gelegen haben, dass der DDR-Sportler in seiner Karriere von einem bekannten Sportpsychologen, Rolf Frester, begleitet wurde, welcher sich im sportwissenschaftlichen Bereich insbesondere im Fachgebiet des sensomotorischen Lernens einen Namen machte. Damals herrschte die These vor, dass Umlernen nur im Notfall praktiziert werden solle, da die alte Bewegungstechnik „nicht rückgängig gemacht werden kann“, diese „nicht verlernt wird“, sondern dass die „alte und neue Bewegungstechnik parallel im Gedächtnis abgelegt werden“ (Schnabel et al. 2011, S. 296). Aus heutiger Sicht dürften zwei von Festers damaligen Erkenntnissen massgeblich am erfolgreichen Umlernen seines Athleten beigetragen haben. Einerseits fordert er die „rationale Durchdringung“, das „Wissen über die Zieltechnik und das Erkennen bewegungsstruktureller Zusammenhänge“, andererseits muss der erlebnismässigen, bildhaft-anschaulichen Repräsentation der neuen Bewegung im Training besonderes Gewicht gegeben werden (Frester 1991). Zu einer erfolgreichen Anpassung dieser Selbstorganisationsprozesse, die das Umlernen erforderlich machen, wählt er in der Trainingspraxis den Weg über die mentale Rhythmisierung der Bewegung. (vgl. Frester 1999, S.88)

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Simon Ammann in der SRF Sportlounge vom 23.11.2015 (Zum Video? Ein Klick auf das Bild genügt.)

Keine Wahl für Simon Ammann

In seiner ausführlichen Stellungnahme (vgl. Sportlounge vom 23. November) zum Thema und den notwendigen Schritten zur Änderung seiner Landtechnik äusserst sich Ammann verhalten optimistisch. Ihm ist bewusst, dass er hart dafür arbeiten muss, sich selbst keinem zu hohen Erwartungsdruck aussetzen will und dem Veränderungspozess genügend Raum und Zeit geben wird. Entscheidend für das Gelingen dürfte sein, dass seine Motivation sehr hoch ist, seine Willensqualitäten hinlänglich bekannt sind, er sicher als Meister seines Fachs zählt und im Verlaufe seiner Karriere schon manch’ aussichtlos erscheinende Situation gemeistert hat. Seine Entschlossenheit hält ihn auf Kurs: auf die Aussage seines ehemaligen Trainers Werner Schuster „er könne ja notfalls auf das alte Landungssystem zurückgreifen“ kontert der schlagfertige Toggenburger: „Nein, ich habe keine andere Wahl“!

Unterstützung in seiner Überzeugung erhält Ammann auch durch jüngste Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurowissenschaften. Der These, wonach Hans nicht (mehr) lernt, was Hänschen nicht schon gelernt hat, stehen interessante Befunde hinsichtlich der menschlichen Hirnplastizität gegenüber. Der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke vertritt die Ansicht, dass die enorme (strukturelle) Veränderbarkeit des menschlichen Gehirns auch mit zunehmendem Alter nicht oder nur wenig abnimmt. Seine Befunde lassen sich dahingehend deuten, dass entsprechendes Training beim Umlernen zu einer Reorganisation der sensomotorischen Areale führen wird.

Das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung

Bleibt also letztlich die Frage, mit welcher Methodik und in welcher Art der Athlet in den Umlern-Prozess einsteigt. Zunächst gilt es zu beachten, dass Ammann seinen Weg zurück in die Weltspitze nach einem heftigen Sturzerlebnis mit Verletzungsfolge und entsprechender Versunsicherung sucht. Erst die positive Verarbeitung dieser Erfahrung in Verbindung mit einer Neuorientierung ebnen den Weg in Richtung Umlernen. Als Leitidee auch im Hinblick auf ein erfolgreiches Coaching von rekonvalszenten Spitzensportlern bietet sich das von Bandaura (1986) beschriebene Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) an. Die Theorie beschreibt den Zusammenhang subjektiver Erwartungen in Verbindung mit den eigenen Kompetenzen im Hinblick auf das erfolgreiche Ausführen einer Handlung. Der Athlet, der daran glaubt, selbst etwas zu bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können, hat demnach eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Im Modell von Bandura sind vier Quellen der SWE beschrieben, die sich als Richtschnur für zielgerichtetes und selbstgesteuertes Umlernen im Spitzensport anbieten:

Eigene Verhaltenserfahrungen: Nach Bandura sind eigene Verhaltenserfahrungen die direkteste und wichtigste Informations- und Motivationsquelle der SWE. Erfolgserlebnisse, auch sehr kleine, sind die besten Verstärker, die den Glauben in die eigenen Fähigkeiten mehren. Diese positiven Orientierungspunkte gehören nicht nur in das Techniktraining und in den systematischen Aufbau der neuen Zielbewegung, sondern sollten vermehrt in allen anderen Trainingsbereichen – z.B. im spezifischen Krafttraining – eingesetzt werden.

Stellvertretende Erfahrungen: Beispiele wie dasjenige von Jens Weißflog können Modelcharakter für das eigene Streben haben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist insbesondere die Unterstützung und Bekräftigung durch den Trainer und das ganze Betreuungsumfeld. Modelcharakter haben aber auch Videoanalysen der Sprungtechnik, die nicht nur als Feedback hinsichtlich der Zielerreichung sondern in höchstem Masse auch zur Optimierung der erlebnismässigen, bildhaft-anschaulichen Repräsentation der neuen Bewegung im Training (vgl. Fester) zweckdienlich sind.

Verbale Selbstbekräftigung: Vertrauen in die eigene Wirksamkeit kann auch durch verbale Überzeugung aufgebaut werden. Damit sind sowohl Selbstinstruktionen der Athleten als auch Rückmeldungen der Betreuer gemeint. Bezogen auf die kommunikativ- informelle Gestaltung des Trainings sollte deshalb darauf geachtet werden, dass (1) positive Selbstgespräche der Athleten bekräftigt; (2) die erreichten Lernfortschritte herausgestellt und (3) Leistungsrückmeldungen positiv formuliert werden. Letztere sollten weniger die Fehler thematisieren als vielmehr erfolgreiche Übungsversuche deutlich bekräftigen; sie müssen dabei jedoch realistisch und in der Augen der Athleten glaubwürdig sein.

Wahrnehmung und Kontrolle physiologischer und emotionaler Erregungszustände: Schliesslich verlassen sich Athletinnen und Athleten bei der Beurteilung ihrer Selbstwirksamkeit auch auf ihren aktuellen Erregungszustand. Körperliche und emotionale Stressreaktionen werden als Indikator mangelnder Bewältigungskompetenz interpretiert. Der Sportler wird versuchen, seine im Training erarbeiteten Lernfortschritte auch im Wettkampf und unter besonderem Druck – dann wenn’s zählt – in Spitzenleistungen zu präsentieren.

Simon Ammann vor einer Hercules-Aufgabe 

Quo vadis, Simon Ammann? Es gehört nicht zu den Aufgaben eines Sportpsychologen, Prognosen zu Erfolgsaussichten oder Leistungsentwicklung abzugeben. Bei näherer Betrachtung der Situation des Athleten wird sofort klar, dass sich dieser einer Hercules-Aufgabe verschrieben hat. Er spricht von seiner grössten Herausforderung, die ihn nochmals auf unbekanntes Terrain führt. Mehrere Klassierungen in den Top-15 des Weltcups zu Beginn der aktuellen Wintersaison dürften ihm aber Zuversicht für die kommenden Aufgaben geben. Diese Zuversicht scheint auch aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet durchaus begründet. Die erfolgreiche Umstellung seiner Landetechnik verbunden mit der Rückkehr an die Weltspitze würde sich nahtlos in die Karriere eines aussergewöhnlichen Spitzensportlers einfügen!

 

 

Hinweis: Hanspeter Gubelmann ist seit 1998 verantwortlich für die sportpsychologische Betreuung der Schweizer Skispringer.

 

Quellen:

Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. Englewod Cliffs, New York: Prentiss Hall.

Frester, R. (1991). Psychische Komponenten der Bewegungsregulation in sportlichen Handlungen. In H. Kratzer & R. Mathesius (Hrsg.) Beiträge zur psychischen Regulation sportlicher Handlungen (S.13-24). Köln: bps-Verlag.

Frester, R. (1999). Mentale Fitness für junge Sportler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jänke, L. (2013). Nicht immer sind die Gene Schuld, Psychoscope 4, S.6.

Schabel, G., Harre, H.-D. & Krug, J.(Hrsg.), 2011: Trainingslehre – Trainingswissenschaft. Aachen: Meyer&Meyer.

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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