Dr. René Paasch: Mach ne Pause, Thomas Müller!

Nationalspieler Thomas Müller hat nach dem EM-Viertelfinale gegen Italien die steigende Belastung der Fußball-Profis in der heutigen Zeit moniert. “Du darfst drei Wochen Luft holen, dann wirst Du wieder unter Wasser gedrückt. Mental ist das schon eine große Belastung”, sagte der 26-Jährige: “So ist das Geschäft, wir wollen uns nicht beklagen, aber man sollte es auch nicht unter den Teppich kehren.” Es gehe nicht um die körperliche Belastung. “Jeder Mensch, der gut trainiert ist, kann alle vier Tage viele Kilometer in hoher Intensität laufen”, betonte er: “Aber es geht um mentale Ruhepausen. Man hat täglich Einflüsse auf sich selbst. Es wird über einen geredet, es wird mit einem geredet. Und wenn man bekannt ist, hat man auch privat kaum Ruhepausen. Das ist nervenaufreibend.”

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Zum Thema: Druck und Sportpsychologie im Fußball und wie wir damit umgehen können?

Diese Europameisterschaft war nicht die des Torjägers Thomas Müller. Der Angreifer von Bayern München war zwar hoch engagiert, blieb aber von Anfang bis Ende des Turniers ohne Tor und insgesamt glücklos. Allen voran im 0:2 verlorenen Halbfinale gegen Frankreich schien es so, als habe Thomas Müller seinen Instinkt verloren – und die Mannschaft gleich mit. Worin die Ursachen liegen, darüber darf und wird spekuliert werden. Viele Analysten führen dabei an, dass die Misere spätestens im April begann, als er gegen Atlético Madrid den Elfmeter nicht versenkt und das Ausscheiden des FC Bayern in der Champions League einleitete, hatte. Es war so etwas wie der erste schwarze Fleck auf seiner Fußballerkarriere. Den Geschmack des Fehlschusses schleppte er wie einen unangenehmen Virus mit nach Frankreich. Mit dem Höhepunkt gegen Italien, als sich ein Gegenspieler die Hüfte ausrenkte und mit der Hacke seinen Schuss klärte. Dann vergab Müller noch einen Elfmeter.

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Ein von Thomas Müller (@esmuellert) gepostetes Foto am


Versagensangst oder Angst vor einer Verletzung und noch weitere Ängste, bilden den ständigen Begleiter eines Fussballprofis. Die Bedeutung an psychologischer Betreuung der Spieler, hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Viele Bundesligisten haben in Ihren Betreuerstab Psychologen aufgenommen, um die Spieler mental zu Unterstützen. Es ist unstrittig, das Leistungssportler unter besonderer Beobachtung stehen, einem immensen Interesse von Medienvertretern und damit dem der Öffentlichkeit ausgesetzt sind. Ihr gesamtes Handeln, ihr Leben, wird von hoch emotionalen Reaktionen anderer begleitet; ständig müssen sie auch mit ihren eigenen Emotionen umgehen. Längst arbeiten auch Fußball-Bundesligisten mit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen ihrer Spieler. Sie wollen beispielsweise erkennen, welcher Profi in welcher Situation am besten geeignet ist, den Elfmeter zu schießen, oder wer der Nervenanspannung am besten gewachsen ist, bei Rückstand in entscheidenden Spielen eingewechselt zu werden. Für mich aber muss die Arbeit mit Fußballern weitaus früher anfangen. Wir müssen dies über den Jugendbereich vorbereiten. Die Entwicklung des Sportlers muss eindeutig stärker auch auf den mentalen Bereich als ein wichtiger Baustein gelenkt werden. Und vielleicht muss dabei auch die Frage erlaubt sein, ob ein bis drei Sportpsychologen in den Nachwuchsleistungszentren nicht vielleicht schon zwei plus x zu wenig sind, ohne dabei unseren Berufsstand zu hoch zu hängen.

Leistungsdruck individuell – Das Transaktionale Stressmodell von Lazarus

Nicht jeder Fußballer geht mit externen Stressfaktoren wie z.B. Versagensangst und Aufgabenvielfalt im sportlichen Umfeld auf die gleiche Weise um. Einige Fußballer werden durch ein und denselben externen Stressor stärker gestresst und psychisch beansprucht als andere. Warum ist das so? Eine Erklärung für die großen Unterschiede bietet das Transaktionale Stressmodell von Lazarus, das vielen Stresspräventions- und -Behandlungsansätzen implizit oder explizit zugrunde liegt.

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Abbildung 1: Abbildung zeigt das transaktionale Stressreaktionsmodell nach Lazarus in vereinfachter Darstellung (2016)

Das Modell erklärt den individuell unterschiedlichen psychischen Beanspruchungsgrad ein und derselben (Stress-)Situation folgendermaßen: Fußballer bewerten Umweltreize, Situationen und externe Ereignisse automatisch subjektiv in Bezug auf ihre Relevanz und persönliche Bedeutung. Lazarus bezeichnet diese subjektive Einschätzung als “primäre Bewertung”, wobei “primär” nichts mit der zeitlichen Abfolge oder der Wichtigkeit des Bewertungsschrittes zu tun hat. Die Bezeichnung “primär” und “sekundär” dienen lediglich der Unterscheidung zwischen zwei inhaltlich verschiedenen Bewertungsschritten, die zumeist simultan erfolgen. Fußballer betrachten also externe Ereignisse und Situationen als entweder positiv, irrelevant oder als potenziell bedrohlich (für das persönliche Wohlbefinden, die eigenen Ziele, die eigene Person) und damit stressrelevant. Wird die Situation als stressend erlebt, kann diese Bewertung in drei Abstufungen erfolgen, nämlich als herausfordernd, bedrohend oder als schädigend. Ein einfaches Beispiel hierzu: Ein spezifischer Gegner kann für den einen Fußballer, der sich gut vorbereitet hat und einigermaßen sicher fühlt, als eine Herausforderung angesehen werden, während sie für den nächsten Mannschaftskollegen, der zwar ebenfalls ein toller Fußballer ist, aber sich unsicher fühlt, eine Bedrohung darstellen.

Eine Frage der Ressourcen

Im Rahmen der sekundären Bewertung schätzt der Fußballer seine Bewältigungsmöglichkeiten für die Situation ein, und zwar auf der Basis seiner Wahrnehmung über die ihm zur Verfügung stehenden “Ressourcen”. Was als Ressource in Frage kommt (z.B. die eigene Kompetenz in einem Bereich, bestimmte Fähigkeiten zur Bewältigung einer Aufgabe, ein hohes Maß an Selbstvertrauen) kann sehr unterschiedlich ausfallen und hängt von der jeweiligen Situation und ihrer Wahrnehmung durch den jeweiligen Fußballer ab.

Je ungünstiger diese subjektive Ressourcenbewertung ausfällt, je weniger die wahrgenommenen Ressourcen für eine erfolgreiche Situationsbewältigung ausreichen oder je mehr Unsicherheit darüber besteht, umso stärker ist die Stressreaktion, die hierdurch ausgelöst wird. Die Stressreaktion äußert sich sowohl im subjektiven Empfinden (z.B. Angst, Anspannung, Ärger etc.), in körperlichen Veränderungen (im Hormonsystem und im muskulären System) als auch im Handeln der Person (z.B. Aggression gegen andere).

Zur Bewältigung von Stresssituationen greift der Fußballer auf subjektive Bewältigungsstrategien zurück, sogenannte “Coping”-Strategien (vom englischen Verb to cope = bewältigen, zurechtkommen). Sowohl die Ressourceneinschätzung als auch die Wahl der Bewältigungsstrategien hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, u.a. von persönlichen “Soll-Werten”, von den kognitiven Strukturen der Person, von ihren bislang gemachten Erfahrungen mit bestimmten Situationen bzw. dem Erfolg bestimmter Coping-Strategien sowie von der wahrgenommenen Unterstützung durch andere.

Die jeweils gewählten Bewältigungsstrategien können funktional sein, d.h. zu einer nachhaltigen Lösung eines Problems beitragen. Sie können aber auch “dysfunktional” sein, d.h. erfolglos in Bezug auf eine Problemlösung oder vom eigentlichen Problem lediglich ablenkend. Je nach Rückmeldung über den Erfolg einer verwendeten Lösungsstrategie oder durch das Hinzukommen von weiteren Ressourcen kann eine Neubewertung der Situation erfolgen, z.B. ein Wechsel von der Wahrnehmung einer Situation als “Bedrohung” hin zu einer “Herausforderung”.

Drei Arten des Copings zur Bewältigung mentaler Belastungen

Lazarus unterscheidet drei Arten der Stressbewältigung: das problemorientierte, das emotionsorientierte und das bewertungsorientierte Coping.

Problemorientiertes Coping

Darunter versteht man, dass der Fußballer versucht, durch Informationssuche, direkte Handlungen oder auch durch Unterlassen von Handlungen, Problemsituationen zu überwinden oder sich den Gegebenheiten anzupassen. Diese Bewältigungsstrategie bezieht sich auf die Ebene der Situation.

Emotionsorientiertes Coping

Das emotionsorientierte Coping wird auch „intrapsychisches Coping“ genannt. Hierbei wird in erster Linie versucht, die durch die Situation entstandene emotionale Erregung abzubauen.

Bewertungsorientiertes Coping

Lazarus verwendet den Begriff Neubewertung in zwei Zusammenhängen: zum einen bezüglich des Bewertungsprozesses, wie oben erwähnt. Zum anderen ist die Neubewertung einer Stresssituation gleichzeitig eine Copingstrategie. Der betroffene, „gestresste“ Fußballer, wie im Falle von Thomas Müller kann sein Verhältnis zur Umwelt kognitiv neu bewerten, um so adäquat damit umzugehen. Das Hauptziel beim bewertungsorientierten Coping liegt darin, eine Belastung eher als Herausforderung zu sehen, weil so ein Lebensumstand positiv bewertet wird und dadurch Ressourcen frei werden, um angemessen zu reagieren.

Was ist Thomas Müller zu wünschen?

Aber zurück zu Thomas Müller: Was ist dem Star des FC Bayern München und der Nationalmannschaft zu wünschen? Ganz ehrlich: Ich wünsche ihm Abstand und eine bestmögliche Erholung. Allerdings ist das System Profi-Fußball darauf nicht ausgerichtet. Denn wenn Nationalspieler Müller nach sechs oder gar sieben Wochen EM-Zirkus nun seinen Urlaub antritt, laufen bei seinem Club längst die Vorbereitungen auf die neue Saison. Trainiert wird an der Säbener Straße ab dem 11. Juli. Schon Ende des Monats steht ein PR-Trip in die USA mit Spielen gegen den AC Mailand, Inter Mailand und Real Madrid bevor. Womöglich gehört Müller schon bei dieser Reise mit zum Tross, da die Bayern bereits Mitte August unter dem neuen Trainer Carlo Ancelotti im DFB-Pokal und daraufhin in der Bundesliga gefordert sind.

Wirkliche Erholung, wie sie allen voran wohl Thomas Müller gebrauchen könnte, ist da kaum möglich. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Bitte, liebe Bundesliga-Manager, räumt den Kickern in ihren Verträgen doch 10- bis 15 zusätzliche optionale Urlaubstage ein! Und hierbei rede ich nicht von der Sommer- oder Winterpause, sondern von innerhalb der Saison. Einem Nationalspieler wie Thomas Müller würde es guttun, den ein oder anderen Bundesliga-Spieltag als langes Wochenende in einem Urlaubsparadies oder auf dem heimischen Bauernhof zu schwänzen. Einfach mal so. Einfach mal raus aus dem Hamsterrad, dass so viele Arbeitnehmer in unserer Hochleistungsgesellschaft kennen und darunter leiden. Der Profi-Fußball könnte dahingehend ein wichtigen gesellschaftspolitisches Signal setzen und mit einem besonderen Beispiel vorangehen. Für die Leistung der Einzelnen sowie der Mannschaften – und damit auch für das Produkt Fußball – dürfte dies nicht abträglich sein, ganz im Gegenteil!

 

 

Literatur

Antonovsky, A, (1979). Health, Stress, and Coping. San Francisco, CA: Jossey-Bass.

Arnold, M B, (1960). Emotion and Personality (2 Vols.). New York: Columbia University Press.

Lazarus, R S, (1966). Psychological Stress and the Coping Process. New York: McGraw-Hill.

Lazarus, R S, (1974). Psychological stress and coping in adaptation and illness. International

Journal of Psychiatry in Medicine, 5, pp. 321–333.

Lazarus, R S and Folkman, S, (1984). Stress, Appraisal, and Coping. New York: Springer.

Lazarus, R S, (1991). Emotion and Adaptation. New York: Oxford University Press.

 

 

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Prof. Dr. René Paasch
Prof. Dr. René Paaschhttp://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

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3 Kommentare

  1. Danke, René für diesen schönen Artikel und deiner Forderung für 15 Tage Urlaub pro Saison. 🙂 Klasse, weiter so!
    Pascal

  2. Hoi René
    Tolle Artikel, bei dem das Regeneationsproblem sehr gut zum Tragen kommt.
    Die übliche Story. Viele Athleten haben ein Regenerations- und kein Leistungsproblem.
    Lieber Gruss
    Martin

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